Die Himmelsstürmerin
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Die Himmelsstürmerin

Chinas Staatsfeindin Nr. 1 erzählt aus ihrem Leben

  1. 488 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Die Himmelsstürmerin

Chinas Staatsfeindin Nr. 1 erzählt aus ihrem Leben

Über dieses Buch

Chinas bekannteste Dissidentin, Rebiya Kadeer, war einst die einflussreichste Frau im Reich der Mitte. Nach einer beispiellosen Karriere begann sie schließlich ihre politische Macht zu nutzen und sich für die Rechte der Uiguren in ihrem Land einzusetzen. Das Regime rächte sich, indem es sie fünf Jahre ins Gefängnis brachte, wo die Zeugin von Folter, Vergewaltigungen und Hinrichtungen wurde. Nach ihrer Haftentlassung gelang ihr die Ausreise in die USA, von wo sie ihren leidenschaftlichen Kampf für die Menschenrechte weiterführt.

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Gefangen:
Die langen Jahre hinter Gittern

Ein verhängnisvolles Treffen mit der US-Delegation

In Washington wurde Sidik als Zeuge über die Menschenrechtslage in unserem Land vor den Weltkongress der Uiguren geladen. In Ürümqi war ich damit beschäftigt, Dokumente über Menschenrechtsverletzungen in Ostturkestan zusammenzustellen. In den Jahren 1996 bis 1999 hatten die Zeitungen viel darüber veröffentlicht, was sich in Xinjiang unter dem Einfluss der chinesischen Regierung verändert hatte. Diese Artikel, unter anderem in der Abendzeitung von Ily und der Tageszeitung von Kashgar, stellte ich zusammen. Die Kopien wollte ich mit der Post an Sidik schicken, aber die Sendung wurde abgefangen.
Eines Abends erfuhr ich von meinem Mann, dass sich demnächst eine Delegation des US-Kongresses in Ürümqi aufhalten werde. Sofort habe ich gemeinsam mit Ramila versucht, die Liste mit den Namen der Ermordeten und Vermissten aus Ily zu rekonstruieren.
Kurz darauf, am 6. August 1999, meldete sich eine Abgeordnete des amerikanisches Kongresses bei mir, die mich mit anderen Vertretern ihres Landes treffen wollte. Ich packte die Kopien der Zeitungsartikel in eine Handtasche und machte mich zusammen mit meiner Assistentin Ramila und mit Alim, meinem Fotografen und Dolmetscher, auf den Weg nach unten. Eigentlich sollte uns ein Fahrer mit meinem Audi ins Hotel bringen, in dem wir uns mit der US-Delegation um 17 Uhr verabredet hatten, aber Kahar hielt uns davon ab. »Meine Mutter, wir haben gesehen, dass einige Leute vom Geheimdienst auf dein Auto aufpassen.«
Wir nahmen uns ein Taxi. Etwa zweihundert Meter vor der Hoteleinfahrt raste von vorne auf einmal ein großer Wagen direkt auf uns zu. Vielleicht hatten sie vor, mein Leben mit einem Autounfall einfach auszulöschen. Der Taxifahrer jedoch reagierte blitzschnell und riss das Lenkrad nach rechts herum. Das entgegenkommende Auto schlitterte mit voller Wucht direkt in das Fahrzeug hinter uns. Ein frontaler Zusammenstoß bei hoher Geschwindigkeit.
Mit einem schnellen Blick nach hinten erfasste ich, dass die Vorderseite dieses Kleinwagens völlig zerstört war. Aus dem offenen Fenster baumelte leblos eine Hand. Im nächsten Augenblick brüllte eine Stimme, dass wir aussteigen sollten. Von verschiedenen Seiten fuhren Männer in Zivil in schwarzen Autos auf uns zu. Niemand kümmerte sich um die sterbenden Insassen hinter uns. Die Kerle fuchtelten mit ihren Maschinenpistolen herum und verscheuchten die herbeigelaufenen Passanten: »In diese Richtung hier darf niemand kommen! Sonst werdet ihr sterben!«
»Sie werden uns töten«, schoss es mir durch den Kopf. Mit einem Satz hechtete ich über die Motorhaube des Autos hinter mir und versuchte zu entkommen. Auf der anderen Seite aber haben sie schon auf mich gewartet. Ich habe laut geschrien: »Ich bin Rebiya Kadeer! Gibt es Uiguren hier?« Zwei oder drei Landsleute, die aufgrund der Straßensperre angehalten hatten, stiegen aus den hinteren Autos aus. Augenblicklich wurden sie von einer Gruppe Bewaffneter umstellt. Sie verhafteten alle, die mich gesehen hatten.
Aus den Augenwinkeln sah ich einen Jungen davonrennen. Ich schrie ihm zu: »Ich bin Rebiya Kadeer! Sage allen, dass ich festgenommen worden bin!« Ich wollte nicht einfach spurlos verschwinden. Ihm hefteten sich fünf Polizisten an die Fersen. Aber sie waren zu langsam, denn der Junge konnte die Nachricht verbreiten, dass ich inhaftiert worden war.
Ich habe mir weiter die Kehle aus dem Hals geschrien: »Sie wollen mich festnehmen! Sie wollen mich festnehmen!« Da liefen die Uniformierten auf mich zu, zogen mich nach unten und pressten mir den Mund zu. Mehrere Arme schoben mich in ein Auto. Ramila entrüstete sich: »Anstatt Frau Rebiya Kadeer zu schlagen, sollten Sie lieber mich nehmen.« Im nächsten Moment streckte sie einen großen Polizisten mit der Faust nieder. Sie konnte zuschlagen wie ein Mann. Noch viermal hintereinander warf sie den Angreifer zu Boden. Fünf Kerle machten dem ein Ende, sie stürzten sich von allen Seiten auf meine Assistentin. Alim stand mit hängenden Armen da. Sie schleppten den Willenlosen wie eine Puppe weg.
Nach einer kurzen Autofahrt brachte man uns drei ins Verkehrsamt von Ürümqi. Das ganze Gebäude war wie leer gefegt. Alles schien auf unser Eintreffen vorbereitet zu sein. In einem Büro beschuldigte mich einer der Vorgesetzten, den Verkehrsunfall verursacht zu haben. Ich habe nur aufgelacht. Da hielt mir ein anderer Kerl eine kleine Tüte mit weißem Inhalt vor die Nase, der wie Waschpulver aussah, und sagte: »Wir haben Sie auch deshalb festgenommen, weil Sie im Drogenhandel tätig sind.«
Ramila machte sich über sie lustig: »Das wird Ihnen kein Mensch da draußen abnehmen.« Die Uniformierten befahlen ihr zu schweigen. Schließlich entrissen sie uns die Handtaschen, entnahmen daraus alle Unterlagen und führten Ramila sowie Alim in ein Nebenzimmer. Drei Tage später würden die beiden wieder auf freiem Fuß sein.
Durch ihre Freilassung hofften die Behörden, mehr über mich herauszufinden. Sie stellten Ramila nach. Später haben sie meine Assistentin noch einmal verhaftet. Sie kannte viele Leute, die sich im Widerstand für Menschenrechte und die Befreiung Ostturkestans engagierten, und ich habe mir Sorgen gemacht, ob sie das während der strengen Verhöre für sich behalten könnte. Ich bewundere Ramila: Falls sie diese Personen verraten hätte, wären sie längst inhaftiert worden und mit ihnen noch einmal dreihundert andere, die in Kontakt zu ihnen standen. Ein paar Monate darauf hat sich meine Assistentin mit ihrem Mann ins Ausland abgesetzt. Ihren neunjährigen Sohn und ihre zwölfjährige Tochter wollten die beiden nachholen. Aber die Regierung hat die Kinder als Faustpfand einbehalten.
Ich saß alleine im Raum des Verkehrsamtes. Eine chinesische Frau kam herein und drückte mir plötzlich ein Tuch auf den Mund. Ich wollte mich wehren, aber alles ging so schnell. Ich habe sofort mein Bewusstsein verloren.

Die Inhaftierung: »Baodao!«

Während ich ohnmächtig mit zur Seite gekipptem Kopf und offenem Mund auf dem Stuhl alle viere von mir streckte, knöpften sie meine Bluse auf, rollten den Briefumschlag mit den Zeitungsartikeln zusammen und steckten ihn mir unters Unterhemd. All das wurde mit einer Videokamera aufgezeichnet. Es sollte so aussehen, als ob ich die Dokumente heimlich dort versteckt gehabt hätte. Um mein Ansehen zu beschädigen, wurden diese Aufnahmen auch im Fernsehen gezeigt.
Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem Zustand gewesen bin. Noch halb benommen kutschierten mich andere Männer in Zivil zu einem Hotel. In einem Zimmer befahlen sie mir: »Sie müssen jetzt diese Unterlagen unterschreiben. Wir werden Sie festnehmen.« Mein Kopf begann langsam wieder klarer zu werden. »Ich habe keinen Fehler gemacht«, rechtfertigte ich mich und massierte mir mit beiden Händen die Schläfen.
Der Finger eines Polizisten zeigte auf die Zeitungsartikel. »Und was ist mit diesen Staatsgeheimnissen, die Sie bei sich hatten?« – »Das verstößt nicht gegen das Gesetz«, entgegnete ich, »das sind ganz normale Unterlagen und Zeitungsausschnitte. Ich habe nur versucht, die Probleme meines Volkes aufzuzeichnen und alles im Ausland bekannt zu machen.« Doch sie blieben dabei, dass ich einen Gesetzesverstoß begangen hätte.
»Nein«, widersprach ich ihnen, »ich habe in meinem Leben, vor Gott, niemals eine Sünde begangen und gegen die Gesetze verstoßen. Ich werde nicht unterschreiben.« Mit verkniffenen Mündern gaben sie auf. »Gut, wenn Sie nicht unterschreiben, macht das auch keinen Unterschied.«
Es war dunkel. Ein Konvoi von etwa 30 Autos begleitete uns ins Gefängnis. Vor und hinter unserem Auto zwei Lastwagen, die Ladefläche besetzt mit schwer bewaffneten Soldaten. An der Spitze und am Ende drei Polizeiwagen mit Blaulicht und heulender Sirene. Jetzt würden sie mich fertigmachen, davon war ich überzeugt. Was für ein großer Feind ich für diese Menschen geworden war. Mir ging durch den Kopf, was Sidik mir aus seiner Gefängniszeit berichtet hatte. Ich werde noch Schlimmeres durchmachen, dachte ich. Aber ich war bereit dazu. Jetzt musste ich den Kampf durchstehen.
Das Gefängnis Liudaowan, in dem auch Turdschan im Männertrakt eingesessen hatte, war gemeinhin wegen schwerer Folterungen an Gefangenen bekannt. Man sollte dort sterben oder verrückt werden. Ich musste aussteigen. Ein hohes schwarzes Eisentor ragte vor mir in die Höhe. Zu beiden Seiten standen zwei Polizeiwachen stramm.
Das große Tor öffnete sich quietschend. Als ich einen Schritt nach vorne setzte, schrie einer der chinesischen Wächter mir etwas Unverständliches zu. Erschrocken zog ich meinen Fuß wieder zurück. Von hinten aber schoben sie nach: »Gehen Sie weiter!« Als ich mich erneut in Bewegung setzte, tobte dieser Wachposten wie ein Irrer. Ich sagte zu den Uniformierten hinter mir: »Es passt hier jemandem nicht, dass ich eintreten will.«
Die Polizisten erklärten mir, dass ich vor dem Eintreten laut »Baodao!« (»Anmelden!)« rufen müsse. Ich weigerte mich aber, das zu tun. Mindestens 30 Minuten blieb ich deshalb vor der Tür stehen. Der chinesische Posten fuchtelte wild mit seiner Maschinenpistole herum und seine sich überschlagende Stimme gellte mir in den Ohren. Oben auf dem Turm standen zwei Wachen an einem Maschinengewehr, die ebenfalls schrien. Dieser Krach setzte mir zu. Ich äffte sie nach und stieß ein ähnlich grelles Geräusch aus, was die Posten noch wütender machte.
Von oben und unten umhüllte mich ein einziges Getöse. Sie erlaubten mir nicht einzutreten. Da fing ich an zu lachen. Den Polizisten hinter mir ärgerte meine Sturheit: »Warum lachen Sie denn jetzt auch noch?« – »Sie sagen, dass ich hineingehen soll. Aber er sagt, dass ich nicht hineingehen darf.« Der Beamte hinter mir verlangte zornig von den Wachen, dass sie mir endlich die Erlaubnis geben sollten, das Gefängnis betreten zu dürfen. Aber der Posten am Eingang versteifte sich auf seine Vorschriften: »Nein, das geht nicht! Sie muss ›Baodao!‹ rufen. Ich werde sie sonst erschießen!« Meine Begleiter griffen mit düsterer Miene zum Handy.
Alle Polizisten aus den 30 anderen Autos hatten sich mittlerweile um uns herum versammelt. Ein uigurischer Polizeichef bahnte sich den Weg nach vorne. Die Gefängniswärter begrüßten ihn mit zusammengeschlagenen Hacken und Hand an der Stirn. Sie besprachen etwas miteinander. Anschließend forderte mich jener Vorgesetzte höflich auf: »Sie müssen ›Baodao!‹ sagen.« – »Nein, das sage ich nicht.« – »Sie können es auch ganz leise sagen, sodass nur ich es hören kann«, versuchte er es auf Umwegen. »Ich kann das nicht«, widersprach ich, »wenn Sie mich nicht da hineinbringen können, dann bringen Sie mich wieder nach Hause.« Da befahl der Mann mit schneidender Stimme den Wachen: »Öffnet jetzt sofort das Tor!«
Mit wutverzerrten Gesichtern führten die Wachhabenden den Befehl aus. Doch kaum war ich drei Schritte gegangen, jaulte einer der nächsten Posten laut auf. Der Polizeichef hinter mir bettelte mich an: »Sie müssen ›Baodao!‹ sagen.« – »Nein, das sage ich nicht.« – »Jetzt sind Sie doch schon im Gefängnis, jetzt müssen Sie das sagen.« – »Nein, ich werde das niemals sagen.« Die Gefängniswärter knirschten mit den Zähnen. »Wir werden Sie hart bestrafen.« Der Polizeichef aber wies die beiden in ihre Schranken: »Sprecht nicht so viel!«
Die Wände vor mir waren aus schwarzem Beton. Ich ging weiter durch eine Tür hindurch. Hinter meinem Rücken hörte ich die aufgeregt schimpfenden Stimmen der Wächter. Eine Uniformierte in einer verglasten Kammer streckte die Hand aus. Wie alle Beamten im Gefängnis trug sie eine dunkelblaue Uniform. Ein paar Meter weiter in einem Nebenzimmer wurde ich durchsucht. Meine Kleidung durfte ich anbehalten.
Unmittelbar nach meiner Festnahme hatten Beamte aus meiner Wohnung eine Bettdecke und ein paar Lebensmittel für mich geholt. Meine Kinder erfuhren auf diese Weise, dass ich verhaftet worden war, aber sie wussten nicht, in welches Gefängnis ich gebracht worden war. Vor mir am Boden sah ich meine Sachen liegen. »Trag das!«, befahl mir eine Beamtin. »Nein, ich kann das nicht tragen«, sagte ich. »Dann werden sie dich windelweich prügeln.« – »Sie können mich ruhig schlagen«, sagte ich. Mir war alles egal. Nur meinen Stolz ließ ich mir nicht brechen.
Da schnellte eine andere Wärterin auf mich zu. Ihr Name war Ye. Ihre beiden gelben Vorderzähne standen wie bei einer Ratte nach vorne ab. »Nimm deine Sachen!«, knurrte sie. »Nein, ich werde das nicht tun.« Da schrie sie so laut, dass mein Trommelfell bebte: »Nimm das!« Ich blieb still stehen. Erneut wiederholte sie auf Chinesisch: »Ich werde es dir noch einmal sagen. Nimm das!« Ich antwortete nicht. Als sie mir eine Ohrfeige verpassen wollte, zog der Polizeichef sie nach hinten weg. Nachdem die beiden miteinander gesprochen hatten, holten sie eine andere Gefangene herbei.
Diese Frau, die meine Sachen tragen sollte, war eine Uigurin. Sie hatte mich auf den ersten Blick erkannt und fing gleich an zu weinen, weil sie mich an so einem traurigen Ort sah. Ich bückte mich und nahm ihr einen Teil ab. Die Züge der Wärterin waren in einem Ausdruck tödlicher Bitterkeit erstarrt. »Sieh mal an, wie stark sie ist!« Und die uigurische Gefangene flüsterte mir zu: »Nein, Frau Kadeer. Lassen Sie! Ich werde das alleine tragen!« Als ich durch die nächste Tür treten wollte, stürzte erneut eine Uniformierte wie ein Geier auf mich zu: »Sag ›Baodao!‹!« – »Nein, ich werde das nicht sagen.« Im gleichen Moment kamen von hinten der Polizeichef und Ye nach und beruhigten sie: »Ist gut. Lass sie passieren!«
Die Sprache im Gefängnis musste ich erst noch lernen. »Baodao!« sagte man, bevor man jemanden ansprechen oder irgendwo eintreten wollte. Erst wenn das Gegenüber »Sprich!« oder »Komm rein!« antwortete, durfte man das Gewünschte mit den Händen hinterm Kopf tun. Rief ein Wächter nach einem Gefangenen, antwortete dieser mit »Dao!«. Das hieß so viel wie »Hier!«.

58 Regeln für Gefangene

Die Nachricht von meiner Inhaftierung verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf dem Gefängnisflur, sobald die Eisentür meiner Zelle hinter mir ins Schloss gefallen war. Die Glühbirne an der Decke der Zelle war herausgeschraubt. Der Raum war etwas größer als 15 Quadratmeter. Man hatte die Zelle extra für mich frei geräumt. Sonst hätten hier bis zu 20 Gefangene Platz gefunden. Anscheinend nahmen sie mich sehr wichtig.
Der Toilettenplatz in der Ecke war nichts weiter als ein Loch und daneben ein kleiner Schlauch, um die Fäkalien wegzuspülen. Die Wände waren feucht, grün und bröselig. An einer Seite des Raumes befand sich als Schlafplatz ein etwas erhöhter Mauervorsprung. Ich hörte Stimmen vor der Tür. Schlüssel drehten sich im Schloss. Eine chinesische und eine uigurische Gefangene traten ein.
Ich breitete meine Decke auf dem Beton aus und legte mich darauf. Die Uigurin neben mir schwatzte so viel Belangloses aus ihrem Leben, dass ich davon Kopfschmerzen bekam. Die Chinesin machte sich Notizen auf einem Block, als ich den Kopf zur Seite d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorwort, April 2009, Dalai-Lama
  7. Prolog
  8. Ein großes Spiel und ein falsches Versprechen
  9. Vertreibung in die Wüste
  10. Fernab der Heimat: Eine kurze Kindheit und Jugend
  11. Die Große Proletarische Kulturrevolution 1966 bis 1976: Traditionen werden zerstört, Beziehungen zerschlagen
  12. Not macht erfinderisch: Von der Waschfrau zur Millionärin
  13. Eine große Liebe und ein großes Ziel
  14. Hehre Ziele, hohe Gewinne und herbe Verluste
  15. Wege entstehen dadurch, dass man sie geht: Neue Perspektiven als Geschäftsfrau und Politikerin
  16. Bildteil
  17. Nur wer sich nicht beugt, lernt aufrecht zu gehen
  18. Die Dinge beim Namen nennen: Mafia, Morde und andere Missstände
  19. Kampagne »Hart zuschlagen«: Die Lage spitzt sich zu
  20. Mut verleiht Flügel: Wir alle brauchen den Frieden
  21. Gefangen: Die langen Jahre hinter Gittern
  22. Politische Umerziehung: Über die hohe Moral der Kommunistischen Partei
  23. »Ich werde herauskommen wie ein Adler«
  24. Dank
  25. Nachwort Alexandra Cavelius
  26. Die Autorinnen