Kapitel 1
Die Stille
»… ein Geräusch, als wenn ein Haus einstürzen würde, sehr laut, für uns überhaupt nicht einsortierbar, sehr metallisch auch. Die Leute gingen nicht mehr, es standen eigentlich alle da, wie eine Fotografie. Es gab eine minutenlange Stille.«
Ein Ohren- und Augenzeuge am 19. Dezember 2016
»Ich beschreibe einfach das Szenario, Menschen liegen am Boden, werden behandelt von anderen Menschen. Hier ist gerade die Polizei noch an einem …, es ist wirklich schwierig, das in Worte zu fassen. Es liegen Menschen unter dem LKW.«
Ein Journalist
»Am Ort war eine gespenstische Stille. Das fand ich bemerkenswert für so ein Ereignis.«
Ein Polizeibeamter
»Weihnachten existiert für uns nicht mehr.«
Astrid Passin, die auf dem Breitscheidplatz ihren Vater verlor
»Äußerlich bin ich cool, nach innen ein Wrack.«
Andreas Schwartz, der den Anschlag miterlebte und versuchte zu helfen
»Wenn ich manchmal mit dem Fahrrad unterwegs bin und höre einen LKW hupen, dann kommt es vor, dass ich die Straße verlassen muss. Ich bin plötzlich völlig außer mir, von jetzt auf gleich. Was willst du eigentlich hier, wo wolltest du eigentlich hin?«
Egbert Schmidt, Augenzeuge und Betroffener
»Hoffentlich war das nicht dieser Amri.«
Ein Beamter des Landeskriminalamtes von Nordrhein-Westfalen vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf auf die Frage, was er dachte, als er von dem Anschlag erfuhr
»Wir haben vermutet, dass Amri kein Lone Wolf war, sondern Leute um sich scharte.«
Rasmus M., Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen und Leiter der Ermittlungskommission »Ventum«
»Mir ist nicht bekannt, dass der Name Amri vermeintlich schon früher bekannt war.«
Jutta Porzucek, damals Leiterin des Staatsschutzes im LKA Berlin, vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags
»Da fehlen mir die Worte. […] Das sind Widersprüche, die ich nicht erklären kann. […] Eine unvorstellbare Kette von Versäumnissen. […] Derart ungewöhnlich, dass es selbst für Berlin ungewöhnlich ist.«
Bruno Jost, Ex-Bundesanwalt, der nach dem Anschlag als Sonderbeauftragter das Behördenhandeln in Berlin untersuchte
»Offenbar geht es um das individuelle Fehlverhalten Einzelner. Mein Vertrauen in die Polizei ist ungebrochen. Wir müssen handlungsfähig bleiben, das ist das Wichtigste bei der Frage.«
Andreas Geisel (SPD), Innensenator von Berlin
»Wir haben nur Ermittlungsthesen, keine Beweise. Die werden Sie auch nicht bekommen.«
Thomas Beck, Leiter der Abteilung Terrorismus in der Bundesanwaltschaft und stellvertretender Generalbundesanwalt
»Einerseits wollen wir natürlich die Öffentlichkeit im Rahmen unserer Aufklärung informieren, andererseits wollen wir natürlich auch den Sicherheitsinteressen Rechnung tragen. Und insofern entscheiden wir im Moment im Zweifel eher für die Nicht-Öffentlichkeit.«
Stephan Lenz (CDU), Vorsitzender des Untersuchungsausschusses im Abgeordnetenhaus von Berlin
»Ich würde wirklich dringend davor warnen zu mutmaßen, als sei hier irgendwie bewusst etwas ignoriert worden. Wenn, dann ist es Versagen im Einzelfall, es ist Fehleinschätzung.«
Frank Zimmermann (SPD), Mitglied des Berliner Untersuchungsausschusses
»Die Arbeit des BfV darf in bestimmten Bereichen nicht in die Öffentlichkeit getragen werden. Ich kann nicht erkennen, dass ich irgendeine Information nicht erhalten habe.«
Armin Schuster (CDU), erster Vorsitzender des Untersuchungsausschusses im Bundestag
»Wir wissen alle nicht, ob Anis Amri gefahren ist. Nach der Spurenlage waren noch andere Personen im LKW.«
Konstantin von Notz (Grüne), Mitglied des Untersuchungsausschusses im Bundestag
»Zu beweisen, dass Amri der Täter im LKW war, tue ich mich schwer: Er ist tot.«
Horst Rüdiger Salzmann, in der Bundesanwaltschaft verantwortlich für die Anschlagsermittlungen
»Ich habe keine Bedenken, dass meine Mitarbeiter korrekt gearbeitet haben. Die Täterfrage ist zweifelsfrei geklärt. Es gibt keine validen Hinweise auf Mittäter.«
Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, vor dem Untersuchungsausschuss im Bundestag
»Die objektive Spurenlage passt nicht zur Darstellung des BKA.«
Irene Mihalic (Grüne), Mitglied des Untersuchungsausschusses
»Amri war ein Fall der Polizei Nordrhein-Westfalen, dann der Polizei Berlin.«
Hans-Georg Maaßen, Ex-Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV)
»Die Frage ist nicht mehr, ob der frühere Präsident des BfV Parlament und Öffentlichkeit belogen hat, sondern: Warum?«
Martina Renner (Linkspartei), Mitglied des Untersuchungsausschusses im Bundestag
»Wann hat das Bundesamt für Verfassungsschutz seine V-Leute zu Amri befragt?« – »In dem Moment, in dem die Quelle flüchtig ist.«
Frage im Untersuchungsausschuss der Bundestags und Antwort des BfV-Mitarbeiters mit dem Aliasnamen »Thilo Bork«
»Welche Fehler hat das BfV im Gesamtkomplex in der Nachschau gemacht?« – »Keinen Fehler, dessen Unterlassung dazu beigetragen hätte, den Anschlag zu verhindern.«
Frage im Untersuchungsausschuss und Antwort des BfV-Vertreters mit dem Aliasnamen »Gilbert Siebertz«
»Manches kommt einem natürlich aus dem NSU bekannt vor, was die V-Mann-Praxis des BfV angeht. Klar sein muss, nicht die Bundesregierung kontrolliert das Parlament, sondern das Parlament die Regierung und die Geheimdienste.«
Benjamin Strasser (FDP), Mitglied im Untersuchungsausschuss des Bundestags
»Die Sitzung hat uns heute eindrucksvoll gezeigt, wie schwer Verfassungsschutzämter kontrollierbar sind. Wir haben heute unsere Grenzen aufgezeigt bekommen.«
Niklas Schrader (Linkspartei), Mitglied des Berliner Untersuchungsausschusses
»Das war eine Kapitulation des Untersuchungsausschusses gegenüber dem Verfassungsschutz.«
Andreas Schwartz
»Wir haben das Videomaterial nicht vorenthalten, sondern vielleicht nur nicht in der gebotenen Eile weitergegeben.«
Bruno Kahl, Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), im Untersuchungsausschuss des Bundestags
»Wie soll man ein Kapitel abschließen, wenn man keine Antworten bekommt, wenn ich nur Fragezeichen, 1 000 Fragezeichen habe?«
Ein Augenzeuge und Opfer
»Das ist wie eine Mauer, wie eine Wand, gegen die man anrennt. Bei einer Antwort bleiben zwei neue Fragen übrig.«
Egbert Schmidt, Augenzeuge und Ersthelfer
»Ich frage mich, ob überhaupt das Interesse bestand, wirklich zu ermitteln, oder ob man sich nicht mit der ›Lösung Amri‹ zufriedengab.«
Gerhard Zawatzki, Besucher des Weihnachtsmarktes und Ersthelfer
»Wir haben die Vermutung, dass die Verbindungen zwischen uns blockiert werden und wir kaum die Möglichkeit haben, uns kennenzulernen.«
Astrid Passin, Sprecherin der Hinterbliebenen
»Wir werden noch an dem ein oder anderen Untersuchungsausschuss teilnehmen und Informationen sammeln. Ich glaube, es ist für meine innere Aufklärung wichtig und für unsere gemeinsame Aufarbeitung, dass ich hier anwesend bin.«
Sascha Klösters, der bei dem Anschlag schwer verletzt wurde und seine Mutter verlor
»… dass es einen solchen schrecklichen Anlass braucht, um zu einer Lösung zu kommen.«
Frank Henkel, Ex-Innensenator, vor dem Berliner Untersuchungsausschuss
»Der Anschlag war wie ein Katalysator, um die Erkenntnisse über Terrorgefahren nun umzusetzen.«
Andreas Geisel vor dem Berliner Untersuchungsausschuss
»Ich habe mit dieser Sache nichts zu tun. Ich würde so was nie im Leben machen.«
Anis Amri in einer Whats-App-Nachricht an Freunde
»Ich wünsche uns, dass eines Tages Klarheit herrscht.«
Kriminaldirektor W., LKA Nordrhein-Westfalen
»Ich sehe erhebliche Fortschritte bei der Terrorabwehr in Deutschland. So etwas wie Amri wird sich nicht wiederholen.«
Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2017
»Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.«
Merkel beim Gedenkakt für die Opfer des NSU, Februar 2012
Kapitel 2
Der historische Kontext
Ein Tunesier namens Anis Amri soll nach offizieller Lesart der Attentäter vom Breitscheidplatz gewesen sein. Nach über vierjähriger Aufklärungsarbeit drei parlamentarischer Untersuchungsausschüsse sowie zwei Sonderermittlern spricht mehr dagegen als dafür, dass es Amri war, der den vierzig Tonnen schweren Sattelschlepper in die Menschenmenge des Weihnachtsmarktes an der Berliner Gedächtniskirche steuerte. Das wird im Folgenden zu zeigen sein. Und dennoch spielt der zugereiste Tunesier eine Rolle.
Hinter der Tat zeichnet sich stattdessen eine Vielzahl von Ereignissen, Handlungsebenen, Personen und Personengeflechten ab, die zugleich weit in den bundesdeutschen Sicherheitsapparat hineinreichen. Das bedeutet, dass auf dem Breitscheidplatz kein singuläres Ereignis eines Alleintäters stattgefunden hat. Allerdings: Wenn Amri zwar nicht der Haupttäter war, so war er doch am Tatgeschehen beteiligt und kann als erster gesicherter Mittäter gelten. Er war am 19. Dezember 2016 vor Ort, eines seiner Handys lag im Tat-LKW, und als er in Italien den Tod fand, hatte er die Tatpistole bei sich, mit der in Berlin der polnische Speditionsfahrer ermordet worden war.
Damit stellt die Figur Amri zugleich so etwas wie ein Medium dar, das zu den übrigen Tätern führen kann, wenn man seinen Spuren folgt. Mit wem stand er in Kontakt? Sein Umfeld bestand unter anderem aus Tunesiern sowie Personen anderer arabischer Länder. 2011, nach Beginn der arabischen Rebellionen, die in Tunesien ihren Ausgang nahmen, hatte sich der damals Achtzehnjährige wie viele seiner Landsleute auf den Weg nach Europa gemacht. Über Italien kam er Anfang Juli 2015 nach Deutschland. Was für Zeiten waren das? Im Folgenden soll zunächst ein Blick auf den historischen Kontext des Anschlags von Berlin gegeben werden.
1989 zerbrach eine zementiert geglaubte Weltordnung. Am symbolhaftesten vielleicht im Fall der Berliner Mauer. In der Folge wurden gesellschaftliche Kräfte freigesetzt, demokratische und fortschrittlic...