Condorcets Irrtum
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Condorcets Irrtum

Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann

  1. 288 Seiten
  2. German
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Condorcets Irrtum

Warum nur ein starker Staat die Demokratie retten kann

Über dieses Buch

Per Molander ist ein außergewöhnlicher Intellektueller und kennt die Spitzenpolitik aus eigener Praxis. Die Auseinandersetzung mit den Thesen des Marquis Nicolas de Condorcet (1743-1794) führt Molander zu einem glühenden Angriff auf die herrschende Lehre von heute, bei dem er die immer engere Verflechtung von Markt und Staat als ernsthafte Gefahr für Demokratie scharf kritisiert. Condorcet ist einer der Vordenker und Väter der modernen Demokratie und war als Mathematiker und Philosoph der Aufklärung Mitglied der Nationalversammlung während der Französischen Revolution. Diese ideengeschichtliche Verankerung seiner Gedanken zur heutigen Gesellschaft macht Molanders Buch zu einem lesenswerten Erkenntnisgewinn.

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1. Der Traum

Seinen Optimismus bewahrte er sich bis zum Schluss. Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, war die personifizierte Aufklärung – ein brillanter Mathematiker, ein Demokrat mit unbeirrbarem Glauben an die Befreiung des Menschen von der Herrschaft angemaßter Autoritäten. Doch sein eigenes Leben endete in der Finsternis.
1789 hatte Condorcet sich der Französischen Revolution angeschlossen. Im Frühjahr 1792 trat sein Bruch mit Robespierre und der radikalen Bergpartei, den Montagnards, offen zutage. Noch war in der Gesetzgebenden Nationalversammlung, die im Herbst des Vorjahres gewählt worden war, der Einfluss der gemäßigten Girondisten vorherrschend. Die Bedrohung von außen spitzte sich zu: Österreich-Ungarn, Preußen und Russland fürchteten, dass die Idee der Revolution sich über ganz Europa verbreiten würde, und bereiteten die Besetzung Frankreichs vor, um die Ordnung wiederherzustellen.
Die Debatten in der Versammlung konzentrierten sich zunehmend darauf, was mit dem König geschehen solle. Die Mehrheit hatte mit dem Übergang zu einer konstitutionellen Monarchie gerechnet, aber nach seinem missglückten Fluchtversuch im Frühjahr 1791 verdächtigte man Ludwig XVI. der Konspiration mit den ausländischen Mächten. Die Regierung der Girondisten wurde nun sowohl von der nationalistischen Rechten als auch von der radikalen Linken angegriffen, und Condorcet und seine Gefährten versuchten sich zu verteidigen, indem sie den Mitgliedern der Bergpartei vorwarfen, die bürgerliche Freiheit zu bedrohen und, abwegig genug, im Sold des Königs zu stehen – einer der wenigen Fälle, in denen der Marquis die Situation falsch einschätzte.
Im Sommer 1792 war die Forderung, den König zu stürzen, immer lauter geworden. Die Girondisten erkannten, dass sie nichts mehr daran ändern konnten, versuchten jedoch Zeit zu gewinnen. Am 9. August hielt Condorcet vor der Versammlung eine Rede, in der er klarsichtig feststellte, dass die Lösung, für die man sich jetzt entschied, nicht nur das Schicksal der Zeitgenossen, sondern auch das der Nachwelt bestimmen würde. Aber nun wurde nicht einmal mehr der Kompromiss erwogen, den König vorübergehend seines Amtes zu entheben. Am folgenden Tag stürmte eine Volksmenge die Tuilerien, der König wurde verhaftet, und die Revolution trat in eine neue Phase ein. Die neue Richtung war nicht mehr im Sinne Condorcets; er war ein Gelehrter, kein Realpolitiker, noch nicht einmal ein Rhetoriker.
Er wurde in den Nationalkonvent gewählt, der sich im Herbst 1792 formierte, und erhielt einen der sechs Sekretärposten, aber nachträglich wurde sein Einfluss geschwächt. Bis zuletzt hielt er dagegen, mit Forderungen nach einer ausgearbeiteten Verfassung für die Republik, nach einem Gesetzbuch, das sich auf die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz gründete, und nach einer allgemeinen Grundbildung. Er sprach sich auch gegen die Hinrichtung des Königs aus, weil er die Todesstrafe prinzipiell ablehnte, aber im Konvent stand die Entscheidung schon fest, und im Januar 1793 wurde das Urteil vollstreckt. Im Juni wurden die Girondisten entmachtet. Condorcet galt als einer von ihnen, obwohl er inzwischen eine völlig eigenständige Position vertrat, und am 8. Juli erließ man Haftbefehl gegen ihn. Er erhielt eine Warnung und konnte sich in Sicherheit bringen. Von Juli 1793 bis Ende März des folgenden Jahres fand er Unterkunft und Schutz bei Rose Marie Vernet, der Witwe des Bildhauers Louis François Vernet, in der Rue des Fossoyeurs 21 in Paris. Das Haus gibt es bis heute, die Adresse lautet jetzt Rue Servandoni 15. Während jener Monate bei Madame Vernet verfasste er sein intellektuelles Testament, Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (deutsch: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes). In neun Kapiteln schilderte er die Geschichte der Menschheit von der Jäger- und Sammlerkultur bis zur Ausrufung der Französischen Republik und schloss mit einer moderat optimistischen Zukunftsvision: Der Zuwachs an Wissen und die verbesserte Bildung der Menschen würden die Früchte der Aufklärung mehr oder minder von selbst reifen lassen. Er fasste die Vorschläge, die er der Nationalversammlung unterbreitet hatte, noch einmal zusammen – unter anderem zur Grundbildung für alle, zur Sozialversicherung und zur Gleichstellung der Frau – und beschrieb, wie die Menschheit in einer relativ nahen Zukunft ins Elysium eintreten würde, das Land des Glücks und des ewigen Frühlings.
Am 13. März 1794 verabschiedete der Konvent ein Dekret, demzufolge jeder, dem nachgewiesen wurde, dass er Feinde der Republik schützte, als mitschuldig gelten und entsprechend verurteilt werden sollte. Für Madame Vernet hätte es den Tod durch die Guillotine bedeutet, wäre Condorcet bei ihr entdeckt worden. So bereitete er abermals seine Flucht vor, noch ohne ein bestimmtes Ziel. Einige der sogenannten Republikfeinde hatten Zuflucht in der Schweiz gefunden, aber Condorcets erste Anlaufstation war Fontenay-aux-Roses, wo alte Freunde von ihm wohnten, das Ehepaar Suard. Zwar hatten sie mit ihm gebrochen, nachdem er aus ihrer Sicht zu radikal geworden war, aber er hoffte, dass sie ihm zumindest vorübergehend Unterschlupf gewähren würden. Am 25. März verließ er das Haus in der Rue des Fossoyeurs gemeinsam mit seinem Freund Jean-Baptiste Sarret, der ebenfalls Mathematiker war und bei Madame Vernet zur Miete wohnte. Nach einem halben Jahr erzwungenen Stillsitzens war Condorcet in schlechter Verfassung, und so brauchten die beiden vier Stunden für die zehn Kilometer bis Fontenay, wo sie sich voneinander verabschiedeten. Im Haus der Suards erfuhr Condorcet vom Dienstmädchen, dass die Eheleute sich in Paris befanden. Er verbrachte die Märznacht und weitere 24 Stunden im Freien, bevor das Paar nach Hause kam. Doch Suard wollte das Risiko, einen gesuchten Flüchtling bei sich aufzunehmen, nicht eingehen. Er forderte Condorcet auf, nach Einbruch der Dunkelheit wiederzukommen; inzwischen würde er versuchen, ihm einen Pass zu beschaffen.
Condorcet kam nicht mehr zurück. Er wanderte weiter bis Clamart, wo er in einem Gasthaus einkehrte, um etwas zu essen. Aber seine Erscheinung weckte Verdacht beim Wirt, der zufällig der Anführer der örtlichen Landwehr war, und bei zwei Gästen. Als man Condorcet verhörte, gab er sich als Pierre Simon aus und antwortete ausweichend auf alle Fragen. Er wurde festgenommen und ins wenige Kilometer entfernte Bourg-la-Reine gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war er schon so geschwächt, dass er nicht mehr gehen konnte, sondern in einem Karren transportiert werden musste. Zwei Tage später, am 29. März, fand ihn der Gefängniswärter tot auf dem Fußboden der Zelle – vornübergefallen, die Arme seitlich an den Körper gelegt. Er wurde anonym in einem Massengrab auf dem kommunalen Friedhof bestattet.
Was wurde aus Condorcets Traum vom Elysium? Eine allgemeine, obligatorische und kostenfreie Grundbildung ist inzwischen praktisch überall auf der Welt die Norm, und zumindest in einem Teil der reicheren Länder ist auch die Sozialversicherung verwirklicht. Die Sklavenhaltung wurde im Prinzip abgeschafft, aber in vielen Gegenden der Welt arbeiten Menschen weiterhin unter Bedingungen, die der Sklaverei ähneln. Die tatsächliche Gleichstellung der Frau liegt noch in weiter Ferne. Vorurteile und Aberglauben prägen vielerorts noch immer das Denken. Vor allem aber herrscht eine große Unsicherheit über die Zukunft der Aufklärung und die Zukunft der Demokratie. Woran lag es, dass Condorcet nicht recht behielt? Worin bestand sein Irrtum?

2. Wahrheit und Freiheit

Die Wahrheit wird euch frei machen, steht über dem Haupteingang der Bildungsanstalt, in welcher der Autor dieses Buches acht Jahre seines Lebens verbrachte: das Gymnasium in der schwedischen Stadt Kalmar, »Kalmar Högre Allmänna Läroverk« – 1933 erbaut und 1966 umbenannt in »Stagneliusskolan«. Schwer zu sagen, was denen, die sich einst für diese Inschrift entschieden, im Kopf herumging. Das Zitat stammt aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums, und dort wird das Wort Wahrheit in einer anderen Bedeutung verwendet, als es heute allgemein der Fall ist. Aber es gibt keine Devise, in der sich die Idee der Aufklärung besser zusammenfassen ließe.1

Die Aufklärung in Raum und Zeit

»Aufklärung: eine intellektuelle Strömung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ihr Zentrum in Frankreich hatte«, heißt es in der Schwedischen Nationalenzyklopädie.2 Diese Darstellung ist fragwürdig. Man überlege einmal, wer den folgenden Satz geschrieben haben könnte: »Wenn es etwas gibt, das ein Individuum im Naturzustand sich nicht aneignen und zu seinem Eigentum machen kann, ist es der Grund und Boden mit allem, was dazugehört.« Naturzustand, Kritik am Grundbesitz – das muss Rousseau sein, werden die meisten denken, und wer ein gutes Gedächtnis hat, tippt vielleicht auf die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 oder die 1762 veröffentlichte Schrift Vom Gesellschaftsvertrag. Tatsächlich aber stammt das Zitat aus dem Tractatus Politicus von Baruch de Spinoza, entstanden in den Siebzigerjahren des 17. Jahrhunderts und posthum veröffentlicht.
Nicht nur in Schweden neigt man traditionsgemäß dazu, den Schwerpunkt der Aufklärung in Frankreich anzusiedeln. Eine andere Sichtweise, die den Anteil englischer Philosophen hervorhebt, findet man, kaum überraschend, in der angelsächsischen Literatur. Eine dritte Version besagt, dass die Aufklärung in Wirklichkeit aus mehreren disparaten »Aufklärungen« bestand, die sich in verschiedenen Ländern ereigneten und zwischen denen nur in begrenztem Maße ein intellektueller Austausch stattfand. Der britische Historiker Jonathan Israel behauptet in seiner fundierten Analyse der Aufklärung als eines sozialen und ideengeschichtlichen Phänomens, dass keine dieser Versionen richtig sei.3 Er sieht die Aufklärung als eine zusammenhängende Bewegung, die sich vorwiegend im nordwestlichen Europa vollzog, und zwar mit intensivem Austausch über die Ländergrenzen hinweg. Wollte man ein einzelnes Land als Zentrum dieser geistigen Strömung bezeichnen, so wäre es laut Jonathan Israel weder Frankreich noch England, es wären vielmehr die Niederlande.
Das hat einen konkreten politischen Hintergrund. Die Republik der Vereinigten Niederlande, hervorgegangen aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien nach der Rebellion der nördlichen Provinzen im Jahr 1581, bildete als Staatswesen einen auffallenden Kontrast zu den absolutistischen Monarchien, die damals Europas Landkarte prägten. Es handelte sich nicht um eine Demokratie im modernen Sinne, aber die Macht war gleichmäßiger verteilt als in den meisten anderen Ländern, und die bürgerliche Klasse, die für den ökonomischen Aufschwung sorgte, hatte maßgeblichen Einfluss. Zwar dominierte die protestantische Religion, aber die Katholiken waren akzeptiert. Das Prinzip der Toleranz, längst durch die Verfassung geschützt, gilt bis heute und führte zu einer Dreiteilung des niederländischen Bildungssystems, vom Kindergarten bis zur Universität, in eine protestantische, eine katholische und eine konfessionslose Sektion. Das Land wurde zum Zufluchtsort für Intellektuelle aus allen Gegenden Europas, die in ihren Heimatstaaten Schwierigkeiten bekommen hatten oder die ganz einfach flüchten mussten, um ihr Leben zu retten. Frankreichs Protestanten waren in dieser Zuwanderungswelle stark vertreten, aber auch Katholiken oder Skeptiker wie René Descartes, Pierre Bayle und Antoine Arnauld entschieden sich für die Niederlande. Und neben Spinoza gab es eine Reihe weniger bekannter niederländischer Denker, die zur Aufklärung in ihrer frühen, radikalen Ausprägung wichtige Beiträge lieferten: Frans van den Enden, die Brüder Koerbagh, Lodewijk Meyer und andere.
Die Niederlande boten jedoch nicht nur eine intellektuelle Freistatt. Das Land diente außerdem als Modell in der Verfassungsdebatte, die im 17. Jahrhundert, vor dem Hintergrund extremer kriegerischer ­Gewalt, zum Teil im Verborgenen geführt wurde. Für das Verfas­sungsthema war der Dreißigjährige Krieg von eher untergeordneter Bedeutung. Umso wichtiger war die englische Revolution, die in der Geschichtsschreibung Englands wie auch anderer Nationen bemerkenswert unterbelichtet bleibt: In England wurde im Jahr 1649 ein König hingerichtet, fast eineinhalb Jahrhunderte, bevor das Gleiche in Frankreich geschah. Zwischen 1648 und 1653 wüteten in weiten Teilen Frankreichs die Bürgerkriege der Fronde, in der Beamte und Hochadel sich gegen die absolutistische Herrschaft des Königs verbündet hatten. Die Niederlande galten dabei als positives, wenn auch nach Meinung vieler reichlich radikales Vorbild. 1672 erklärten England und Frankreich der Republik den Krieg. Es war dann wiederum kein Zufall, dass die sogenannte Glorreiche Revolution des Jahres 1689 in England (die weder eine Revolution noch sonderlich glorreich war) ihren Ursprung in den Niederlanden hatte.
Auch wenn der Schwerpunkt der Aufklärung demnach in den Niederlanden verortet werden kann, verbreitete sich die Bewegung über ganz Europa. Zusammengehalten wurde sie von der intellektuellen Infrastruktur, die inzwischen entstanden war: Die Techniken der Verbreitung des gedruckten Wortes hatten sich weiterentwickelt, wissenschaftliche Zeitschriften erblickten das Licht der Welt, die Bibliotheken wuchsen und waren immer besser organisiert. Zwischen den letzten Jahrzehnten des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgte man das Konzept einer Universalbibliothek, doch dann wurde die Bücherflut so übermächtig, dass das Projekt nicht einmal mehr an Fürstenhöfen oder Universitäten, die über entsprechende Ressourcen verfügten, realisierbar erschien.
Die zweite wichtige Perspektivverschiebung, die sich aus Jonathan Israels Geschichtsverständnis ergibt, betrifft die zeitliche Einordnung der Aufklärung. Wie der oben zitierte Satz von Spinoza belegt, hatten sich schon lange vor der Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidende Dinge ereignet; die interessante Phase beginnt also fast ein Jahrhundert früher. Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme wurde 1632 veröffentlicht, Descartes’ Abhandlung über die Methode, richtig zu denken und Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen erschien 1637 und Hobbes’ Leviathan 1651. Auch Spinoza und Bayle publizierten im 17. Jahrhundert. Als Rousseau, Voltaire und die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert die Szene betraten, war ein großes Stück Arbeit bereits getan. Dass schon in den Jahrzehnten um 1600 eine Revolution der Naturwissenschaften eingeleitet wurde, ist nichts Neues – Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno und Galileo Galilei sind berühmte Namen. Aber das berührte eben nur das naturwissenschaftliche Weltbild. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis die alte Weltordnung auf breiterer Ebene infrage gestellt wurde. Als das geschah, wurden die philosophischen, religiösen und politischen Fundamente der Gesellschaft erschüttert.

Geistige Freiheit

Das Grundstürzende an der Aufklärung waren vermutlich weniger die konkreten Entdeckungen der Epoche als der neue Denkansatz. Er war universell, das heißt, er ging davon aus, dass übereinstimmende Annahmen zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen führen, unabhängig von Zeit und Raum. Er nahm nichts als selbstverständlich hin: Jede Annahme musste offen bleiben für ihre Widerlegung. Und, vielleicht das Wichtigste: Dieser analytisch forschende Denkansatz wandte sich nicht nur der Natur zu, sondern auch den Hervorbringungen des Menschen – den Institutionen der Gesellschaft, der Religion, der Geschichtsschreibung. Damit lag die Beweislast plötzlich nicht mehr bei denen, die Veränderungen befürworteten, sondern bei denen, die den Status quo erhalten wollten.
Bei der Aufklärung ging es also in erster Linie um eine geistige Befreiung – ein freies Streben nach Wissen und Erkenntnis, ausschließlich mit den Mitteln der Vernunft. Diese Forderung wurde nicht zum ersten Mal in der Geschichte erhoben; schon die Griechen hatten Fragen nach der Beschaffenheit der Welt gestellt, ohne sich dabei auf religiöse Konzepte zu stützen. Euripides schrieb in einem Dramenfragment aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung:4
»Wohl dem, der lernt, die Dinge zu erforschen, ohne die Absicht, seinen Mitmenschen zu schaden oder bösartige Handlungen zu begehen, und der allein danach strebt, die ewige und unsterbliche Ordnung der Natur zu begreifen – und wie sie aufgebaut ist.«
Den Römern fiel die Verwaltung dieses Erbes zu, aber sie interessierten sich mehr für Administration und Rechtsprechung als für Philosophie und Wissenschaft. Mit der Hegemonie des Christentums verwandelte sich die höfliche Pflege des griechischen Erbes in eine unmittelbar feindselige Haltung. Vierhundert Jahre nach dem Beginn unserer Zeitrechnung schrieb der Kirchenvater Augustinus in seinen Bekenntnissen:5
»Es gibt eine andere, noch gefährlichere Versuchung: Das ist die Krankheit der Neugier […] Sie ist es, die uns dazu antreibt, die Geheimnisse der Natur aufzudecken, die Geheimnisse, die jenseits unserer Vernunft liegen, die nirgendwo hinführen können und nach denen der Mensch nicht suchen soll.«
Die griechischen Philosophen wurden also aus einem mehr als tausendjährigen Halbschlaf erweckt, als die Männer und Frauen der frühen Aufklärung begannen, sich für den systematischen Zweifel als Denkmethode zu interessieren. Und für jene Philosophen, die Fragen gestellt hatten – Xenophanes, Pyrrhos, Straton, Epikur. Die Galionsfigur der neuen Zeit war Descartes, der Mann, der es sich zur Aufgabe machte, an allem zu zweifeln, sogar an seiner eigenen Existenz, und der doch festen Boden unter seinen Füßen zu finden glaubte, weil er sich beim Denken beobachtete – ein denkendes Wesen muss ja existieren. Sein Beitrag bestand vor allem darin, die Forderung nach Stringenz in der philosophischen Beweisführung zu etabliere...

Inhaltsverzeichnis

  1. Titel
  2. Inhalt
  3. Vorwort zur deutschen Ausgabe
  4. 1. Der Traum
  5. 2. Wahrheit und Freiheit
  6. 3. Die außereuropäische Welt
  7. 4. Die Segnungen der Aufklärung
  8. 5. Die unvollendete Moderne
  9. 6. Innere Hindernisse
  10. 7. Äußere Feinde
  11. 8. Die Schützlinge des Hermes
  12. 9. Dimensionen und Grenzen des Eigennutzes
  13. 10. Die Zivilgesellschaft
  14. 11. Der Staat
  15. 12. Im Schatten des Mont Pèlerin
  16. 13. Die Rehabilitierung des Staates
  17. Literatur- und Quellenverzeichnis
  18. Anmerkungen
  19. Namens- und Sachregister