Weit hinter den Bergen
Kein Tag verging, ohne dass er sich gezwungen sah, an sie zu denken. Als ob irgendwer die Kontrolle über seine Synapsen übernommen habe und dort einen permanenten Valentins-Gedächtnistag in Endlos-Schleife abspulte. Es spielte dabei gar keine Rolle, ob er das gerade geerntete Bruchholz kleinsägte und für den kommenden Winter stapelte, oder seine vom bösen amerikanischen Käfer dieses Jahr vollkommen verschonten Kartoffeln zum Schutz der stetig wachsenden Knollen mit dem mühsam herbeigeschafften Waldboden anhäufelte. Immer noch, immer wieder, zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit, kreiste sie durch seine Gedanken. Nie konnte er vorhersagen, wann sie sich plötzlich in sein Bewusstsein drängte, sie blieb selbst im Memorieren unberechenbar wie eh und je.
Einmal tauchte sie bereits morgens beim Zähneputzen auf, ein anderes Mal riss sie ihn schweißgetränkt aus unruhigem Schlaf. Nach dem Frühstück konnte sie im Garten auftauchen oder aber nachmittags auf dem Holzsägeplatz hinter seiner Hütte, selbst an seinem spät entdeckten, ruhigen, fast idyllisch gelegenen Angelplatz am wellenarmen Weiher verschonte sie ihn nicht, wenn er ab und an eine der jetzt im Sommer fettgefressenen Regenbogenforellen, einen wohlgenährten Zander oder eine rundbäuchige Schleie an Land zog. Von einem Moment auf den anderen tauchte sie unangekündigt auf, drängte alles andere beiseite, nahm sein Bewusstes in Besitz wie in den Abenteuerbüchern seiner Kindheit eine der schnellen Reiterfürstinnen aus der Steppe, konfrontierte ihn mit denselben unerträglichen Fragen, die ihm schon während ihrer zunehmend konfliktreichen Beziehung die Zornesröte ins Gesicht trieben und seine Halsschlagadern anschwellen ließen. Diese Folterinstrumenten für die Seele gleichenden Fragen, kindlich naiv mit der samtweichen Kätzchenstimme vorgetragen und doch so verletzend, so entwürdigend, so unerträglich.
Immer konfrontierte sie ihn dabei mit ihren fragend aufgerissenen blauen Augen, die er einst so innig liebte, derentwegen er sich eigentlich in sie verliebte damals auf diesem legendären Konzert von „Bono“. So lange lag das zurück. So lange zurück die Phasen aus immer schneller wechselndem, Endorphin getränktem Glück und abscheulichem Schmerz, aus spontaner Zuwendung und in die Mundwinkel eingekerbter Abscheu. So lange zurück, und noch immer ließ sie nicht locker. Wie hatte er nur glauben können, dass sie ihn hier nicht fände, in den entlegensten Winkeln des nur spärlich besiedelten Thüringer Waldes, wohin sich kein Tourist, kein Spaziergänger, kein Mountainebikefahrer, noch nicht einmal der zuständige Förster verirrte. Im zivilisationsentrückten absoluten Naturschutzgebiet gäbe es nichts zu holen oder zu bestaunen, die schmalen, überwiegend gesperrten und nicht länger in Schuss gehaltenen Wege verkamen zunehmend zu hingetrampelten Stolperfallen. Holzeinschlag oder Nature Eventing – Fehlanzeige. Das kam ihm zupass.
Keiner kannte seinen Unterschlupf; dieses winzige Jagdhäuschen aus den frühen Achtzigern des vorletzten Jahrhunderts war bereits zu Nazi-Zeiten nicht mehr genutzt worden, noch nicht einmal vom Jagd besessenen Reichs-Oberjägermeister. Zu DDR-Zeiten ignorierten die nur an der Wodkaflasche schusssicheren Honecker-Spießgesellen es vollkommen, so dass er diesen einst idyllischen Holzbau ungepflegt und ziemlich heruntergekommen antraf, nach der Wende im wiedervereinigt auf schnelles Geld hoffenden und völlig auf die Aktienmärkte fixierten globalisierten Deutschland vollkommen in Vergessenheit geraten. Er hatte diese Zufluchtsstätte auf seinem Weg in die ungetrübte Abgeschiedenheit, vor einem schweren Frühlingsgewitter Schutz suchend, zufällig entdeckt und ohne langes Überlegen okkupiert. Das scherte keinen. Keiner wusste, dass er hier lebte, die nächste Siedlung lag mindestens zwanzig Kilometer entfernt. Dazwischen eine Kreisstraße und die Autobahn, nur von riesigen Ackerflächen aus längst privatisiertem ehemaligen LPG-Besitz unterbrochen.
Er durfte endlich den langersehnten Platz in der Einöde finden, sich von den Menschen draußen zurückziehen. Sie jedoch fand ihn selbst hier, mitten in der Einöde, unter dem jetzt wieder vollgrünen Dach der fremde Blicke abwehrenden blattmächtigen Buchen, den dickastig ausladenden Eichen und stammrissigen Kiefern. So wie sie ihn auf dem Jakobsweg gefunden hatte; auf seiner Tour durch die Schweiz und Italien war sie ebenso plötzlich an seiner Seite, und selbst auf dem Rückweg über das herbstliche Tirol und das schneearme winterliche Salzkammergut blieb ihm ihre Anwesenheit nicht erspart. Dabei durfte sie gar nicht hier sein, konnte eigentlich nicht hier sein. Die Stimme in seinem Hinterkopf fragte ohne Unterlass, ihre Augen sandten unablässig diese aufrüttelnden Signale, diese quälenden Fragen nach dem Warum.
Dabei hatte er es doch nie versäumt, ihr während ihrer Ehe Gründe zu nennen, weshalb er das Zusammenleben mit ihr so schwer aushielt. Sie verstand es nicht. Und immer wieder steigerten sich die ewig selben Diskussionen bis zum Irrsinn, die so nutzlosen Debatten, welche er nicht ertrug, nicht ertragen konnte, die sie auf seine, wie sie es in ihrem Fachchinesisch nannte, wenig ausgeprägte Resilienz zurückführte. Mal vergaß er den Hochzeitstag am 15. Februar, weil er ihr bereits am Vortag Rosen und ein Goldarmband zum Valentinstag präsentierte. Sie maulte dennoch, nölte herum, bis seine Wut hochkochte. Er wusste doch selbst nicht, warum er dieses oder jenes nicht wollte, kaum ertragen konnte, wenn es angesprochen wurde. Er sei immer so angespannt, sauge sich an ihr fest, reagiere eifersüchtig. Das waren ihre Vorwürfe, meist mit allerlei Fachwissen aus ihrem Heidelberger Psychologiestudium im sechzehnten Semester angereichert; das wenigste davon verstand er. Schon gar nicht dieses Blabla der Generation Y von polysexuellen Partnerschaften und dem angeblich notwendigen Ausleben von Bedürfnissen, weil sie sich sonst zu sehr eingeengt fühle. Damit durfte sie ihm nicht kommen, auch wenn er kein Studium aufweisen konnte. Ihr zuliebe kündigte er seinen gutdotierten Job als Schreinermeister, versuchte sich auf einer Hochschule im Master – Studiengang Holztechnik, obwohl er keinen Sinn darin erkannte. Schon gar nicht zum Pseudologen mutieren wollte.
Polysexualität erschien ihm wie ein Neologismus für Fremdgehen; wie stets, wenn aus Unaussprechlichem eine die Menschen bannende Lehre entstehen sollte, benötigte es eingängige Begriffe. Das war bei Marx, Lenin, Mao, Hitler und wie die Tyrannen alle hießen nicht anders. Immer gab es Begriffe, welche die Gefolgschaft forderten und das Nachdenken reduzierten. Neue Begriffe. Moderne Begriffe. In ihrem Fall Täuschungsbegriffe zur Rechtfertigung der eigenen Unmoral. Ergo ein komplexes konfabulatorisches Phänomen zur Umschiffung der Wahrheitsklippen dieser noch immer an traditionellen Werten verankerten Gesellschaft. Warum sonst standen im Grundgesetz Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz des Staates? Und zur Tarnung erfand man neue Feiertage wie den Valentinstag, der in manchen Großstädten sich bereits zur Valentinswoche mauserte. In der baden-württembergischen Landeshauptstadt erhielten Paare in dieser Woche freien Eintritt in alle Museen, falls sie sich am Einlass küssten.
Welch ein Irrsinn, der vom realen Leben ablenken sollte.
Je tiefer er sich in sich selbst zurückzog, desto heftiger insistierte sie auf ihrer Polysexualität, paarte sich mit zwei oder drei Fremden gleichzeitig, auf Partys, in den Hinterzimmern verschwiegener, schmierig dunkler Clubs, bald auch schon in ihrer eigenen Wohnung – eigentlich seiner Wohnung, in welche sie eingezogen war. Es gab keine Rücksicht mehr auf seine Befindlichkeiten, die Konflikte eskalierten, die erste deftige Ohrfeige ließ sich nicht mehr aufhalten, als er spätabends nach Hause kam und sie mit zwei Kerlen im Ehebett vorfand, sie ihn gar zum Mitmachen einlud.
Seine Großmutter, bei der er nahe Bruchsal aufgewachsen war und die zum Glück das Ende des Dramas nicht mehr erleben musste, hatte ihn gewarnt. Es könne nicht gut gehen mit einer Studierten, meinte sie, die zu allem auch noch fünfzehn Jahre jünger sei als der Enkel. Aus heutiger Sicht musste er die Weitsicht dieser lebensklugen Frau bewundern, er selbst hatte vor lauter rosaroter Scheuklappen sein Gehirn einfach eine Etage tiefer verlagert und Ute vom Fleck weg geheiratet. Das prophezeite Ende ließ sich nicht aufhalten, die rosaroten Sichtblenden verflogen bald, das Gehirn wanderte unter der verbalen Zuchtrute seiner Selbstverwirklichungsdomina bald wieder an seinen angestammten Platz. Die Trennung verlief am Ende unerwartet komplikationslos: Vom einen auf den anderen Tag war sie verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Die Anfragen der zahllosen notgeilen Paarungspartner und der Tütü-Freunde mit einem Valentin-Jahresabonnement blieben ergebnislos, wurden mit einem Schulterzucken beantwortet. Vielleicht lebte sie in Kalifornien, wohin sie schon lange auswandern wollte. Eine Familie gab es nicht, sie war im Waisenhaus aufgewachsen, bis sie in die Obhut der bei einem Autounfall verunglückten Pflegeeltern gelangte. Vielleicht kam ihm zupass, dass er damals nach dem von ihr mit allerlei Lästereien begleiteten Abbruch seines Studiums den erstbesten Job annahm, als Monteur für Betonschalungen auf diesem geplanten Autobahnabschnitt. Nur an den Wochenenden konnte er nach Hause fahren, das erwies sich als enorm hilfreich bei der Abnabelung. Während der Woche musste er keine Spötteleien, keine Herabwürdigungen, keinen Voyeurs-Sex mehr erdulden. Nie wieder wollte er nach diesem schlimmen Abend voller Streit, ohnmächtiger Wut und teilweise blindem Hass etwas von ihr hören, und das hielt auch eine ganze Weile vor. Genau genommen bis zum Abschluss der Betonarbeiten, als er sich bereits auf der sicheren Seite wähnte. Eines Nachts tauchte sie auf mit ihren großen, fragenden Augen, dieses verräterische Mal an der Schläfe. In seiner Wohnung wäre er nicht mehr sicher vor ihr, nach allem, was passiert war. Die Kündigung beim Arbeitgeber: eine Frage von ein paar Stunden, Packen und Auflösen des Sparbuchs mit rund 35.000 Euro bis abends abgeschlossen, die Vollmacht für den Notar und den Makler unterzeichnet. Noch in der Nacht saß er im Zug nach Frankreich, erlebte den einsamen Jakobsweg, ohne zu wirklicher innerer Einkehr zu finden. Das alles ließ sich nicht so leicht vergessen. Er durchwanderte vom Südwesten aus zunächst die Pyrenäen in West-Ost-Richtung, wechselte hinüber ins Vallis, erreichte während der ersten Winterstürme über den Aletschgletscher das Tessin, mietete sich für die allzu kalten Wochen bis Ende Februar auf einem abgelegenen Berghof für wenig Geld außerhalb der Saison ein primitives Zimmer. Fließend kaltes Wasser genügte ihm für die Morgentoilette, einmal in der Woche fuhr er mit dem Bus ins gut erreichbare Rapallo, besuchte die dortige Therme, duschte sich ausgiebig und entspannte anschließend in den warmen Quellbecken. Mehr Hygiene musste nicht sein, zumal er zwischenzeitlich die Haare nur noch millimeterkurz trug, sein einst gepflegter prächtiger Vollbart fiel ebenso seiner Verwandlung zum Opfer. In einem Elektronikmarkt konnte er noch in Frankreich eine leicht zu bedienende Haarschneidemaschine erstehen, welche ihm beim Trimmen des Haupthaares wertvolle Dienste leistete. Wochenlang herrschte Ruhe, doch dann, wenige Tage vor Fastnacht, erschien sie wieder, tauchte urplötzlich hinter ihm im Spiegel auf, so dass er sich beim Rasieren ins Kinn schnitt.
Wie konnte das sein? Er hatte sie doch ganz eindeutig zurückgelassen. Zur Gänze das komplizierte Beziehungsgeflecht entsorgt. Endgültiger ging es nicht. Und dennoch? Sie ließ sich nicht abschütteln, kehrte ständig zurück, zeigte sich hartnäckiger als gedacht, suchte ihn sogar hier in der Abgeschiedenheit des in den Strahlen der ersten Tauwettersonne glänzenden Tessins heim. Es half nichts, er musste weg, ihr entkommen, noch tiefer in die menschenleeren Einöden vordringen, bis sie endlich aufgäbe. Er packte seinen Rucksack und verließ die wortkarge, in sich gekehrte Bauernfamilie, überquerte noch im schneekalten, tiefsten Spätwinter den Brenner, schlug sich ins schon frühlingshafte Tirol durch, kampierte nach den Wochen im Hochgebirge im Frühsommer mit seinem Leichtzelt im dichten Bayerischen Wald, dessen dichtes Blätterdach kein Stern durchdringen konnte.
Bis sie wieder durch seine Träume geisterte, ihm sogar beim Schwimmen in dem kleinen, auf der sonnendurchfluteten Lichtung ruhenden Weiher aus den kühlen Wellen seiner Kraulbewegungen erschien. Erneut musste er weiterziehen, musste sie endlich abschütteln, diesen Quälgeist, musste endlich zur Ruhe kommen. Seine vom Großvater vererbte Mondphasenuhr, ziemlich antiquiert, aber erste Schweizer Uhrmacherqualität, sorgte für Orientierung in Zeit und Raum, wies ihm letztlich auch den Weg nach Osten, bis in die Tiefen des von Gott und den Menschen verlassenen Thüringer Waldes. Das halb verfallene Holzhäuschen fiel wie aus dem Nichts eines Juninachmittags in seine Grübeleien. Am Vorabend war sie zum ersten Mal nicht aufgetaucht, dennoch überlegte er, und daran war allein sie schuld, warum sie nicht für immer schwiege. Er war doch überaus gründlich vorgegangen, seine Trennungserklärung war doch dauerhaft wie in Zement gegossen. Übersehen konnte er nichts haben, oder doch? War er zu früh abgetaucht?
Von einem Moment auf den andern, als eben die ersten dicken Tropfen durchs Blätterdach trommelten: die Hütte, halb zugewachsen mit dichten Fichten, Haselgebüsch und jungen, von Schwarzdorn umzingelten Erlen. Den Zugang musste er mit Beil und Schweizermesser freischneiden, ehe er den baulichen Zustand des Unterschlupfs – als solchen erkannte das geübte Auge die in ihrem erbärmlichen Erhaltungszustand förmlich um menschliche Nähe barmende hölzerne Behausung schnell – fachmännisch prüfen konnte. Das ziegelgedeckte Dach erwies sich als durchaus tragfähig, den Ziegeln aus guter alter Wertarbeit konnten die Naturgewalten ganz offensichtlich nichts anhaben. Die Seitenwände waren auf der Ost- wie der Westseite teilweise morsch, was auch an der Tatsache liegen mochte, dass die verstopften Dachkanäle an zwei, drei Stellen überschüssiges Regenwasser unmittelbar auf die einst massiven Holzbohlen leiteten.
Die gut verriegelte, in Ehren ergraute Tür benötigte einen neuen Anstrich, erwies sich jedoch als durchaus stabil, weil sie noch gut ins Schloss rastete und ihm den Eintritt ohne Schlüssel zunächst verwehrte. Aus Fernsehkrimis kannte er typische Schlüsselverstecke, und tatsächlich fand sich hinter einer losen Schindel, mit welcher das Dach von der Unterseite her zusätzlich verkleidet worden war, ein rostiges Etwas von Schlüssel, der sich, mit reichlich Spucke gereinigt und von Flugrost befreit, problemlos im antiquierten Schloss drehen ließ und ihm den Eintritt ins reichlich angestaubte Interieur erlaubte. Das Innere übertraf, nachdem er die vor Staub fast blinden Fenster, kaum hatte er die schweren eichenen Fensterläden geöffnet, grob gereinigt hatte, seine kühnsten Hoffnungen, offensichtlich täuschte das Dickicht aus Hartriegelbüschen, Holunder, Brombeergestrüpp und Jungtannen unterschiedlicher Größe und Dichte über die Ausmaße der aus stabilen eichenen und buchenen Halbstämmen auf einem Sandsteinsockel erbauten Jagdbehausung. Ein Vorraum, wohl eine Art Diele von etwa drei Quadratmetern, erschloss dem Betrachter den Zugang und wies neben dem kleinen, vor Spinnweben, Schmutz und Staub fast blinden, zur Rückseite gehenden Fensterchen einen aus Rehbockgestängen gezimmerten Garderobenständer auf, darunter stand eine kleine eichene Vitrine, die es später zu inspizieren galt.
Zum Steinerweichen quietschten wie unter der Folter die zu lange ungeölten Türbeschläge, als er die massive eichene Tür zum eigentlichen Wohnraum öffnete. Ein Rundblick reichte – er sah sich mit einem zwar verstaubten, mit Leinentüchern vor Staub und Motten geschützten, einstmals aber prächtigen Juwel konfrontiert, das sich mit jedem vorsichtig entfernten, staubbedeckten Laken über der Einrichtung mehr und mehr als wahre Schatztruhe entpuppte. Das gut erhaltene Biedermeier-Sofa neben dem wuchtigen Armlehnstuhl aus derselben Zeit, der Intarsien verzierte Eichentisch mit handgeschnitzten Beinen, die nicht minder prächtigen vier massiven Stühle, die Sitzkissen mit ihren Blumenmustern etwas aus der Zeit gefallen, die verstummte, mannshohe Standpedule, die Kochnische mit altem Terrazzo-Spülstein neben dem Küchenherd aus Uromas Zeit: mächtige Stahlplatten zum Kochen über der ausladenden Feuerluke, daneben das typische Seitenschiff mit kupfernem Deckel zur Wassererhitzung – alles mit Holz zu befeuern und damit sofort einsetzbar, wenn er erst Brennholz gesammelt hätte. In einer Nische auf der rechten Seite, durch einen grünen, schweren Brokatvorhang abgetrennt, eine etwa einen Meter dreißig breite Schlafkoje – mehr als ausreichend für ihn. Zwei Petroleumlampen mussten wie das restliche Inventar entstaubt werden, spendeten aber aus dem in der schweren eichenen Kredenz entdeckten Kanister mit etwa drei Litern Restbrennstoff sicher genügend Licht, damit er sich abends eines der Bücher aus dem von seiner leinenen Tarnung befreiten Bücherbord zu Gemüte führen konnte.
Mit größter Vorsicht entfernte er die leinenen und längst angegrauten Schutzhüllen, um nicht unnötig viel Staub aufzuwirbeln, schaffte die behutsam gefalteten Laken nach draußen, weichte diese in einem großen, schnell mit Regenwasser gefüllten Holzzuber gründlich ein, damit er sie irgendwann, im Besitz von Kernseife oder Schmierseife, reinigen konnte.
Mit Regenwasser – die Wasserversorgung könnte sich hier noch als Problem erweisen – reinigte er, während sich draußen das Gewitter mit Blitz und Donner austobte, den gesamten Innenraum mit Hilfe des Schrubbers und des Putzlappens aus dem schmalen Besenschrank im Vorraum. Mit dem dort ebenfalls bereitgestellten Rosshaarbesen entfernte er sämtliche Spinnweben von der Decke, reinigte das an etlichen Stellen schon etwas angerostete Ofenrohr des Küchenherdes, ehe er schließlich, nachdem es draußen nur noch tröpfelte, Blitz und Donner gen Osten abgezogen schienen, aufs Dach kletterte, um den Kamin mit einem an seinem Kletterseil auf und ab bewegten Reisigbündel einigermaßen von altem Ruß, der zu gerne Feuer finge, zu befreien.
Sein vielseitig verwendbares Kletterseil: Unwillkürlich musste er, als er es um die trockenen feinen Ästchen wickelte, an Seppi denken. So lange war das noch gar nicht her; auf seinem Rückweg aus Italien begegnete er ihm auf dem Weg durchs Vallis, verstand sich auf Anhieb mit dem patenten Naturburschen, der sich als Zimmerergeselle einer alten Tradition folgend auf die Walz begeben und bereits halb Europa durchwandert hatte. Arglos plauderte der neue Weggenosse über seine Vergangenheit; der joviale Wegbegleiter musste seit einigen Jahren als Vollwaise ohne jegliche weitere Verwandtschaft nach der am Brustkrebs verstorbenen Mutter sein Leben bestreiten. Seppi war es auch, der ihre Ähnlichkeit im Äußeren zuerst ansprach. Wie Brüder seien sie, lediglich die Haarlänge und die Augenfarbe stimmten nicht zur Gänze überein.
Der lange Vereinsamte fühlte sich wohl in dieser Gesellschaft, mehrmals war er an den langen Abenden in irgendeinem ihrer Unterschlupfmöglichkeiten, wenn das kleine Feuerchen munter flackerte, nahe dran, aus der selbst gestrickt...