Das mediale Allzeit-Jetzt
und der Einzelne
Kommunikation, Verantwortung,
Konfliktbewältigung und Urteilsfähigkeit im digitalen Zeitalter
Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, ins Rollen der Begebenheit! Da mag denn Schmerz und Genuss, Gelingen und Verdruss Miteinander wechseln, wie es kann; nur rastlos betätigt sich der Mann.
Johann Wolfgang von Goethe,
Faust, Der Tragödie erster Teil
Zusammenfassung
Der Einzelne in der Wirklichkeit des virtuellen Allzeit-Jetzt ist mit anderen Herausforderungen konfrontiert als alle Menschen vor ihm in der Geschichte der Menschheit. Als Souverän speziell im Politischen gefordert, ist er als Verantwortender und Entscheider überfordert, sieht er sich doch in eine Augenblicks-Ökonomie, Ergebnis einer sphärischen Überschneidung von virtueller und tatsächlicher Wirklichkeit, hineingestellt, die sein Leben und Arbeiten unerbittlich dominiert.
Auf welcher Grundlage werden Menschen im digitalen Zeitalter 1 befähigt, sich ein Urteil zu bilden? Wie steht es mit der Verantwortung des Einzelnen in einer sich immer komplexer vernetzenden Welt? Wie können Konflikte in einer konfliktbesetzten Wirklichkeit identifiziert und bewältigt werden? Welcher Stellenwert bleibt der Kommunikation von Mensch zu Mensch als Voraussetzung quasi persönlicher Urteilsbildung und der Übernahme individueller Verantwortung in einer Gesellschaft des Allzeit-Jetzt?
Diese Fragen beschäftigen notwendig nicht zuletzt den mit sich steigernder Dynamik „ökonomisierten“ homo politicus. Der folgende Aufsatz liefert weder Lösungen noch Antworten auf diese Fragen. Er versteht sich notwendig als fragmentarischer Versuch einer skeptisch kritischen Bestandsaufnahme – im Bewusstsein einer Eskalation der identifizierten Befunde spätestens seit den 90er-Jahren im letzten Jahrhundert, insbesondere bei Kindern und Heranwachsenden. Der Aufsatz schließt ab mit einigen weiter führenden Fragen und Anregungen.
Die Ökonomie des Augenblicks
und das Allzeit-Jetzt
Die Ökonomie des Augenblicks, in Goethes Faust als Ergebnis eines Pakts mit dem Teufel in unserem Bewusstsein manifestiert, dominiert das Denken und Handeln fast jedes Einzelnen zumindest in jenen Breiten unseres Globus, die wir gemeinhin als „zivilisiert“ zu attribuieren uns angewöhnt haben. Das Allzeit-Jetzt in unserer zivilisierten Hemisphäre ist schon längst keine Metapher medienkritischer Sonderlinge mehr, sondern Definiens unseres medialen So-und-nicht-anders-Geworden-Seins in dieser Zeit und in dieser Welt und gleichzeitig Konstitutiv der Augenblicks-Ökonomie. Diese Augenblicks-Ökonomie bestimmt zunehmend auch unser politisches Denken, Urteilen, Entscheiden und Handeln. Es scheint, als habe die Politik ihr traditionelles Primat mehr und mehr an die Wirtschaft und deren Protagonisten verloren. Auf jeden Fall aber ist das medial initiierte Allzeit-Jetzt zumindest in unseren Breiten die entscheidende Einflussgröße in allen wesentlichen Belangen des Menschlichen, hat sich allumfassend in unserem Fühlen, Denken und Handeln breitgemacht. „Alles jetzt“ lautet die Devise. Was bekümmert uns das Nachher, das Später oder gar das Morgen oder Übermorgen. Das Augenblicks-Diktat bzw. der Augenblicks-Takt des digitalen Zeitalters hat sich bis in die feinsten Verästelungen unseres persönlichen, privaten, familialen, beruflichen und geschäftlichen Alltags hinein ausgebreitet. Wir hetzen von einem Augenblicks-Ziel zum nächsten, lassen uns von Augenblicks-Visionen verführen, sind überzeugt von Augenblicks-Missionen, deren Gegenwart schon Geschichte ist, bevor sie beginnen konnten, überhaupt Wirkung zu entfalten. Wir sind rund um die Uhr online bzw. können dies sein, wenn wir das wollen. Und in nicht wenigen Berufen gehört die Online-Mania zum pathologischen Berufsbild mit dazu. Die Tyrannei des Augenblicks gewinnt mephistotelische Züge. In Anbetracht der Gleichgültigkeit einer sich vom Menschen lossagenden technologischen Grammatik wirkt der mit Blut unterzeichnete Vertrag eines Doktor Faust mit dem Teufel auf seltsam bizarre Art menschlich. Denn die quasi anonymisierte Machtergreifung der Augenblicks-Ökonomie hat die Antriebsdynamik eines Perpetuum mobile ohne menschliche Führung und Leitung. Die totalitäre Allmacht des Medialen ist das Ergebnis unaufhaltsamen technologischen Fortschritts, der die Möblierung unserer Wirklichkeit, auch der politischen, in jedweder Hinsicht verändert hat. Wie ein weltumspannender Nebel hat sich die virtuelle Realität in unserer Wahrnehmung des Wirklichen eingenistet, verändert alle Konturen des Menschlichen, legt die Inhalte unseres Bewusstseins fest und definiert dessen Grenzen.
Als Max Weber vor rund 100 Jahren fragte, was denn in Anbetracht eines sich stets selbst dynamisierenden Kapitalismus geistig seelisch aus den Menschen werde, hatte er die Dimensionen des heute Realen noch nicht einmal im Ansatz vorhersehen können. Im Verein mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise und dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Technologie hat die Ökonomie des Augenblicks einen Menschentypus hervorgebracht, der an Nietzsches letzten Menschen gemahnt. Nirgendwo deutlicher wird dies als im Gebrauch der Sprache.
Verlust der Authentizität
Die Sprache, zweifellos das wichtigste Medium des Menschen überhaupt, mehr noch: der Nukleus seiner Wesensbestimmung, verarmt mit einer sich selbst beschleunigenden Dynamik. Die Ökonomie des Augenblicks beraubt das Wort seiner Tiefe, den Text seiner Schönheit, die Syntax ihrer Logik (siehe Abb.).
Eine Verarmung der Sprache ist aber gleichbedeutend einer Verarmung des Menschen. Das zeigt sich etwa darin, wie die Begriffe „Gemeinschaft“ oder „Gespräch“ in der „Kultur des Allzeit-Jetzt“ verwendet werden.
Gemeinschaft und Gespräch haben sich in den virtuellen Raum verlagert, sie sind physisch ortlos. Wer medial überall ist, ist nirgendwo. Asozialisation ist die Folge. Der „behauste Mensch“ wird zur Metapher einer verlorenen Seins-Weise. Zugehörigkeitsgefühle zu einer konkreten sozialen Gemeinschaft? Fehlanzeige. Zum „Verlust der Mitte“ (Sedlmayr) tritt der „Verlust der Tiefe“ (Benesch). Der Einzelne wird aus verbindenden und dabei auch verbindlichen Zugehörigkeiten herausgerissen und nolens volens zum Solipsisten. Die Entgrenzung von Zeit und Raum ist auch gleichbedeutend einer Entgrenzung des Individuellen, einhergehend mit dem Verlust der Authentizität. Wer heute als Jugendlicher oder als Kind eng mit dem Internet aufwächst, leidet nicht selten an Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche, Schreiben, Lesen und Sprechen reduzieren sich auf Notwendiges und werden deshalb selbst zum Notstand. In „Facebook“ und anderen Netzwerken werden „Freundschaften“ mit anderen „Usern“ geschlossen, und zwar in einer Qualität, die deutlich macht, dass diese „sozialen“ Netzwerke das Gegenteil dessen sind, was das Attribut zu sein beansprucht – Isolation ist die Folge. Das Internet zerlegt die Kommunikation in einen unverbindlichen Austausch ohne Regeln und Grenzen, seine Scheinwelt wird zur psychosozialen Wirklichkeit des Einzelnen. Am deutlichsten ausgeprägt in der Welt unserer Medien.
Medien heute
Die aus der Bild- und Informationsherstellung und -vermittlung sich entwickelnde virtuelle Wirklichkeit ist nicht zuletzt, eher sogar: zuallererst, ein globales Geschäft mit einer immensen Kommerzialisierungsdynamik. Seine Konsumenten gleichen nicht selten Jüngern eines Gurus oder Mitgliedern einer Sekte. Marken werden zu Heilsgütern, deren Produzenten zu Heilanden. Dabei ist der Wirk-Mechanismus dieses erfolgreichen Heilsgeschäfts höchst simpel. Mit einem viel dimensionalen Werbeaufwand nämlich wird der technologiebesessene Einzelne auf den Kauf des nächsten Fortschrittsprodukts abgerichtet, völlig außerachtlassend, unter welch menschenunwürdigen Bedingungen Produkte dieser Art zum Beispiel in China produziert werden.
Der Einzelne in der digitalisierten Medienwelt ist eben nicht nur ein Produkt seiner ihm spezifisch eigenen biografischen, sozialen und psychischen Wirklichkeit des Geborenwerdens, des Freude und Schmerz Empfindens, der Neugier und der Angst und des Sterbens, sondern nicht zuletzt ein Produkt jener künstlichen Welt, die ihn jederzeit und überall über die Vehikel der Medienindustrie erreicht, in einer künstlichen Welt sozialisiert und so wirkungsvoll abhärtet etwa gegenüber den Widrigkeiten von Billiglohn-Produktion seiner Medienfetische. Suchterscheinungen werden dabei billigend in Kauf genommen. Nicht zuletzt vonseiten der politischen Klasse (vgl. Spitzer 2012, S. 276 ff). Für den Menschen im Medienzeitalter gilt deswegen: Er lebt nicht nur, sondern er wird auch gelebt und lässt sich leben. Die Virtualisierung des Wirklichen hat eine Entgrenzung von Zeit und Raum, aber auch eine Entindividualisierung von Persönlichkeit und damit moralisch Gleichgültigkeit und psychisch einen Mangel an Empathie im Gefolge. Das Phänomen „Tod“ vermag diese These zu exemplifizieren. Denn das vervielfältigte Erlebnis eines gewaltsamen Fernsten-Todes vergleichgültigt auch die Wahrnehmung des konkreten Nächsten-Todes. Virtuell medial wird jeder Konsument respektive „User“ täglich vielfachst mit dem Phänomen „Tod“ konfrontiert. Fiktional genauso wie non-fiktional. Alles Menschliche tritt hinter das Ereignis an sich zurück. Die „Person“ wird das, was das griechische Wort ursprünglich besagt: Zu einer „Maske“ der digitalisierten Welt.
Ende der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts hatte Richard Sennett vor dem Hintergrund der Kultur eines neuen Kapitalismus zivilisations- und zeitkritisch den Terminus „der flexible Mensch“ (Sennett 2000) geprägt. Dieser Begriff gewinnt speziell in der Welt der Augenblicks-Ökonomie essentiell Bedeutung.
Mit der Entpersonalisierung und Flexibilisierung des Menschen verbunden ist eine Reduktion des Sozialen, der marktschreierischen Reklame der „Social“ Media zum Trotz. Nicht nur die Freiheit des Selbstseins ist bedroht von einer multimedialen Umklammerung eines allen und jeden einbeziehenden Medien-Totalitarismus, sondern auch das Bedürfnis etwa, sich mit anderen in Gemeinschaften zusammenzuschließen, reduziert sich auf ein Rinnsal gelegentlicher Augenblicks-„Events“. Aus dem Subjekt einer spezifisch eigenen persönlichen Wirklichkeit wird das Objekt einer beliebigen, austauschbaren virtuellen Wirklichkeit. Entweder „wir amüsieren uns zu Tode“, wie der US-amerikanische Medienkritiker und Soziologe Neil Postman formulierte, oder aber wir ertrinken in der Informations- und Bildersintflut. Gibt es eine Alternative zu diesen Alternativen?
Die Genese der virtuellen Realität
Rekapitulieren wir: Was als Evolution mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg begann, die Macht des Wissens aus den Klöstern des Mittelalters über das massenhaft vervielfältige Wort im Buch in die Welt hinaus-tragend, fand seine Fortsetzung in permanenten Revolutionen: der Erfindung und Einführung der mechanischen Schreibmaschine, dem Telefon, Rundfunk, Fernsehen und PC – und endete in einer Mega-Revolution: der ersten gelungenen Nachrichtenübermittlung per Satellit, diese wiederum einmündend ins World Wide Web, seit 1969 aus einem militärischen Netzwerk in den USA entstanden und 1993 mit einer grafischen Hypertext-Oberfläche versehen. Damit hatte die Globalisierung ein satellitengestütztes Gesicht, das der Globalisierung am augenfälligsten in der Medienwelt Profil verleihen konnte. Von nun an galt nicht mehr das Motto: „Nichts ist älter als die Zeitung von heute“, in einer virtuellen Welt zählt nur die Evidenz des Augenblicks. Hinzu kommt, dass unsere Alltagsaktivitäten, wir selbst zunehmend von Ereignissen beeinflusst werden, die sich auf der anderen Seite der Welt abspielen. Das augenblickliche Ereignis bei unseren Antipoden hat medial ein vergleichbares Gewicht wie das Ereignis vor unserer eigenen Haustür. Umgekehrt ist lokale Folklore global folgenreich geworden, Mode und Musik verdeutlichen dies in Permanenz.
Die Obe...