Das Ziel des Wissens anpeilen
Manchmal denke ich an den 15. März 2020 zurück. Das war der erste Sonntag, an dem in meiner Gemeinde ein Gottesdienst coronabedingt abgesagt wurde. Das Virus war im Anflug (wenn auch gefühlt noch weit weg) und meine Predigt fertig. Ich wollte mit ein wenig Corona-Scherzelei einsteigen und hatte mir den einen oder anderen (mehr oder weniger guten) Gag zurechtgelegt, über Masken und absurde Berichte von Menschen, die Desinfektionsmittel aus öffentlichen Spendern und Schutzausrüstung sogar aus nicht-öffentlichen Vorratsschränken in Krankenhäusern klauten. Dann rückte das Virus rasant und plötzlich an unser gemeinsames Leben und den Alltag heran.
Während ich Mitte 2021 diese Zeilen schreibe, sind in Deutschland bereits über 90.000 Menschen im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben, weltweit gab es über vier Millionen Tote.1 Von allen sichtbaren und unsichtbaren Kollateralschäden ganz zu schweigen. Die Scherze bleiben mir heute (meist) im Hals stecken, und im Rückblick muss ich kräftig darüber schlucken, wie dumm jeder Witz gewesen wäre. Im Laufe der Tage und Wochen danach wurde ich mir meiner eigenen Unwissenheit und Ignoranz bewusst … wenigstens ein bisschen.
Warum ich das erzähle? Im vorletzten Kapitel auf der Suche nach den Schatten des Glaubens fragen wir nach Wissen und Unwissenheit, nach den ignoranten Anteilen im Glauben und Unglauben. Ich suche nach dem, was es zu wissen gilt und wie mich der Blick auf meinen Unglauben vor gelegentlichen Dummheiten bewahrt.
Diesmal leitet uns ein größerer Textzusammenhang, den wir nach und nach an uns heranlassen. Er stammt aus dem ersten Brief von Paulus an Timotheus. So zumindest nach eigener Angabe. Die Forschung ist sich heute praktisch einig, dass es sich dabei um eine Art Hommage an Paulus aus späterer Zeit handelt, die dementsprechend Paulus nicht selbst geschrieben hat.2 „Pseudepigrafie“ nennt man das, nicht zu verwechseln mit einem Plagiat. Das war in der Antike ein völlig gängiges und legitimes Mittel, um sich auf eine bestimmte Autorität zu berufen. Andere Briefe, die Paulus als Verfasser nennen, sind wohl ebenfalls nicht von ihm geschrieben. Das gilt nach derzeit gängiger Überzeugung für die Pastoralbriefe (1.+2. Timotheus, Titus) und für die Briefe an die Epheser:innen, Kolosser:innen und den zweiten Brief an die Thessalonicher:innen.
Manche treuen Bibelleser:innen kommen ein bisschen ins Schwitzen, wenn sie hören, dass ein biblisches Buch einen „falschen“ Autor angibt. Am Brief ändert das allerdings nichts, er bleibt mit jedem Wort genauso Heilige Schrift wie vorher, kann jederzeit zum Gotteswort werden und verliert nichts an Bedeutung. Im Gegenteil! Wir können mit diesem Wissen im Hinterkopf viel besser einordnen, was mit den Inhalten gemeint sein könnte und wie die Texte zu verstehen sind. Für unseren Abschnitt heute ist das nicht so entscheidend, aber wenn schon das Kapitel mit Wissen und Unwissenheit zu tun hat, darf so ein kleiner Ausflug in die Bibelkunde sein.
Also, nehmen wir uns den Beginn des Briefes vor, in dem uns wieder unser Hauptwort „Unglaube“ begegnet. Allerdings erst im zweiten der folgenden drei Teile.
Weisung, Wissen, Liebe
1. Timotheus 1,1 [Von] Paulus, einem Boten des Christus Jesus, entsprechend dem Auftrag Gottes, unseres Befreiers, und des Christus Jesus, unserer Hoffnung, 2 an Timotheus, einen echten Sohn im Glauben: Gnade, Erbarmen und Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, dem wir uns anvertrauen. 3 Bei meiner Abreise nach Mazedonien habe ich dich ja gebeten, in Ephesus zu bleiben, damit du gewisse Leute unterweist, keine falsche Lehre zu verbreiten 4 und sich mit Fabeleien (wörtlich: Mythen) und unendlichen Geschlechterreihen zu befassen, die nur Streit verursachen, mehr als sich den Aufgaben Gottes zu widmen, die im Glauben liegen. 5 Das Ziel der Weisung ist eine Liebe aus reinem Herzen, gutem Gewissen und ehrlichem Glauben.
Seien wir ehrlich, bei aller Toleranz und einem Verständnis für das Gewicht der eigenen Prägung (siehe voriges Kapitel): Manchmal wäre es schön und hilfreich, wenn man „gewissen Leuten“ einfach verbieten würde, dumme Sachen … äh … falsche Lehren zu erzählen, oder? Mir geht es manchmal so, was wohl unter anderem damit zusammenhängt, dass ich von Kindesbeinen an einen gewissen Hang zur lebhaften Besserwisserei habe und immer ein bisschen in der schwebenden Hoffnung lebe, dabei wenigstens knapp dem Dunning-Kruger-Effekt zu entgehen; dem Effekt, dass sich besonders inkompetente Menschen für besonders kompetent halten.3 Anderen aufgrund von vermeintlicher Ahnungslosigkeit den Mund zu verbieten, ergibt jedoch keinen Sinn, weil das Echo mir mindestens genauso laut entgegenklingt. Aber ich fühle gelegentlich doch so.
Die Paulusimitator:innen heben in ihrem Briefchen zu einem klassischen „Rant“ an, wie es auf Internetdeutsch heißt – einer Schimpftirade vom Allerfeinsten. Darin haben sie den echten Paulus wohl gut getroffen.4 Vielleicht könnte der Brief heute als Mail unter Vertrauten so klingen: „Es wird so unglaublich viel Quatsch im Namen des Glaubens erzählt!!!!“ Die Paulusdarsteller:innen des ersten Timotheusbriefes vermuten offenbar einen Dunning-Kruger-Effekt mitten in der Gemeinde. Oft fühle ich, was sie meinen, zumindest gesamtkirchlich betrachtet.
Manchmal scheint mir das eine bis heute zutreffende Analyse zu sein, oder wenigstens beschreibt es manche Dauerkonflikte zwischen den unterschiedlichen Spielarten christlichen Glaubens gut. Gelegentlich wundere ich mich, wie laut manche Menschen (fast immer Männer) im Namen des einzig wahren Glaubens auftreten, deren Halbwissen in einem vergleichsweise begrenzten Spektrum aufleuchtet. Dabei bin ich mir im Übrigen praktisch sicher, dass es in umgekehrter Richtung genauso aussieht und der pseudopaulinische Vorwurf der Ahnungslosigkeit ein recht universales „Argument“ ist, das man mir ähnlich vorwerfen könnte.
Ich bleibe mal in meiner persönlichen und subjektiven Perspektive, die jedoch unmittelbar durch unseren Briefabschnitt getriggert ist: Trotz der unterstellten Ahnungslosigkeit wird mit manchmal unglaublicher Vehemenz verkündigt und unterwiesen, vermeintliches Wissen wird im Brustton der Überzeugung als „gesunde Lehre“ (so in Vers 10) verbreitet.
Halten wir uns mal thematisch an den vierten Vers, denn nicht selten pochen Menschen lauthals auf besagte Fabeleien und endlose Geschlechterreihen. Dieses interessante Stückchen Bibel hatte ich bisher offen gestanden gar nicht auf dem Schirm, aber es ist zu spannend: Die Menschen in der adressierten Gemeinde sollen sich gerade nicht mit Fabeleien (wörtlich: „Mythen“) und endlosen Geschlechterreihen abgeben. Man weiß nicht genau, was für Mythen gemeint sind, wahrscheinlich sind es irgendwelche erfundenen Geschichten. Man könnte eine Anspielung auf die Schöpfungserzählung vermuten, die (wenigstens aus heutiger Perspektive) ebenfalls eine Art Mythos ist. Denn ziemlich sicher spielen die genannten Geschlechtsregister auf die Urgeschichte in Genesis 1–11 an („Der zeugte den, … der zeugte den, … der zeugte den …“). Aber genau lässt sich nicht sagen, welche Mythen gemeint sind, es ist wohl allgemein das, was die Autor:innen als Gefährdung für den Kern ihres Glaubens ansehen.
Man könnte das nun ohne allzu große Verrenkungen für uns und heute ausschmücken. Zugegeben, darin spiegelt sich durchaus meine eigene Tradition und Prägung und manche Diskussion, die mir tatsächlich auch im 21. Jahrhundert noch begegnet – für die allermeisten Kirchenmenschen spielt das womöglich kaum noch eine Rolle. Jedenfalls könnte der Text 2.000 Jahre später lauten: Befasst euch nicht damit, wie die Welt wurde, was sie ist oder wie sie funktioniert. Anhand der Mythen über ihre Entstehung und ihre natürlichen Gesetze zu diskutieren, bringt nichts als Ärger. Denn diese Erzählung von der Schöpfung will darüber gar nichts (oder nur etwas im Rahmen ihrer Möglichkeiten) sagen. Die Entstehung des Universums kann die Bibel nicht erklären, sondern das tut zum Beispiel das kosmologische Standardmodell. Man könnte daher sagen: Überlasst das bitte den (Natur-)Wissenschaftler:innen, die sich damit auskennen.
Der Job von Wissenschaftler:innen ist zwar nicht, alles zu wissen. Aber ihre Aufgabe ist, Wissen von bloßer Meinung zu unterscheiden, Fakten von Fake News abzugrenzen. Dass das manchmal unglaublich schwierig ist, zeigte „Corona“ gerade erst im langen Jahr 2020 sehr eindrücklich. Die allermeisten Kirchen hielten sich erfreulich bedeckt mit Erklärungsversuchen. Aber manche Menschen haben sich bei Demos und in den sozialen Netzen auf die absurdesten Theorien verschworen. Wissen und Meinung zu unterscheiden ist für manche Menschen gelegentlich schwierig.
Noch schwieriger wird es, wenn es um solch spezielle Dinge geht, die man weder einfach untersuchen noch im gewöhnlichen Sinne „wissen“ kann. „Gott“ gehört definitiv dazu. Oder mit den Worten des Briefes: die „Aufgaben Gottes“. Die Übersetzung ist dabei so zweideutig wie die griechische Vorlage, gemeint sind eventuell sowohl die Aufgaben, die Gott hat, als auch die Aufgaben, die Gott gibt.
So oder so: Das ist nichts, was sich einfach wissen lässt. Das, was das Göttliche in der Welt will und wirkt, lässt sich nicht einfach nac...