Sanctum | Daniël Laan | Focus-Stack aus 8 Aufnahmen bei 14 mm, 0,6 s, Blende 7,1, ISO 100 | Täuschung oder kreativer Selbstausdruck? Solange Sie als Fotograf tun, was Sie mögen, brauchen Sie sich über die Meinung anderer über Ihre Arbeit keine Gedanken zu machen.
1Die Vision
Fotografie war seit jeher ein wenig das Stiefkind der Kunstwelt. Sie wurde – und wird manchmal noch heute – als ein rein dokumentarisches Medium angesehen, bei dem der Fotograf lediglich das Vorhandene festhält. So bleibt wenig Raum für individuelle Interpretation: Das Foto darf nichts als die Wahrheit wiedergeben. Manipulation wird schnell als Täuschung angesehen. Im Journalismus ist es natürlich wichtig, dass Fotos ein objektives und wahrheitsgetreues Bild wiedergeben. Aber nur weil man mit der Ausrüstung eines Fotografen etwas dokumentieren kann, das als die Wahrheit angesehen wird, sollte man sich nicht davon abhalten lassen, die Kamera auch anderweitig zu nutzen.
1.1Selbstausdruck versus Ablichten
Die Kamera als Werkzeug
Fotografie kennt neben der rein dokumentarischen auch noch eine andere Seite. Als Form des Selbstausdrucks, als Kunst, wenn auch noch nicht vollends akzeptiert. Aus welchem Grund sollte man lediglich natürliche Bilder machen? Die Kunst ist frei, sodass jeder mit seiner Kamera und in der Nachbearbeitung erschaffen darf, was er will. Zwar ist die Kamera unser Werkzeug, doch sie sollte uns nicht einengen. Wie für den Maler der Pinsel nur eine untergeordnete Rolle spielt, gilt das auch für den Fotografen bezüglich der Kamera. Auch wenn diese selbst viel Aufmerksamkeit erfährt – ihre Marke und ihre Megapixel –, so ist sie doch lediglich ein Werkzeug, mit dem der Fotograf seine Vision verwirklicht.
Ihre eigene Impression
Eine Aufnahme beginnt beim Fotografen. Die Fotos, die eine Person macht, werden bestimmt durch ihre Art, die Welt zu sehen, und durch die Erfahrungen, die ihre Vision geprägt haben. All unsere Vorlieben, Erfahrungen, Charakterzüge, aber auch die Dinge, die wir nicht mögen, beeinflussen unser Bild. Jeder von uns reagiert ganz individuell auf Dinge, die im Prinzip neutral sind. Zeigt man zehn Menschen ein Bild von einem dunklen Wald, erhält man zehn verschiedene Reaktionen – von unheimlich und gruselig bis still und mystisch. Es ist derselbe Wald und dasselbe Foto. Die Szene war neutral: einfach eine Gruppe Bäume im Nebel. Und doch unterscheiden sich die Assoziationen gewaltig.
All of Us | Ellen Borggreve | 102 mm, 0,3 s, Blende 13, ISO 100 | Diese zwei Bilder mit völlig identischer Komposition zeigen, wie sehr die kleinsten Entscheidungen die Wirkung eines Bildes beeinflussen können (das obere Foto ist unterbelichtet mit einem sehr kalten Weißabgleich von 4000 K, das andere wurde neutral belichtet mit einem Weißabgleich von 6200 K).
Fotografie als Kunst ist somit eine Form des Selbstausdrucks, bei der sich der Fotograf seiner eigenen Assoziationen und Vorlieben bewusst ist. Sie ist, ebenso wie das Malen, ein Weg, sein innerstes Selbst zum Ausdruck zu bringen – ganz ohne den Einsatz von Worten. Als Fotograf erzählen Sie Ihre Geschichte, indem Sie eine Vision in ein Bild verwandeln.
Die eigene Vision nutzen
Möglicherweise fällt es Ihnen am Anfang schwer, herauszufinden, was genau Sie fotografieren wollen. Ich möchte Ihnen gern mit ein paar Fragen dabei helfen. Weshalb nehmen Sie eigentlich die Kamera zur Hand? Was fällt Ihnen im Bild auf? Wie können Sie erreichen, dass das Bild Ihr Gefühl für die Szene wiedergibt?
Ice Oak | Ellen Borggreve | 146 mm, 1/10 s, Blende 13, ISO 100 | Diese Eiche sah einfarbig, verzaubert und beinahe wie eine Skizze aus, als ich ihr an einem sehr kalten, nebligen Tag begegnete. Der Reif auf den Ästen war getaut und dann wieder gefroren, sodass jeder Ast von Eis bedeckt war. Mehr Farbe hätte der Stimmung, die ich mit dem Foto heraufbeschwören wollte, entgegengewirkt.
Sleepy Hollow | Daniël Laan | Focus-Stack aus 5 Aufnahmen bei 90 mm, 5 s, Blende 11, ISO 100 | Ein Weg in unmittelbarer Nachbarschaft, den ich von klein auf kenne. Doch noch nie hatte ich ihn unter solchen Bedingungen gesehen. Ich verwendete ein Teleobjektiv und einen kühlen Weißabgleich, um mein momentanes Gefühl zu beschreiben und sowohl die Enge als auch die Stimmung der Blauen Stunde zu unterstreichen.
Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer bizarren Eiche. Nun könnten Sie sich die Frage stellen, welches Wort Ihnen als Erstes in den Sinn kommt. Dieses Wort sagt viel darüber, wie Sie das Foto gestalten möchten. Beispielsweise könnte Ihnen »unheimlich«, »majestätisch« oder »märchenhaft« durch den Kopf schießen. Das entsprechende Wort gilt es nun in der Komposition herauszuarbeiten. Wenn Ihnen ein Baum »majestätisch« erscheint, bietet es sich an, einen tiefen Standpunkt zu wählen, sodass der Baum groß wirkt. Und um seine Größe gegenüber den anderen Bäumen noch weiter zu unterstreichen, entscheiden Sie sich zum Beispiel für ein Weitwinkelobjektiv, das die Perspektive verzerrt. War Ihre erste Assoziation »gruselig«, dann liegt es nahe, ein weniger farbenfrohes Bild aufzunehmen und den Baum beispielsweise als Silhouette im Nebel an einem düsteren Wintertag zu fotografieren. Dachten Sie jedoch an »märchenhaft«, so sollten Sie sich für etwas mehr Farbe entscheiden. Finden Sie heraus, weshalb Sie eine bestimmte Assoziation haben, und beuten Sie diese Erkenntnis für Ihre Komposition aus.
1.2Katharsis: Was Fotografie für Sie bedeuten kann
Was haben wir doch für ein schönes Hobby: immer zur besten Tageszeit draußen, um schöne Bilder zu kreieren. Zumindest vermittelt die Landschaftsfotografie von außen betrachtet diesen Eindruck. In Wirklichkeit bedeutet draußen zu fotografieren harte Arbeit, denn in 90 % der Fälle kommt man ohne ein Foto nach Hause, das den eigenen Auswahlkriterien genügt. Sintflutartiger Regen, dichter Nebel und Starkwind können nicht nur das Fotografieren herausfordernd machen, sondern auch dazu führen, dass Sie manchmal völlig am Ende sind. Das aber ist überhaupt nicht tragisch.
Frustration
Vielleicht haben Sie auch schon einmal das schönste Licht knapp verpasst. Sie kommen spät zu einer Location, das Stativ klemmt wieder einmal und irgendwie fällt Ihnen gerade nicht ein, wie Ihre Kamera genau funktioniert. Frustration kommt auf und Sie fallen aus dem Flow. Dann beginnt es noch zu tröpfeln und Sie haben keine Regensachen dabei. Schon ist Ihnen die Lust am Fotografieren vergangen. Sie kennen sicher solche Momente, doch kein Außenstehender würde erwarten, dass sie beim Fotografieren so häufig auftreten.
Wenn alles perfekt ist
Einmal alle Jubeljahre passiert es: Alles ist perfekt. Die Stimmung im Wald passt, der Nebel bleibt hängen, Sonnenstrahlen durchdringen das Blätterdach und der Wald präsentiert sich in schönsten Herbstfarben. Man muss sich richtig anstrengen, um jetzt schlechte Fotos zu machen! Kennen Sie das Gefühl, den Wald voller Begeisterung mit einer Speicherkarte voller Top-Fotos verlassen? Wenn Sie sich so fühlen, kann man das oft auch in Ihren Fotos erkennen. Sie verströmen positive Energie, ganz gleich, ob die Technik perfekt war. Doch Tage später, wenn Sie sich die Bilder erneut anschauen, ist diese Begeisterung verflogen. Die Bilder sehen vielleicht etwas blass aus, manche sind unscharf und der Horizont ist auch nicht immer gerade. Heute sind Sie Ihr eigener unerbittlicher Kritiker. Am besten, Sie hören jetzt auf, sich die Bilder weiter anzuschauen. Bei so viel Kritik an der eigenen Arbeit kann es passieren, dass Sie den größten Teil Ihrer Bilder löschen.
Oak Frame | Ellen Borggreve | 70 mm, 1,3 s, Blende 13, ISO 100 | Eichen sind wegen ihrer bizarren Äste meine Lieblingsbäume. Diese Szene fasst zusammen, weshalb ich Wälder fotografiere: In ihr findet sich die innere Stille und Verzauberung, die ich suche.
Tun Sie das auf gar keinen Fall! Legen Sie die Fotos noch einmal zur Seite. Lassen Sie die Bilder ruhen. Am besten holen Sie die Fotos von diesem Morgen im Wald erst dann wieder hervor, wenn Sie dasselbe fühlen wie damals dort draußen. Das fällt vor allem Einsteigern schwer. Zudem klingt es reichlich nebulös, denn woher sollen Sie wissen, wie Sie sich gefühlt haben, als Sie das Bild aufnahmen? Wenn Sie Musik mögen, gibt es einen Trick. Hören Sie doch einmal in sich hinein, welche Melodien Ihnen durch den Kopf gehen, während Sie durch den Wald laufen. Wenn das nicht funktioniert, können Sie auch leise Musik hören (natürlich mit Ohr- oder Kopfhörern). Und wenn Sie dann zum Betrachten der Bilder diese Musik erneut einlegen, werden Sie in jene Stimmung versetzt, die Sie während der Wanderung gespürt haben. Auf diese Weise können Sie Ihre Bilder mitunter monatelang ruhen lassen und haben dennoch das Gefühl, als hätten Sie sie erst gestern aufgenommen. Das ist ideal für die Nachbearbeitung!
Sich selbst ausdrücken
Künstlerische Fotografie ist eine Form, sich selbst auszudrücken. Unsere Fotos sind nur zur Hälfte Abbild der Außenwelt, die andere Hälfte zeigt eine Welt tief in unserem Inneren. Fotografie kann einfach ein schönes Hobby bleiben, sie kann aber auch sehr viel mehr werden. Vor allem die Wald- und Landschaftsfotografie bietet immer wieder Raum, sich eine kleine Auszeit zu nehmen, zur Ruhe zu kommen und den Alltagssorgen für einen Augenblick zu entfliehen.
Doch allzu oft fühlt sich Fotografieren nicht so an, denn Ihr Kopf ist eigentlich mit etwas anderem beschäftigt, das volle Aufmerksamkeit erfordert. Was kann man in einem solchen Fall tun? Lassen Sie es zu! Das Leben besteht nicht nur aus Sonnenschein. Es ist in Ordnung, wenn Sie sich gehetzt, traurig oder kaputt fühlen. Die alten Griechen nutzten das Schauspiel als Ventil für negative Gedanken. Beim Spiel konnten sie den Gefühlen einen Platz zuweisen, wodurch emotionaler Raum entstand. Das nennt man Katharsis. Fotografieren kann in Ihrem Leben eine vergleichbare Funktion übernehmen. Fragen Sie sich doch einmal: Warum fotografieren Sie? Weshalb kehren Sie wieder und wieder, bepackt wie ein Lastesel, an dieselbe Stelle zurück, obwohl Sie tief in Ihrem Inneren wissen, dass es das perfekte Bild nicht gibt?
Was Fotografie für uns bedeutet
Ein Foto besteht aus Recherche, aus Komposition und Technik, und auch aus Nachbearbeitung. Und bei alledem bleiben wir immer nah bei uns selbst. Was ist für Sie ein interessantes oder schönes Fotomotiv? Warum? Wie wollen Sie es fotografieren? Warum genau so? Und wie wollen Sie das Foto nachbearbeiten, um Ihr Gefühl darin stärker zum Ausdruck zu bringen? Wenn Sie sich diese Warum-Fragen immer wieder stellen, wird sich Ihre eigene Vision stetig weiter herausbilden. Und aus dieser Vision erwächst ein visueller Stil.
Daniël:...