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Nicht einvernehmlich
Über Consent (Einvernehmlichkeit) muss man vor allem wissen, dass es kein Ding ist. Einwilligung ist nichts Materielles, kein Hab und Gut. Es ist kein Gegenstand, den man in die Hand nehmen, kein Geschenk, das man jemandem machen und dann unhöflich zurückfordern kann. Consent ist ein Seinszustand. Wenn wir anderen unsere Einwilligung geben – sexuell, politisch, sozial –, ist das ein bisschen so, als würden wir ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken. Es ist ein fortdauernder Prozess. Es ist eine Interaktion zwischen menschlichen Wesen. Ich glaube, sehr viele Männer und Jungs wissen das nicht. Ich glaube, dieses Unverständnis löst bei Frauen, Männern und allen anderen, die es satthaben, dass menschliche Sexualität immer noch wehtut, unsägliche Traumata aus.
Wir müssen darüber reden, was Consent eigentlich bedeutet und warum es in einer Zeit, in der das Grundrecht der Frau auf körperliche Autonomie weltweit unter Beschuss steht, nicht weniger, sondern mehr auf Einwilligung ankommt. Um Consent ranken sich immer noch Missverständnisse, und wir müssen uns allen zuliebe versuchen, zumindest einige dieser Missverständnisse auszuräumen. Wie also können wir eine Kultur ins Leben rufen, in der Consent die Voraussetzung für sexuellen Umgang ist? Beginnen wir mit der schlechten Nachricht.
Die schlechte Nachricht lautet: Es gibt kein einfaches Regelwerk, mit dem sich verhindern ließe, dass je wieder ein Mensch einem anderen Gewalt antut, sei es versehentlich oder absichtlich. Glaubt mir, wenn es einfache Regeln gäbe, ein Rezept dafür, wer den ersten Schritt tut und wie es dann weitergeht, würde ich es aufschreiben und wäre jetzt schon fertig. Leider aber ist es so, dass wir in diesem Schlamassel stecken, weil es eben mehr braucht als ein einfaches Regelwerk.
Der Physiker Carl Sagan schrieb einmal: »Sollten wir uns in den Kopf setzen, unseren Apfelkuchen von Grund auf selber zu machen, müßten wir erst das Universum erfinden«.1 Das ist nicht nur eine Frage des Rezepts, des richtigen Verhältnisses von Zucker, Mehl, Butter und Obst. Vielmehr müssen wir beim komplexen System der Nahrungsmittelversorgung und Landwirtschaft anfangen, bei den Jahrhunderten unfairen Handels mit Zuckerrohr, Getreide und menschlicher Arbeitskraft, bei Jahrtausenden landwirtschaftlicher Produktion, Jahrmillionen der Evolution und weiteren Milliarden Jahren, in denen sich aus dem Staub eines fernen, explodierten Sterns alles erst entwickelt hat. So wäre das, wenn wir aus dem Nichts einen Apfelkuchen backen wollten. Dieselbe Regel gilt für einen Kulturwandel.
Wenn die menschliche Sexualität nicht mehr so verletzend sein soll, müssen wir zu den Grundprinzipien zurückkehren, zu den ungerechten Sozialverträgen und sexuellen Skripten, die unser Leben leiten. Wenn wir eine Consent Culture herbeiführen wollen, die auf Einvernehmlichkeit gründet, müssen wir nicht nur die richtigen Regeln finden und befolgen. Wir brauchen eine sexuelle Revolution. Wir müssen Sex und Liebe und Arbeit und Gender und Begehren grundsätzlich neu denken. Wenn wir sexuelle Freiheit haben wollen, müssen wir zunächst sämtliche Beziehungen neu ordnen, uns einen neuen Begriff davon machen, was wir unter Gewalt verstehen, wie Körper kontrolliert werden, was Weiblichkeit und Männlichkeit bedeuten. Die gute Nachricht ist, dass wir all das wahrscheinlich sowieso tun sollten. Ja, der Prozess hat bereits begonnen. Begonnen hat er mit der Benennung des Problems.
Das Problem zu benennen, birgt eine gewaltige Alltagsmagie in sich. Unter einer Rape Culture, also einer Vergewaltigungskultur, sind Sprache und Gewohnheiten zu verstehen, die Vergewaltigung normalisieren und im Leben von Frauen zu einem Überwachungsinstrument machen. In der Rape Culture heißt es: Meide diese oder jene Straße. Frauen, Mädchen und Queere werden ermahnt, sich zu beherrschen, zu kontrollieren. Alles dreht sich um Kontrolle. Die Botschaft lautet, dass diese oder jene Straße nicht für uns da ist. Dass die Welt nicht für uns da ist.
Das Benennen und Bloßstellen der Rape Culture ist eine der wichtigsten feministischen Interventionen der letzten Jahre – und eine, die besonders oft missverstanden wurde. Mit Rape Culture ist nicht einfach nur eine Gesellschaft gemeint, in der Vergewaltigung an der Tagesordnung ist. Natürlich ist sie an der Tagesordnung: In den Vereinigten Staaten werden Tag für Tag 600 Frauen vergewaltigt, drei von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet.2 Jede fünfte Frau und jeder einundsiebzigste Mann wird irgendwann im Lauf des Lebens vergewaltigt.3 Aber Rape Culture ist nicht nur eine Kultur, in der solches geschieht: Sie ist eine Kultur, in der solches geschieht und normal ist.
Man bezeichnet das auch als »sexuellen Autoritarismus«: Sexualität basiert auf Dominanz, wobei eine Gruppe von Menschen einer anderen Sex aufzwingt oder abnötigt. Der Begriff Rape Culture bezieht sich auf die Narrative im Alltag, die Vergewaltigung und sexuelle Nötigung von Frauen als Waffe einsetzen, um deren Leben zu kontrollieren. So wird sexuelle Gewalt durch Männer zwar als gesellschaftlich unvermeidbar verziehen, doch Frauen und Mädchen werden nach wie vor dazu erzogen, sich vor Vergewaltigung zu fürchten und zu schützen.
Wie Frauen Vergewaltigung erleben und die rechtliche Definition von Vergewaltigung klaffen weit auseinander. Vergewaltigung wird zwar von Land zu Land als Straftat unterschiedlich definiert, doch gründen diese Definitionen eher selten auf tatsächlichen Erfahrungen von Überlebenden. Viel öfter beruhen sie auf dem, was eine Kultur über Vergewaltiger erzählt, und solche Erzählungen stammen größtenteils von Männern. In einer Befragung von siebenundsiebzig amerikanischen College-Studentinnen, die »nicht-einvernehmlich vaginal penetriert« worden waren, stellten die Forscherinnen fest, dass viele Betroffene das Geschehene nicht als Vergewaltigung einordneten, und zwar nicht deshalb, weil es nicht traumatisch gewesen wäre, sondern weil sie die Narrative darüber verinnerlicht hatten, was als »Vergewaltigung« gilt und was nicht.4
Einige konnten den Täter »nicht mit ihrer Vorstellung von einem Vergewaltiger in Einklang bringen«: Er hatte sie nicht geschlagen, keine Waffe benutzt, war ein lieber Freund gewesen. Für andere entsprach das eigene Verhalten nicht dem eines »normalen« Opfers: Sie hatten getrunken, gaben sich selbst die Schuld. In einer Studie aus dem Jahr 2016 entsprach von vierhundert Vergewaltigungen, die einer britischen Polizeizentrale gemeldet worden waren, keine einzige genau dem Narrativ einer »echten Vergewaltigung« durch »einen bewaffneten Fremden, der nachts in einer einsamen Gegend mit körperlicher Gewalt auf eine Frau losgeht« und dieser »schwere Verletzungen« beibringt.5
Jemand muss nicht erst vergewaltigt werden, um von der Rape Culture betroffen zu sein: Man muss nur in einer Kultur aufwachsen, die einem einschärft, dass, wenn man sich nicht ausreichend im Griff hat, wenn man zu laut redet oder sich ein bisschen zu verrückt benimmt oder irgendwo hingeht, wo man mit zu kurzem Rock nicht sein sollte, Vergewaltigung die logische Folge ist und man halt selber Schuld hat. In einer solchen Kultur sind wir alle aufgewachsen, einschließlich der Männer.
Rape Culture betrifft auch Männer. In einer solchen Kultur lernen Männer, dass ihnen die sexuellen und emotionalen Dienste von Frauen zustehen, dass sie einen Anspruch haben, ihren eigenen Selbstwert daran zu messen, wie vielen Frauen sie »bei der Pussy packen« können, dass sie Frauen nicht als Mitmenschen, sondern gleichermaßen als Feind und als Trophäe im Kampf des Lebens betrachten können. Rape Culture zerstört Intimität und zerstört die Solidarität zwischen Männern und Frauen gerade jetzt, da wir diese Solidarität am dringendsten brauchen.
Hinter einer individuellen Vergewaltigung können verschiedene Motive stehen, aber bei der Rape Culture geht es um Kontrolle. Um Kontrolle durch Gewalt und die Androhung von Gewalt. Fragt sich nur: Was wird kontrolliert und warum? Wem nützt die Rape Culture eigentlich?
Das ist ganz einfach. Die Rape Culture trägt entscheidend zum Funktionieren von Volkswirtschaften bei, die sich auf die Ausbeutung von Frauenkörpern stützen. Und jede Volkswirtschaft auf Erden gründet auf der unsichtbaren Arbeit, die meist kostenlos und meist von Frauen geleistet wird: der häuslichen und emotionalen Reproduktionsarbeit, ohne die jede moderne Wirtschaft über Nacht zusammenbrechen würde. Die reproduktive und sexuelle Freiheit der Frauen ist eine ökonomische Angelegenheit, und wer eine Consent Culture schaffen will, muss hier ansetzen. Als Erstes gilt es, genau zu hinterfragen, warum die Körper von Frauen und Mädchen als ausbeutbare Ressource behandelt werden, warum ihre Handlungsmacht und Würde immer noch als kulturell irrelevant behandelt werden und wie sich das ändern ließe.
Um zu einer Consent Culture zu gelangen, müssen wir nicht einfach nur die Regeln ändern, die Vergewaltigung, Belästigung und Gewalt betreffen. Wir müssen die zugrundeliegende Ethik dahingehend ändern, dass das Leben von Frauen und LGBTQ-Menschen tatsächlich etwas zählt, dass tatsächlich zählt, was wir wollen und was wir nicht wollen, und das ist die größere Aufgabe. Viel größer und viel unbequemer.
Als ich in den Zwanzigern war, musste ich ein ums andere Mal dabei zusehen, wie Communitys und Institutionen, Freundeskreise und politische Organisationen implodierten, weil sie es nicht schafften, Vergewaltigern und Sexualtätern entgegenzutreten. Es war immer dieselbe Leier: Berühmte und einflussreiche Männer wurden an den Pranger gestellt, weil sie Frauen und Mädchen in ihrem Umfeld grauenhaft behandelten. Die Bezichtigungen hatten für Opfer wie Täter entsetzliche Folgen.
Als Journalistin und Aktivistin habe ich das oft erlebt. Ich habe es in der anarchistischen Szene beobachtet, in der marxistischen Linken, in Schulen und Hochschulen, in der Occupy-Bewegung, in Geek- und Gamer-Gruppen, in Gewerkschaften, in der Tech-Branche, bei Sicherheitskräften, in der Literaturszene, in der Hotellerie und in der Pornofilmbranche. Und jedes Mal empfanden es die entsprechenden Kreise als große Schande, sich eingestehen zu müssen, was doch eigentlich alle schon gewusst hatten.
Wenn sich eine Community mit ihren Missbrauchstätern auseinandersetzen soll, läuft das darauf hinaus, dass sie sich mit ihrer eigenen Doppelmoral und Mitschuld auseinandersetzen muss. Das ist eine höchst unerfreuliche Aufgabe. Die meisten Menschen ziehen, wenn sie die Wahl haben, Komfort und Bequemlichkeit der kritischen Selbstbetrachtung vor; man darf die Kraft der Trägheit nicht unterschätzen. Frauen, die ein ums andere Mal ins Abseits gedrängt wurden, weil alle anderen beschlossen haben, ihr Mitgefühl doch lieber den Tätern zu schenken, kann solche Untätigkeit monate- und jahrelang traumatisieren.
Lieber gehen wir davon aus, Frauen und Mädchen seien an sexuellen Übergriffen irgendwie selbst schuld, als dass wir die gefährliche Aufgabe anpacken, etwas zu verändern – gefährlich, weil das für mächtige Männer tendenziell unbequem werden kann. Über diesen Punkt streite ich mich immer wieder leidenschaftlich mit einer älteren Verwandten. Sie meint, Opfer sexueller Übergriffe hätten sich einfach besser vorsehen müssen, und ich vermute, sie glaubt das, weil ihr die Annahme, dass es hier überhaupt so etwas wie eine Wahl gäbe, Trost und ein Gefühl der Kontrolle spendet. Denn die Alternative ist schlimmer. Die Alternative ist, dass sie nichts tun kann, um es zu verhindern, und infolgedessen auch nichts tun kann, um ihre Töchter, Enkelinnen, Freundinnen und sich selbst zu schützen. Wenn wir uns mitschuldig an unserer eigenen Belästigung machen, können wir das Trauma leichter verdrängen, verhindern allerdings, dass wir uns ihm stellen. Deshalb leben wir in einer Welt, in der Frauen von denen, die sie lieben, zu ihrer eigenen Sicherheit davon abgeraten wird, nachts allein auf die Straße zu gehen. Das ist unsere Entscheidung, und wir treffen sie als unabhängige Frauen zu unserem eigenen Wohl, um das Risiko einer Vergewaltigung zu verringern. Aber das ist keine sexuelle Freiheit. Das ist etwas anderes.
Solange Mädchen zu Wegwerfartikeln gemacht werden, kann es keine sexuelle Freiheit geben. Und das geschieht immer wieder, sei es an Hochschulen oder in Kleinstädten, wo Highschool-Footballspieler wie kleine Könige auftreten, oder in Hotelzimmern sämtlicher Länder auf allen Kontinenten. Sei es in ihrem eigenen Zuhause oder im Internet: Mädchen sind dazu da, dass man sie benutzt und wegwirft, wenn sie lästig fallen. Mädchen sind die Spucknäpfe für die Selbstverachtung, die Jungs nicht runterschlucken wollen. Mädchen sind dazu da, das Haus zu putzen. Mädchen räumen die Spuren seiner Schande weg. Und das Schlimmste, was sie tun können, ist, diese Rolle des stummen Werkzeugs zu verweigern.
Mädchen, die aussprechen, was ihnen nach der Party, nach dem Interview, nach dem Fußballspiel widerfahren ist, müssen davon ausgehen, dass sie für das Verbrechen, das an ihnen begangen wurde, bestraft werden. Dass sie in der Schule gedemütigt und geächtet, in ihrer Clique, später in ihrem beruflichen Umfeld ausgegrenzt werden. Er hat einen Fehler gemacht, sie wird dafür ausgelöscht. Er war betrunken, da konnte er ja nicht wissen, was er tat. Sie war betrunken, sie hätte es wirklich besser wissen müssen. Sie hat Unruhe gestiftet, sie war anstrengend, sie hat es ihm wahrlich nicht leicht gemacht, sie ist eine Lügnerin oder eine Schlampe oder beides. Es ist gar nicht passiert, und wenn doch, ist es nicht wichtig, denn er hat ja noch seine ganze Zukunft vor sich, und sie ist nur ein Mädchen.
Sexuelle Übergriffe sind die Sprache der Mädchenjahre. Sexuelle Gewalt durch Männer ist für heranwachsende Mädchen eine fast schon universelle Erfahrung, aber deshalb ist sie noch lange nicht in Ordnung oder normal. Sexuelle Gewalt ist nicht normal, wird aber normalisiert, und zwar bewusst und brutal.
Dieses Trauma beeinflusst unser kollektives Verständnis von Gender und Macht, und es wird nicht »besser«, wenn wir dem Mädchenalter entwachsen. Das Gewalt- und Schweigeritual spielt sich in jeder von Macht geprägten Branche und Institution ab.
Es reicht bei weitem nicht aus, lediglich der sexuellen Gewalt Einhalt zu gebieten, auch wenn das schon mal ein Anfang wäre. Das Kaninchenloch der Rape Culture und der Misogynie reicht viel tiefer, als wir es uns vorstellen mögen. Menschen erschaffen überdimensionierte Monster, damit sie sich der täglichen Monstrosität zu Hause, in der Schule, in der Community nich...