Aracoeli
eBook - ePub

Aracoeli

  1. 432 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch

Manuel fährt nach Andalusien, die Heimat seiner Mutter, wo er die Geschichte seiner Herkunft und Kindheit erfährt: Seine Mutter, die schöne Aracoeli, folgte ihrer großen Liebe nach Rom. Dort wird Manuel geboren, doch mit der Geburt und dem frühen Tod einer Schwester endet die überbordende Liebe der Mutter zu Manuel. Aracoeli verändert sich, sie wirft die mühsam erworbenen Umgangsformen der feinen Gesellschaft über Bord und wird zur unberechenbaren Nymphomanin, die im Bordell endet. Fassungslos sieht das Kind dem Geschehen zu, erst der reife Mann beginnt rückblickend zu begreifen …

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Meine Mutter war Andalusierin. Zufällig hatten ihre Eltern beide den gleichen Nachnamen MUÑOZ – so dass sie, wie in Spanien üblich, den doppelten Nachnamen Muñoz Muñoz trug. Mit Vornamen hieß sie Aracoeli.
Ich ähnelte ihr in der Hautfarbe und in den Gesichtszügen, während ich die Augenfarbe von meinem Vater (einem Italiener aus dem Piemont) geerbt hatte. Aus der Zeit, in der ich schön war, kommt mir immer wieder ein kleines, den Vollmondnächten vorbehaltenes Lied in den Sinn, von dem ich nie genug bekommen konnte. Und ausgelassen sang Aracoeli es mir immer wieder vor und warf mich dabei dem Mond entgegen, als wolle sie mich einer kleinen Zwillingsschwester im Himmel vorführen:
Luna lunera
Mondschein, Mondlicht
cascabelera
kleiner Wicht
los ojos azules
blau die Augen
la cara morena.
braun das Gesicht.
Das und andere, ähnliche Liedchen aus demselben Repertoire, die mich während meiner frühen, glücklichen Kindheit begleiteten, gehören zu den wenigen Zeugnissen, die mir von der heimatlichen Kultur meiner Mutter geblieben sind. Über das Land, aus dem sie stammte, redete sie bei uns zu Hause in Rom so gut wie gar nicht, und wenn, dann verschanzte sie sich nach den ersten Andeutungen gleich wieder hinter einer störrischen Abwehrhaltung. Denn wie es manchmal bei Hungerleidern mit doppeltem Stolz der Fall ist, wenn sie in die »höheren Schichten« aufsteigen, trug auch sie bei bestimmten Gelegenheiten ihrer Vergangenheit gegenüber zunächst eine harte, mondäne, ja geradezu snobistische Verachtung zur Schau, die jedoch heillos von einer plumpen Scham verseucht war – immer auch bis ins Innerste hinein vermischt mit einer wilden Eifersucht, die Fremden den Zutritt zu ihrem kleinen Territorium untersagte, wie zu einem geheiligten Besitz der Muñoz Muñoz.
Nach den spärlichen, misstrauischen Andeutungen jedoch musste man sich, so unglaublich es auch erschien, ihr Land als eine Art Steinwüste vorstellen, die ein afrikanischer Wind ausdörrte, in der Büsche wuchsen, die nur Dornen hervorbrachten, und wo das wenige Gras, kaum hervorgesprossen, schon wieder verdurstete. Wenn meine Tante Raimonda, genannt Monda (die Schwester meines Vaters), das hörte, riss sie entgeistert die Augen auf, denn ihrer Ansicht nach musste Spanien (und ganz besonders Andalusien) ein einziger Garten sein: mit Orangenbäumen und arabischem Jasmin und Rosengärten, mit österlichen Festen, Volantröcken, Gitarren und Kastagnetten. In ihrer gewohnten Diskretion insistierte Tante Monda jedoch nicht mit allzu vielen Fragen. Tatsächlich stellten die familiäre Herkunft meiner Mutter und ihre voreheliche Existenz als jungfräuliches Bauernmädchen bei uns zu Hause so etwas wie ein ehrenhaftes Staatsgeheimnis dar, dessen einzig rechtmäßiger Verwahrer mein Vater war, während Tante Monda nichts anderes war als eine einfache Treuhänderin mit streng vertraulichen und auf das Allernötigste beschränkten Befugnissen. In Wirklichkeit handelte es sich um ein aufgenötigtes Geheimnis, dem gar nichts Dunkles anhaftete; doch die Phantasie eines Kindes kann sich ein Geheimnis nur als etwas von Dunkelheit Umhülltes oder von strahlendem Glanz Umflutetes vorstellen, ein Glanz, der jedoch zu erlöschen droht, sobald Licht in das Geheimnis dringt. Und so blieb von meiner Seite her unser Geheimnis natürlich unverletzt: ähnlich einem exotischen Schatz, zu dem ich den versteckten Schlüssel absichtlich nicht suchte. Während der kurzen Dauer meines Lebens im Familienkreis (das für mich mit der frühen Kindheit endete), drangen darüber nur zufällige, beiläufige Nachrichten zu mir, über die man (vor allem vonseiten Tante Mondas) eilig hinwegging. Freilich, wenn ich von empirischerem Geist gewesen wäre, hätte mich eine solche Zurückhaltung wenigstens zu einem Minimum an persönlicher Ermittlung angeregt; doch bei mir traf sie eher auf eine bereits ausgeprägte Neigung, visionäre Vorstellungen genauen Untersuchungen vorzuziehen. So ließ ich zu, dass die verschiedenen Hinweise auf die Vorgeschichte meiner Mutter, kaum dass sie vor mir aufgetaucht waren, wieder verlöschten, gleich den Lichtfäden, die im Dunkeln unter den Lidern aufflammen. Bei gewissen schwatzhaften Anspielungen unserer Dienstboten oder irgendwelcher Neugieriger wandte ich mich mit einer instinktiven, fast aristokratischen Unaufmerksamkeit ab, die ich oft noch durch eine finster drohende Miene unterstrich. Ich war bereit, nicht nur das anfällige Eigentum meiner Mutter gegen jegliche vulgäre Indiskretion zu verteidigen, sondern auch die unendlichen offenen Weiten der Unwissenheit gegen alle und jede Begrenzung.
Im Übrigen hatte mich meine Mutter selbst seit den Zeiten unserer innigen Vertrautheit in meiner Unwissenheit belassen. Vielleicht fühlte sie auch, dass ich von ihr – so wie sie von mir – unbewusst ohnehin alles wusste. Ihre Geschichte war schon auf mich übertragen worden, als ich in ihrem Uterus heranwuchs, und zwar mithilfe der gleichen chiffrierten Botschaft, mit der meiner Haut die dunkle Färbung der ihren übertragen worden war. Und es wäre daher umsonst gewesen, eine irdische Übersetzung dessen zu versuchen, was ich von Geburt an in mir trug, bereits gedruckt im eigenen Code des Irrealen.
Dagegen machte es ihr Freude, mir im Vertrauen einige besonders wunderbare Wesen zu beschreiben, die sie daheim in ihrem Dorf zurückgelassen hatte: lauter Bekannte oder Verwandte jener berühmten Liedchen, die ich bereits kannte, und für mich von ebenso verführerischem Reiz. Mit der großen Gebärde einer Königin, die sich ihrer Abstammung rühmt, beschrieb sie mir zum Beispiel ihre Ziege Abuelita (so genannt, weil sie die Großmutter einer anderen kleinen Ziege war, einer Waise namens Saudade) und ihren Kater Patufè (»rot wie Gold«) oder eine Nachbarin, ein wundertätiges altes Mütterlein mit Namen Tia Patrocinio, und dergleichen mehr. Aber über allen Nachbarn, Bekannten und Verwandten, ja über dem ganzen andalusischen und spanischen Volk thronte ihr einziger Bruder Manuel, auch Manolo oder Manuelito genannt. Dieser Onkel von mir (den ich nie kennenlernen sollte) war jünger als sie, doch für sie war er wie ein richtiger großer Bruder. Soviel man erraten konnte, musste er die gleiche Statur haben wie sie, also ziemlich klein sein; doch sein Charakter und seine Tapferkeit streckten ihn in den Augen der Schwester bis auf ein würdiges männliches Maß. »Er ist größer als ich!«, erklärte sie und hob die Hand eine Spanne über ihren Kopf, so als würde sie damit eine seltene Größe anzeigen; und ich, klein wie ich war, folgte der Richtung dieser Hand mit dem ehrfürchtigen Blick dessen, der die Gipfel des Mount Everest bewundert. Sobald Aracoeli anfing, von ihrem Bruder zu reden, ja selbst bei der bloßen Erwähnung seines Namens vibrierte ihre Stimme vor ausgelassenen und weihevollen Tönen, einer Mischung aus Ringelreihen und Halleluja. Und sogleich übertrug sich dieses Tremolo auf meine Kehle, und seine Laute fanden ihren Widerhall in einem verliebten Lachen, das einem lobsingenden Jubel gleichkam. Es gibt, glaube ich, in Wirklichkeit keinen einzigen Jungen, der sich nicht schon von den ersten Lebensjahren an seinen HELDEN erwählt – oder besser gesagt: ihn erkennt. Da dieser HELD der Geschichte, den Märchen oder Mythen, der erlebten Gegenwart oder sogar der Werbung entstammt, kann er sich in Napoleon verkörpern oder in dem Nibelungen Siegfried, in dem Chinesen Mao oder in Kain, in Beelzebub, dem König der Unterwelt, in Casanova, Hamlet oder Mahatma Gandhi, in einem erfolgreichen Fußballspieler, in einem Filmstar oder in einer Comic-Figur … Und natürlich kann er sich verschiedentlich wandeln, je nach dem Wandel von Schicksal, Umgebung und Moden. Ja, das ist sogar in aller Regel der Fall – aber nicht bei mir! Mein HELD war und blieb bis heute nur ein einziger: mein Onkel Manuel, und das seit dem Tag, an dem ich zum ersten Mal etwas von ihm erfuhr. Meinen nachträglichen Berechnungen zufolge musste Manuel damals ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein und ich zehn Jahre jünger. Und ich stelle mir vor, dass ich, zum Teil wenigstens, gerade meinem geringen und unvernünftigen cascabelera-Alter die besondere Gunst verdankte, mit der mich Aracoeli zum einzigen Verwahrer und Vertrauten ihrer privaten Schwärmereien machte – und in erster Linie der Heldentaten und Schönheiten ihres Manuel. Soviel ich weiß, gewährte sie eine solche Gunst tatsächlich keinem anderen außer mir kleinem Wicht. Keinem anderen, nicht einmal meinem Vater! Doch ihm gegenüber, denke ich, waren es Ehrfurcht und Bescheidenheit, die sie davon abhielten und in ihrem kindlichen Hochmut verunsicherten. Es ist nämlich gewiss, dass ihrer Meinung nach nicht einmal Manuels Glanz dem Vergleich mit dem Sonnenlicht meines Vaters hätte standhalten können.
Andererseits war er wohl der Einzige von uns, der Manuel persönlich begegnet sein konnte, ebenso dem Kater Patufè und möglicherweise der ganzen andalusischen Sippe der Muñoz Muñoz.
Über sechsunddreißig Jahre sind vergangen, seit meine Mutter auf dem Friedhof Campo Verano in Rom (meiner Geburtsstadt) begraben wurde. Ich habe sie dort nie besucht. Und es sind nun schon über dreißig Jahre, dass ich nicht mehr in Rom war, wohin ich auch nicht mehr zurückkehren möchte.
Zum letzten Mal kam ich im Frühsommer 1945 hin, gleich nach Kriegsende. Ich war damals ungefähr dreizehn (aber für mich war es, als sei ich immer noch zehn). Und bei dieser Gelegenheit erfuhr ich unter anderem, dass bei einem Luftangriff auf die Stadt auch der Campo Verano von den Bomben zerstört worden war: viele Grabstätten aufgerissen, die Zypressen entwurzelt. Man sagte mir sogar den Tag und die Stunde des Angriffs: Es war gegen zwölf Uhr mittags gewesen, am 19. Juli 1943. Und seit damals stellte sich mir in meinen Visionen dieser unbekannte Friedhof immer in glühender Mittagshitze dar (ich wusste, dass verano auf spanisch Sommer heißt), als ein Wald aus Rauch und Feuer, aus dem meine Mutter angstvoll floh, blutverschmiert und in dem gleichen zerknitterten Nachthemd, das sie anhatte, als ich sie zum letzten Mal besuchte.
Wohin hätte sie fliehen können, wenn nicht nach Andalusien? Und deshalb mache ich mich heute, nach so vielen Jahren unsinniger Trennung, auf nach Andalusien, um sie zu suchen.
Manchmal – vor allem in Situationen extremer Einsamkeit – setzt bei den Lebenden ein verzweifelter Drang ein, ihre Toten nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum zu suchen. Manch einer geht ihnen in die Vergangenheit nach, andere wieder leben dem Traum entgegen, sie in einer letzten Zukunft einzuholen; aber es gibt auch den einen oder anderen, der, wenn er nicht mehr weiß, wohin er ohne seine Toten gehen soll, die Orte durchstreift, auf der Suche nach einer möglichen Spur von ihnen. Ein solcher Ruf kann einen unerwartet erreichen und die gleiche Begierde auslösen, die einen armen Kerl erfassen würde, dem – nach einer langen Gedächtnisschwäche – plötzlich wieder einfällt, dass er irgendwo versteckt einen Diamanten besitzt. Doch inzwischen kennt er selbst das Versteck nicht mehr, sämtliche Spuren sind getilgt. Und es wird ihm weder etwas nützen, sich auf ein Indiz zu stützen, das es ihm ermöglichen könnte, wieder in den Besitz des Steins zu gelangen, noch wird es ihm je vergönnt sein, einen anderen Schatz zu besitzen.
In diesem nebligen Herbst bin ich seit ein paar Tagen versucht, meinem Mädchen Aracoeli in allen Richtungen des Raums und der Zeit nachzugehen, außer in einer, an die ich nicht glaube: der Zukunft. In Wirklichkeit sehe ich in der Richtung meiner Zukunft nichts anderes als ein verbogenes Gleis, an dem mein gewohntes Ich, immer einsam und immer älter, sich weiter entlangschleppt, hin und her, wie ein betrunkener Pendler. Bis es zu einem gewaltigen Zusammenstoß kommt, jeder Verkehr aufhört. Das ist der äußerste Punkt der Zukunft. Eine Art blendender Mittag oder blinde Mitternacht, wo es keinen mehr gibt, auch mich nicht.
Seit ungefähr zwei Monaten habe ich eine provisorische Anstellung in einem kleinen Verlag, wo ich vor allem die eingehenden Manuskripte prüfen und dann ein kurzes schriftliches Gutachten darüber verfassen muss. Meist handelt es sich um kleine, allgemeinverständliche Abhandlungen wissenschaftlich-praktischen, politischgesellschaftlichen oder auch weltmännisch-belehrenden Inhalts.
Soweit mir bekannt ist, besteht der ganze Verlag aus zwei kleinen Büroräumen und einem dunklen Klo ohne Fenster. Der eine Raum dient in der Hauptsache als Lager, in dem anderen sitze ich. Obwohl der Chef (bei seinen zwar nicht seltenen, aber immer eiligen Besuchen) manchmal schon auf sein unsichtbares »Betriebspersonal« hingewiesen hat, besteht jedenfalls hier drinnen allem Augenschein nach das Personal einzig und allein aus mir. Die Glastür im Treppenhaus, mit der Aufschrift Ypsilon-Verlag und darunter der Aufforderung Drücken, kündigt die Besucher durch ein langes Quietschen an, dem dann sogleich der ungehinderte Eintritt des jeweiligen Besuchers folgt. Gewöhnlich handelt es sich dabei um meist ältere Möchtegernautoren, die mit ihrem abgezehrten, fast finsteren Aussehen die natürliche Kälte des Raums verstärken und mich sofort in eine konfuse Beklemmung stürzen. Gemäß den Vereinbarungen muss ich meine Tage von 9 bis 13 und von 16 bis 19.30 Uhr im Büro zubringen.
Im ersten Moment hielt ich diese Anstellung für einen Glücksfall (denn meine sowieso schon kärglichen Einkünfte reichten in der letzten Zeit nicht einmal mehr aus, die Miete für ein winziges Zimmer zu zahlen), sehr bald aber wurde mir bewusst, dass mein Gehirn sich mit allen Mitteln dagegen sträubte. Bei der Lektüre dieser Traktätchen hatte ich von den ersten Zeilen an das Gefühl, Leim schlucken zu müssen. Ihre Themen waren mir völlig gleichgültig, ja ich begriff gar nicht, dass andere denkende Gehirne sich damit abgeben konnten. Immer wieder verlor ich den Faden. Und obwohl ich seit einiger Zeit auf jede leichte wie schwere Droge und – in den Grenzen des Möglichen – sogar auf Alkohol verzichtete, verfiel ich wieder in meine krankhafte Schlafsucht. Plötzlich also sank ich schlafend, mit offenem Mund, auf meine Arbeit. Und es kam vor, dass ich mich beim Quietschen der Eingangstür mühsam hochraffte und schon einen dieser unseligen Besucher aufrecht vor mir stehen sah, der mit vielsagendem Grinsen meine geschwollenen Augen und den Speichelfaden, der mir übers Kinn rann, betrachtete. Es kam auch vor, dass mir diese Art von Schlummer Träume bescherte, besser gesagt: flüchtige, trostlose Delirien. Zum Beispiel verwandelten sich die Druckbuchstaben unter meiner Nase zu Myriaden von Motten, die von den Blättern ausschwärmten und sie als weißen Staub zurückließen.
Jeden Tag häuften sich neue Traktätchen und neue Druckfahnen auf meinem kleinen Tisch. Und der bloße Anblick dieser Stapel genügte, mir bereits beim Hereinkommen einen Brechreiz zu verursachen. Meine geringe Leistung konnte sicherlich nicht einmal den vielbeschäftigten und eiligen Blicken meines lakonischen Chefs entgehen. Und ohne Zweifel plante der Ypsilon-Verlag schon seit einer Weile meinen unvermeidlichen Rausschmiss. Immerhin wurde mir gegen Ende Oktober mein zweites Gehalt ausbezahlt, das bis zu diesen alljährlichen Feiertagen Anfang November fast unangetastet in meiner Tasche blieb. Dank des nationalen Brauchs, Zwischentage zu »überbrücken«, sind die Ferien großzügig auf vier Tage angesetzt: von Freitag, dem 31. Oktober (Vortag), bis Dienstag, dem 4. November (alter patriotischer Feiertag). Und so habe ich mich heute Vormittag (Freitag, den 31.) auf meine Reise gemacht.
Es ist eine Weile her, dass ich sesshaft geworden bin. Außerdem ruft das Wort Ferien oder Urlaub seit jeher bei mir die Vorstellung von einem desolaten, ausgelassenen Haufen hervor, trunken von Plastiktüten, Coca-Cola und plärrenden Transistorradios. Ich bin bisher noch nie im Ausland gewesen. Und der Entschluss zu diesem Aufbruch weckte bei mir ein extremes Gefühl von Risiko und Tollheit – aber auch einen unbekannten Enthusiasmus (enthusiasmós: Einbruch des Göttlichen). Anfangs jedoch war ich mir über das Reiseziel im Zweifel: Denn wohin sollte ein so ungeselliger, menschenscheuer Typ wie ich auch fahren – ohne die geringste Neugier für die Welt, für keinen einzigen Ort der Welt?! Bis mir der enthusiasmós das einzige für mich in Frage kommende Reiseziel eingab – vielmehr befahl.
Anda niño anda Lauf, Kindchen, lauf
que Dios te lo manda. Gott trägt’s dir auf.
Und so bin ich jetzt (es ist ungefähr elf Uhr) dabei, Mailand zu verlassen, um mich auf die Suche nach meiner Mutter Aracoeli zu begeben, und zwar in der doppelten Richtung der Vergangenheit und des Raums. Über ihre Vorgeschichte in Andalusien habe ich nie wesentlich mehr erfahren als zu meiner Kinderzeit. Und sie zu suchen bedeutete für mich selbst jetzt nicht, mir Unterlagen zu verschaffen oder Leute zu befragen, sondern nur, von hier weg- und ihren Spuren in der alten Landschaft nachzugehen: wie ein versprengtes Tier, das den Gerüchen der eigenen Höhle folgt.
Zu dem Wenigen, das mir bekannt war, gehörten ihre wichtigsten persönlichen Daten: das heißt außer ihrem doppelten Mädchennamen ihr Geburtsort, von dem ich wusste, dass er im Gebiet von Almeria lag und El Almendral hieß. Jedoch die wenige Post, die sie in Rom von zu Hause erhielt, trug – dessen erinnere ich mich ganz genau – auf dem Umschlag den Stempel Gergal, ein Name, den ich vergeblich in den üblichen Atlanten suchte, schließlich aber doch auf einer großen Karte des Geografischen Instituts fand. Dieses Gergal stellte sich als ein kleiner Ort heraus, der isoliert mitten in der Sierra liegt, in einer beträchtlichen Entfernung vom Meer.
El Almendral dagegen fand ich auf keiner Karte. Doch gerade dieser entlegene, von der Geografie ignorierte winzige Punkt war zuletzt zur einzigen irdischen Station geworden, die meinem desorientierten Körper eine Richtung wies. Es war ein Ruf, ohne irgendein Versprechen oder eine Hoffnung. Ich wusste über jeden Zweifel hinaus, dass er nicht von der Vernunft an mich erging, sondern aus einer Sehnsucht der Sinne, so groß, dass es für mich nicht die geringste Rolle spielte, ob es diesen Ort überhaupt gab. Mein Zustand glich tatsächlich dem eines Bastardhundes, den man als kleinen Welpen aus seinem Korb gerissen, in einen Sack gestopft und, um sich seiner zu entledigen, weit weg am Straßenrand ausgesetzt hat. Wer weiß, wie er überlebte; auf alle Fälle hat er dort nur feindliche Rudel vorgefunden, die ihn als Eindringling und Tollwütigen behandelten. Und da legt er, geführt von seinen scharfen Sinnen, den ganzen Weg wieder zurück, bis zum Ausgangspunkt (vielleicht bis zu einem wirklichen Wiederfinden?).
Esto niño chiquito Dies Kindchen, dies kleine
no tiene madre. hat keine Mutter.
Lo parió una gitana Die Zigeunerin, die’...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Aracoeli
  4. Über die Autorin