1 NEUSTART UNSERES SYSTEMS
„Wenn wir also verantwortlich handeln wollen,
dann müssen wir auch die Verantwortung übernehmen
für die Art und Weise, in der wir die Welt sehen.“ [1]
Ernst von Glasersfeld
Das ganze Leben ist ein beständiger Neubeginn. Sollte das nicht eigentlich Hoffnung geben? Als gelingender Neubeginn versucht das hier vorliegende Buch tatsächlich verschiedene Arten von gemeinsamer Weiterentwicklung, Neuorientierung und Lösungssuche zu erleichtern. Vom ganz Privaten bis hin zu globalen Partnerschaften im Sinne des Nachhaltigkeitsziels 17 der Vereinten Nationen fokussiert dieses Buch auf die Möglichkeit segensreichen Miteinanders. Es will Sie stärken, sinnstiftende Gemeinschaften zu pflegen. Es will Ihnen Möglichkeiten erklären, gleichzeitig Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft zu übernehmen. Vor allem aber soll es Ihnen durch ein geschärftes allgemeines Systemverständnis und dessen Anwendung ein wenig mehr Zufriedenheit, Glück, Freude und Resilienz im Miteinander eröffnen. Das wäre doch was! Aber dazu wird es auch notwendig sein, Verantwortung zu übernehmen für die Art und Weise, in der wir die Welt sehen. Gewohnte, aber kaum beachtete Denkweisen werden wir selbstkritisch hinterfragen. So kann Ihnen im praktischen Alltagsleben erfrischend oder ermutigend Neues begegnen und Sie werden gemeinsam gestärkt aus Krisen hervorgehen können. Dass Sie selbst den hierfür passenden Dreh herausbekommen, ist mein aufrichtiges Anliegen.
Mitten in einem unfreiwilligen Neubeginn werden die äußeren Umstände meist als Krise empfunden. Und häufig sind die damit einhergehenden Verluste wirklich existenziell und erschütternd. Mir selbst ist das vor Jahren schon mehrmals so gegangen. Aber sind nicht Krisen auch der Antrieb für erfolgreiche Entwicklungen? Im Rückblick konnte ich Chancen, Möglichkeiten und unerwartete Lösungen entdecken, die sich erst in der Krise entwickelt hatten. Während der Erschütterung stellt sich bewusst oder unwillkürlich die Frage, ob wir für die zukünftige Situation selbst Verantwortung übernehmen wollen. Schon die Art und Weise, wie wir den Verlust an Normalität deuten, kann so vielfältig sein. Auch dabei treffen wir Entscheidungen, die hoffentlich auf lange Sicht unserer Zufriedenheit, dem Glück geteilter Freude und der Spannkraft beziehungsweise Resilienz nicht im Wege stehen. Und wie geht es Ihnen jetzt? Würden Sie in der aktuellen oder in einer noch nicht absehbaren zukünftigen Krise für Ihre eigenen gedanklichen Vorstellungen von Familie, Freundeskreis, Verein, Team, Arbeitsgruppe oder Multi-Akteurs-Partnerschaft [2] letztlich die Verantwortung übernehmen? Wollen Sie die Art und Weise, wie sie die Menschen um sich herum sehen, einmal überprüfen, obwohl das meiste gerade einigermaßen läuft? Manchen von uns kommt das sehr verkopft vor, aber dieses Nachdenken über die eigene Weltsicht kann gerade in unserer globalisierten Welt sehr viel neue Freiheit und zusätzlichen Handlungsspielraum eröffnen. [3] Daher gebe ich Ihnen hierzu meine wärmste Empfehlung! Es ist eine echte Chance. Entscheiden Sie selbst, ob gerade jetzt für Sie die Zeit gekommen ist, Haltungen für einen solchen Neubeginn zu erkunden oder noch nicht.
In diesem Buch geht es neben den Umständen für ein gelingendes Miteinander im Privaten, im Ehrenamt und im Beruf auch um Denkgewohnheiten, die uns manchmal bei der Suche nach Lösungen für ganz konkrete Probleme einer Krisensituation im Wege stehen. Viele gut gemeinte Ratschläge zielen beispielsweise darauf ab, dass wir doch das System, in dem wir uns vielleicht verfangen haben, gründlich analysieren sollen. Das soll uns in die Lage versetzen, dadurch die Ursachen der Krise zu überwinden. Aber ganz abgesehen davon, dass so etwas wenig lösungsorientiert ist und erfahrungsgemäß leider selten funktioniert, gibt es eine viel tiefer liegende Chance: Was ist denn, wenn es die Art von beherrschbarem Krisensystem, wie wir es analysieren wollen, nur in unserem Kopf gibt? Vielleicht brauchen wir uns gar nicht mit ihm herumschlagen, weil es sozusagen nur eine fehlerhafte Landkarte und nicht die wirkliche Landschaft unseres Lebens ist? Wie sicher sind wir uns dann noch, dass Analysieren eine gute Strategie wäre, wenn die zukünftige Wirklichkeit doch ganz anders tickt als unsere Vorstellung vom System oder Mechanismus, der gerade nicht richtig funktioniert?
Wie kommen wir denn zu Lösungen, falls die Welt tatsächlich so unfassbar, flüchtig, unbeherrschbar, unsicher, fließend, überraschend, ineinandergreifend, komplex, mehrdeutig und immer wieder neu ist, wie sie uns intuitiv manchmal vorkommt? Hier kann es auf jeden Fall schon einmal helfen, in einem ersten Schritt die persönlichen Ressourcen zu fördern, Neuerungen zu erwarten, einfach zu experimentieren, sich vielleicht selbst zu verändern und insbesondere die gegenwärtige Situation achtsam wahrzunehmen, anstatt sich mit gut gemeinten Analysen nach vorgefassten Schemata und mit der Suche nach Schuldigen herumzuschlagen. [4] Ob die Bildung einer erschreckend detaillierten Modelvorstellung der Krise bei der Verwandlung von Problemen in konkrete Chancen wirklich nützlicher wäre? Eine Transformation von Krisen gelingt möglicherweise auch anders, aber dazu empfehle ich uns erst einmal einige genauere Betrachtungen zu der Art und Weise, wie wir die Welt sehen.
Um ein theoretisch fundiertes, aber umgangssprachlich fassbares und offenes Systemverständnis menschlicher Gemeinschaft, das erfahrungsgemäß beim Umgang mit Krisen sehr hilfreich ist, soll es in diesem Buch gehen. Die hier beschriebene Art von Neubeginn lädt Sie zunächst ein, über das Alltagsverständnis von Systemen nachzudenken und beschreibt dann ein phasenartiges Konzept von Teamresilienz. Dieses Programm können wir eher als einen offenen Orientierungsrahmen für krisenfesten Umgang miteinander, anstatt als vorgefasstes Schema verstehen. Dabei werde ich weitgehend auf Fachbegriffe verzichten. Um alltagssprachliche Bedeutungen in den Vordergrund zu stellen, werde ich die wenigen verwendeten Fachbegriffe neu schärfen. Außerdem möchte ich Sie herausfordern, vielleicht ungewohnte Gedanken zu erproben. Das dient Ihnen hoffentlich zur hilfreichen Weiterentwicklung des Miteinanders bei Veränderungen und soll Ihnen auch bei der gemeinsamen Neuorientierung in Krisen nützlich sein.
Einen praktisch nachvollziehbaren Zugang zum Neubeginn leitet Kapitel „Ein Programm zur nachhaltigen Teamentwicklung“ her. Die praktischen Aspekte können besonders dann hilfreich werden, wenn es in Ihrem Umfeld an der Zeit ist, Krisen im Miteinander zu überwinden, Teamgeist neu zu beleben oder gemeinsam einen hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft wiederzufinden. Besonders im Kapitel „Teamresilienz erscheint auf mehreren Ebenen“ geht es hierzu um die schrittweise Stärkung des Miteinanders. Zu diesem praktischen Ansatz bildet das Kapitel „Erneuerung des Systembegriffs“ eine gestraffte theoretische Grundlage. Das Kapitel „Phasen der gemeinsamen Krisenbewältigung“ entspricht einer handlichen Zusammenfassung des neuen Begriffs von Teamresilienz in der Fachliteratur.
Am besten lassen Sie sich der Reihe nach auf die nachfolgenden Kapitel ein, in denen die Hintergründe einer lösungsorientierten Haltung Schritt für Schritt neu skizziert werden. Systeme sind hier systemisch-evolutionär in dem Sinn erklärt, dass sie als Aspekte eines unteilbaren, lebendigen Ganzen gedacht werden. Der Vorstellung von Entwicklung als einem Mechanismus aus Zufall und Selektion wird damit eine klare Absage erteilt. Es wird in diesem Buch auf wissenschaftlicher Grundlage die Idee einer „Systemischen Evolution“ als praktisch in vielen Bereichen anwendbare Vorstellung beschrieben. Lösungsorientierung wird dabei nicht nur als ein Methodenrahmen neben vielen anderen für die systemische Beratung weiterentwickelt, sondern Lösungsorientierung darf auch die individuelle Haltung zum großen Ganzen des Lebens inspirieren.
„Wie verfahren Wissenschaften, Künste und Theorien mit dem Leben, das von
Virtualitäten, Singularitäten und Ereignissen geprägt ist?“ [5]
Gilbert Simondon
Um zunächst der Frage nach dem Umgang mit dem Leben angemessen nachzugehen, beginne ich die Überlegungen zum gelingenden Neubeginn und zum gemeinsamen Umgang mit Krisen nach der Offenlegung meiner persönlichen Hintergründe und schließe mit einer zugespitzten Gegenüberstellung unterschiedlicher Weltauffassungen an. Durch diesen Umweg sollen hilfreichere geistige Haltungen für den Umgang mit Krisen erkundet werden, als sie im Alltag häufig in Gruppen, Teams oder Gemeinschaften von unterschiedlichen Organisationen angetroffen werden. Diesen Umweg will ich mit Ihnen deshalb gehen, weil die gegenübergestellten Haltungen erst aus einer Art Vogelperspektive, also im Betrachten von Betrachtungsweisen, besser erkennbar werden. Diese Haltungen, altbekannte und neue, sollen den Leserinnen und Lesern sozusagen zur Wahl gestellt werden. Welche Denkweise ist für Sie annehmbar? Welche Vorstellung von Miteinander erachten Sie als hilfreich? Dabei wird es dienlich sein, sich als aufgeschlossene und zukunftsorientierte Menschen überhaupt erst einmal unterschiedlichen Weltauffassungen auszusetzen, bevor dann in späteren Kapiteln die Lösungsfokussierung systemisch-evolutionär neu begründet wird.
Ausgehend von den ersten allgemeinen Betrachtungen zu Weltbildern und zum menschlichen Miteinander werden wir in immer engeren Bögen um das Thema der wissenschaftlich erforschten, aber auch fachfremd gut nachvollziehbaren Teamresilienz kreisen. [6] Damit kommt auch ein klares Bekenntnis zu den Wissenschaften zum Ausdruck, die wir mehr denn je brauchen. [3] Die Gesellschaft braucht Wissenschaft auch für nachvollziehbare, merkfähige und auf die Welt zutreffende Weltbilder. Aber was ist denn zutreffend? Wenn Sie mit mir gedanklich durch dieses Buch mitgehen wollen, werden Sie das zuvor erwähnte allgemeinverständliche Programm zur Stärkung von Gruppen, Teams und Gemeinschaften als übereinstimmend mit den Grundthemen aktueller Fachliteratur kennen lernen. Sie können dann selbst überprüfen, ob es sich in Ihrem Alltag als hilfreich erweist.
1.1 Ein Weg zum Wir
„Mein Lebensmotto ist:
‚Beginne dort, wo du bist, warte nicht auf bessere Umstände.
Sie kommen automatisch, in dem Moment, wo du beginnst!‘ …
Wir müssen uns daher selbst verändern.
Das ist der erste notwendige Schritt.“ [7]
Petra Kelly
Dieses Buch entsteht inmitten globaler Krisen, die unser Verständnis von Normalität so sehr in Frage stellen, wie kaum etwas zuvor. Aber sie zeigen auch manche Veränderungsmöglichkeiten im Sinne einer verbesserten Zukunft auf. Mehr noch, sie fordern sie ein. Insgesamt aber halten diese Krisen für die Menschheit, die ohnehin schon in einem System zahlreicher Verwerfungen lebt, so viel Leid und Elend bereit, dass es wieder einmal unsere Vorstellungen sprengt. [8] Was sind solche Krisen nun? Sinnloser Fluch oder Hinweis auf noch erreichbaren Segen? Ehrlich gesagt kann ich mich hier nicht entscheiden. Irgendwie sind sie beides und keins von beiden oder vielleicht ganz etwas anderes. Ich kann zunächst nur sagen, dass mir beide Perspektiven in bestimmten Zusammenhängen nachvollziehbar erscheinen, und das hat sicher auch mit meiner Geschichte zu tun.
Für die Geschichte dieses Buches ist aber noch etwas ganz anderes entscheidend, was ich hier aus vollem Herzen wertschätzen möchte. Meine äußerst kluge, zutiefst mitfühlende und in der Unterscheidung von Geschehnissen wirklich begabte Ehefrau hat maßgeblich dazu beigetragen, dass dieses Buch inhaltlich so entstehen konnte. Unzählige Gespräche am Küchentisch, viele lebhafte Diskussionen auch mit unseren erwachsenen Kindern und ihre Ideen haben mich immer wieder auf Neues gestoßen, dass wesentlich bei der Transformation von Krisen ist. Ihre Perspektive als Mensch mit beiden Beinen fest auf dem Boden und als Systemische Therapeutin hat das Buch mit geformt. Und wenn sie nicht mit mir und uns zusammen durch zwei existenzielle Krisen gegangen wäre, dann wäre auch alles ganz anders gekommen. Sie hat mich persönlich und beruflich gestärkt und inspiriert. Danke! Übrigens haben sich diese Zeilen nicht aus einer Danksagung an diese Stelle verirrt. Sie sind als Ausdruck von Wertschätzung auch als Vorgriff auf das wichtige Kapitel „Resilientes Verhalten in Gruppen“ bedeutsam und markieren schon eine beispielhafte Situation, wo sich ein Weg zum Miteinander als System verwirklichen kann.
In meiner Rolle als Naturwissenschaftler einerseits, in der ich an einer Hochschule lehre und forsche, bin ich gewissermaßen auch geübt in der Analyse von Systemen. Ich gebe jedenfalls mein Bestes. Nur wird Neues in der naturwissenschaftlichen Tradition gedanklich und handgreiflich in die wichtigsten Bestandteile zerlegt, in vielen Einzelheiten beschrieben und dann so gut es noch geht, wieder zusammengefügt und erneut beobachtet, um die Zukunft vorherzusagen. Manchmal geht dabei Wesentliches verloren. Wissenschaffende im Bereich der Lebenswissenschaften beobachten nüchtern, was beispielsweise geschieht, wenn ein Teil entfernt wird. Die Methode ist stets eine Kombination von Eingriff, Standardisierung und möglichst objektivierbarer Beobachtung. Das macht die Welt in gewissem Maße beherrschbar. Was geschieht, wenn in der Natur ein Tier fehlt? Was geschieht, wenn ein Organ entfernt wird? Was geschieht, wenn infizierte Personen aus einem System isoliert werden? Und was geschieht, wenn der Regenwald abgeholzt wird? Zunächst unabhängig von Bewertungen wie „gut“ oder „schlecht“ wird bei Veränderungen am Normalen nach Auswirkungen im natürlichen System geschaut. Aber was ist schon „normal“?
Im Privaten sind wir vielleicht für Unterschiede offen, aber in Industrie und Technik ist „normal“ gleichbedeutend mit „der Norm entsprechend“. Da ich beruflich auch über 10 Jahre lang als Auditor unterwegs war, kann ich Ihnen versichern, dass es hier keinerlei Abweichung geben dürfte, beispielsweise um die Gesellschaft mit den Errungenschaften der industriellen Produktion zu versorgen oder vereinbarte Grenzen der Umweltbelastung einzuhalten. Eine technische Umgebung schafft die Notwendigkeit der kontrollierten Funktionsweise über das spontane Mitarbeiten hinaus. [9] Aber die Erfahrung hat mir immer wieder gezeigt, wie sehr die Qualität des Miteinanders in Teams wesentlich dazu beiträgt, ob nun viele oder wenige Abweichungen von der Normalität auftreten. Manchen Teams ist es einfach deutlich besser gelungen, solche Normen hilfreich für ihre eigenen Abläufe zu nutzen. Häufig konnten sie das, indem sie sich in ihren individuellen Stärken unterschiedliche Aspekte und Perspektiven der Norm zu eigen gemacht hatten.
Als Systemischer Berater andererseits, der sich anerkannten Berufsverbänden für Supervision und Coaching verpflichtet, bin ich dagegen vertraut mit der Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven und Zeithorizonte jenseits von vorherrschenden Normen. [10] Unterschiedliche subjektive Wirklichkeiten, die jeweils als „normal“ empfunden werden, haben ihre Berechtigung und sollten eher eingeblendet werden und auf ihre Auswirkungen hin betrachtet werden. Das kann Handlungskompetenzen fördern. In der Praxis Systemischer Beratung steht die menschenfreundliche Zuwendung und die Unterstützung der selbstwirksamen Erkundung subjektiver Lösungen im Vordergrund. In der Beratung gestalte ich die Umwelt des Miteinanders, um Menschen in ihren eigenen subjektiven Beobachtungen zu fördern und ihnen ihre e...