Unvollkommen wertvoll
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Unvollkommen wertvoll

Warum meine Schwäche sein darf

  1. 224 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Unvollkommen wertvoll

Warum meine Schwäche sein darf

Über dieses Buch

Gott hat ein uneingeschränktes Ja zu uns, ganz und gar. Und wie ist das bei uns? Können wir so sein, wie wir wirklich sind, inklusive innerer Verletzungen, Ängste und Schwächen - manches würden wir lieber verdrängen, oder? Es liegt eine große innere Freiheit darin, die Abhängigkeit von Gott als unser ganzes Glück zu erfahren. Denn seine Stärke wird in unserer Schwachheit vollkommen. Was für ein Geheimnis, wenn in der Tiefe unseres Herzens die Wahrheit ankommt: "Ich bin wertvoll, unvollkommen und wertvoll!"

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Information

Jahr
2021
ISBN drucken
9783417269390
eBook-ISBN:
9783417270020

Kapitel 1

MEIN DILEMMA

In diesem Kapitel berichte ich, wie mir mein Zustand der Überforderung und meine Herzensabgründe bewusst wurden. Ich beschreibe mein Erschrecken über mein Lebensmotto: »Stark sein und leisten müssen« und erste Schritte in unbekanntes, neues Land.
Vor ungefähr fünf Jahren wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich trotz jahrzehntelanger Jesus-Nachfolge immer noch getrieben und häufig gestresst lebte. Immer wieder war alles »zu viel«. Wann war genug wirklich genug? Ich wusste es oft nicht und folgte daher innerlich öfter der Stimme: »Ach, das schaffst du noch! Stell dich nicht so an!« Zeitgleich gab es in meinem privaten Umfeld und in der Gemeindeleitung besondere Herausforderungen, die mich über lange Zeit enorm forderten.
Immer häufiger musste ich SOS-Gebete loswerden: »Herr, hilf mir! Ich schaffe es nicht.« Und Gott erhörte meine Gebete und half. Ich erlebte die Führung und Kraft Gottes in dem, was eigentlich zu viel für mich war. Und das über Monate. Doch das bemerkte ich damals nicht. Ich bekam nicht mit, wie es mir in der Tiefe wirklich ging.
In diesem Zustand machte ich mich zu einer Kurswoche für werdende geistliche Begleiter und Begleiterinnen im Haus der Stille auf. Am ersten Abend sollten wir mit Mosaiksteinen in verschiedenen Farben unser aktuelles Ergehen darstellen. Ich wählte Orange, Rot, Gelb … Denn ich erlebte ja Freude und Kraft – inmitten der Herausforderungen! Da war viel Segen!
Am nächsten Morgen wurde es stiller in mir und dann fing ich an zu weinen und hörte zwei Tage nicht mehr damit auf. Die Tränen liefen unaufhörlich. Ich stand wie neben mir und dachte: »Was ist denn nur los? Warum weine ich?« Ich konnte es nicht sagen, sondern bemerkte nur: Ich weinte immer weiter. Da saß ich beim Mittagessen und spürte tiefen Trost darüber, dass jemand für mich gekocht hatte und mir diente – und meine Wangen wurden feucht. Ich setzte mich auf die Schaukel im Garten des Stillehauses und wollte nur noch dasitzen und nichts tun, während weiter die Tränen liefen. Beim Beten des Herzensgebets spürte ich tiefen Trost darüber, dass ich »nur so dasaß und nichts tat« und Jesus mich anrührte.
Ich konnte mein Erleben zunächst nicht einordnen, weil ich zwar weinte und doch gleichzeitig in meinem Inneren Wohlsein spürte. »Wie passt denn das zusammen?«, fragte ich mich. Dass ich ein kompliziertes Wesen bin, weiß ich schon lange. Und Seelenvorgänge zu verstehen, gehört eigentlich mit zu meinem Beruf als Beraterin und Supervisorin. Doch meine eigenen Regungen konnte ich nicht deuten. Während eines Spaziergangs kamen mir Worte von Psalm 23 in den Sinn: »Er erquicket meine Seele.« Und da wusste ich plötzlich: »Genau das ist es, was ich erlebe. Meine Seele wird gerade erquickt. Ich werde lebendig in Tiefen, die sich erst in der Stille zeigen, nicht im Alltag. Jesus spricht mir liebevoll Worte in meine ermattete Seele hinein. Ja, nun verstehe ich es: Ich bin ermattet! Ich bin völlig fertig! Oder … bilde ich mir das nur ein? Ist es gar nicht so schlimm?«
Doch die Signale meines Körpers waren eindeutig – die Tränen, die unaufhörlich liefen. Die bildete ich mir nicht ein. Ich dachte an Worte von Johannes vom Kreuz: Gottes Sprache ist seine Wirkung in der Seele.4
Wie gut war es, hier im Haus der Stille einen Ort zu haben, wo ich mir erlaubte, ehrlich zu sein und auch meine Schwäche und Bedürftigkeit zuzulassen. Und so bat ich um ein Gespräch mit der Kursleiterin. Diese hörte mir zu und sagte: »Birgit, du hast über lange Zeit viel gegeben. Du hast Kraft gelassen, viel Leid gehört, und das sitzt dir in den Knochen. Nun darfst du loslassen und es zulassen, selbst erquickt zu werden.«

Nichts mehr zu holen

Am nächsten Morgen absolvierte ich wie alle anderen Kursteilnehmenden auch eine halbe Stunde Mithilfe in Haus und Hof. Diesmal war es meine Aufgabe, das Laub um einen römischen Brunnen herum aufzukehren. Das tat ich für einige Minuten, dann zog mich der Brunnen in seinen Bann. Ich hörte auf zu kehren, hielt inne und schaute auf das übersprudelnde Wasser, das vom oberen Becken ins nächsttiefere floss. Dann traf mich unvermittelt die Botschaft: Bei diesem Brunnen floss nur das ins nächste Becken, was übersprudelte. Das obere Becken aber blieb gefüllt, weil es ebenfalls einen Zufluss hatte: Es empfing Wasser und gab Wasser ab und blieb gefüllt. Es war ein Empfangen und ein Abgeben, ein Empfangen und ein Abgeben. Wenn das obere Becken nur halb voll oder gar leer wäre, würde nichts weiterfließen.
Und dann traf mich die Erkenntnis: Ich selbst fühlte mich derzeit so, als wäre mir durch ein Abflussrohr jedwedes Wasser, jede Lebendigkeit entzogen. Mein Wasserbecken war ja völlig leer und ausgetrocknet! Gleichzeitig erinnerte ich mich an eine Frage, die mir meine Gebetspartnerin vor Kurzem gestellt hatte: »Birgit, möchtest du nicht mal ein Sabbatjahr machen?«
Einige Leute unseres Gemeindeleitungsteams hatten schon Sabbatjahre oder -halbjahre hinter sich bzw. waren gerade mittendrin. Ich hatte andere immer ermutigt, das zu tun! Denn ich wusste, wie gut ihnen eine solche Auszeit tun würde. Es gehört zu den Werten unserer Gemeinde, dass lieber Aufgaben brachliegen, als dass sich Mitarbeitende im Dienst für Gemeinde und Jesus verausgaben und einen Burn-out erleiden. Aber ein Sabbatjahr für mich? »Nein, ich brauche das nicht«, hatte ich ihr geantwortet. »Mir geht es gut!«
In den nächsten Stunden verfolgte mich diese Frage: Sollte ich vielleicht doch eine Sabbatzeit nehmen? War das, was ich gerade erlebte, vielleicht Gottes Führung? Wollte er mich liebevoll darauf hinweisen?
Doch immer wieder schien allein der Gedanke daran eine Zumutung zu sein. Warum? Weil er sich für mich nach Faulsein anfühlte, danach, mir etwas nehmen zu wollen, was mir nicht zustand, nach großer Unzulänglichkeit, einem Eingeständnis von Schwäche, Egoismus. Zwar dachte ich noch öfter darüber nach, aber immer wieder stand am Ende der Entschluss: »Nein, ich mache kein Sabbatjahr! Ich ruhe mich jetzt hier aus und dann geht es schon wieder! Stell dich nicht so an! Denk doch daran, was du am Eingangstag erzählt hast: wie du erlebst, dass Gott dich zu seiner Ehre gebraucht, und wie sehr du darüber staunst! Bleibe dabei und nicht bei dieser blöden Schwäche!«
In dieser Nacht träumte ich, dass ich in einem Supermarkt einkaufen gehen wollte. Als ich den Laden betrat, wunderte ich mich, dass die Regale völlig leer geräumt waren. Hier war nichts mehr zu holen. Nur vor der Kasse stand noch ein kleiner Korb mit edler Schokolade. Ein Verkäufer kam auf mich zu und meinte: »Wir schließen jetzt gleich.«
Nachdenklich wachte ich auf. Die Botschaft dieses Traums schien so klar zu sein: Bei mir war nichts mehr zu holen und ich sollte meinen Laden für einige Zeit schließen.
Nun gehörte es zu dem Kursgeschehen, dass wir immer wieder Übungsrunden in geistlicher Begleitung miteinander durchführten. Eine begleitete die andere in Anliegen, für die sie Klärung und Gottes Führung brauchte, in der Erwartung, dass der Heilige Geist uns dabei leiten und Einsichten schenken würde. Es kostete mich große Überwindung, meine Frage als Thema einzubringen. Auch wenn ich eigentlich Gottes Willen für mein Leben erkennen und ihm folgen möchte, fällt es mir im konkreten Fall jedes Mal sehr schwer, die Kontrolle darüber, wie sich etwas entwickelt, aus der Hand zu geben. Doch nach der kurzen Übungseinheit spürte ich in meinem Herzen plötzlich eine große Klarheit: Ja, ich würde in eine Sabbatzeit gehen. Das war der Weg, den Gott mich führte. Vor allem Dienst und vor aller Aktion musste ich mein inneres Leben mit Christus schützen! Ich wollte wieder von innen her sprudeln für Jesus, als Birgit, in meinem Sein.
Ich würde für ein halbes oder ganzes Jahr die Gemeindearbeit ruhen lassen und meine berufliche Tätigkeit auf die Hälfte reduzieren. Ich würde alles, was ich ohne Schaden für andere absagen konnte, absagen. Einmal die Woche würde ich mitten in der Woche einen Sabbatzeit-Tag haben. Und dieser Tag hätte nur eine Überschrift: nichts müssen! Keine Pläne. Kein Zweck. Kein Ziel. Einfach sein. Unverzweckt.
Gott gab dem Volk Israel das Sabbatgebot als Wohltat für die Menschen. Damals war es eine Revolution, einen Tag in der Woche nicht arbeiten zu müssen. Selbst Sklaven, die damals keine Rechte hatten, sollten am Sabbat frei haben und »nichts müssen« (2. Mose 20,8-11). Gott selbst hatte in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1-2) am Sabbat nach sechs Schöpfungstagen geruht. Der Mensch, der am sechsten Tag geschaffen wurde, begann sein Leben nicht mit Arbeit, sondern mit diesem »Nichts müssen«-Tag: dem Sabbat. Und das, obwohl er keine sechs Arbeitstage hinter sich hatte. Es scheint, als wolle Gott uns Menschen damit sagen: »Die Grundlage eures Lebens ist Gnade und Geschenk, nicht euer Verdienst. Lebt aus dieser unverdienten Gnade und nicht aus eurer Leistung!«

Im Leistungsentzug

Mit diesem Entschluss fuhr ich nach Hause und teilte ihn umgehend meinen Leuten im Leitungsteam mit. Zwei Monate später, nach Weihnachten, würde mein Sabbatzeit beginnen.
Während ich in den nächsten Wochen alles regelte, wechselten sich Vorfreude und Ängste ab oder waren sogar gleichzeitig da. Ich fühlte mich unsicher. Das freudige »Ja, mach das! Das ist gut! Wir unterstützen dich!« meiner Mitgeschwister in der Gemeinde erfreute mich einerseits, andererseits stutzte ich darüber, dass keiner sagte: »Du, meinst du wirklich? Ob wir das ohne dich hier alles schaffen?«
In der Vorweihnachtszeit traf sich ein Projektchor. Wir sangen einfache mehrstimmige Weihnachtslieder, alte und neue. Das Singen ließ mich aufleben und jedes Mal ging ich beschwingt nach Hause. Schon als Vierjährige hatte ich mit meinem Bruder auf der Stockbettleiter gesessen und zweistimmig Lieder gesungen. Es waren Zeiten gewesen, in denen mein Vater, langjähriger Chorleiter seiner Gemeinde, ganz präsent gewesen war. Musik war immer Teil meines Lebens gewesen, doch später war dafür kein Raum mehr.
An unserem letzten Chorabend überkam mich die unglaubliche Idee: Ich nehme in meiner Sabbatzeit wieder Klavierunterricht. Einfach so für mich! Der Chorleiter, auch Klavierlehrer, sagte zu. Eine wunderbare Fügung.
Mit Weihnachten begann meine Sabbatzeit mit drei völlig arbeitsfreien Wochen. Nachdem die Kinder und Schwiegerkinder wieder abgefahren waren, fiel es mir unendlich schwer, keine Projekte zu haben, die meinem Leben Struktur gaben. Oft konnte ich mit der vielen Freizeit nicht umgehen. Und manchmal fiel ich in ein tiefes Loch und fühlte mich innerlich verloren. An einem Tag war ich so verzweifelt, dass ich alle Gardinen abhängte, wusch und wieder aufhängte.
Im neuen Jahr besuchte ich wie immer die Gottesdienste meiner Gemeinde. Ich merkte, dass alles gut weiterging: Predigten, die Gottesdienstleitung, die Programme in der Woche. Sollte ich nicht doch wenigstens im Segnungsdienst während der Gottesdienste mitbeten? Aber warum wollte ich da überhaupt mitmachen? Was trieb mich an?
Ich fühlte mich wie im Entzug: im Leistungsentzug und im Bestätigungsentzug durch andere. Keiner lobte mich mehr für eine gelungene Predigt oder bedankte sich für meine seelsorgerliche Hilfe.
Ich nahm diese verzweifelten Herzensregungen in mir wahr. Dann atmete ich ein und atmete aus. Ich gründete mich im Hier und Jetzt in Jesus und versuchte das zu tun, was ich bei den Glaubensvätern und -müttern in meiner Weiterbildung gerade lernte: nüchtern wahrnehmen, was wirklich ist. Und was war die nüchterne Sichtweise? Ich hatte über eine lange Zeit viel gegeben und mich eingesetzt. Und nun tat ich nichts. Dieser Wechsel fiel mir schwer. Und ich hatte für meinen hohen Einsatz von den Beteiligten und der Gemeinde viel Bestätigung erhalten. Ich war ja so wichtig gewesen! Und nun, wo dies wegfiel, wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich aus dem Gebrauchtwerden meine Lebensberechtigung gezogen hatte. Und die fiel nun weg. Das fühlte sich scheußlich an. Und doch: Zeigten nicht gerade diese inneren Regungen der Verzweiflung, wie wichtig diese Sabbatzeit war und werden würde? Denn Gottes Ziel für mich war ja die Freiheit und nicht das Abhängigsein von meinem Tun und meiner Wirkung auf andere.
Und so nahm ich während der Gottesdienste, in denen ich keine Aufgabe mehr hatte, mein Herz wahr. Und spürte dort Sorge und Angst, nicht mehr zu genügen. Wenn ich das merkte, stand ich auf und ging während der Lobpreiszeit zu den Leuten, die für diejenigen beteten, die es »nötig« hatten. Denn nun war ich es, die es nötig hatte. Und andere durften das sehen. Ich war eine Bedürftige, die Hilfe und Gebet brauchte. Ich sagte dem Segnenden: »Ich bin in meiner Sabbatzeit. Ich fühle mich wie in einem Leistungsentzug. Das Nichtstun fällt mir so schwer. Hier im Gottesdienst nichts beizutragen, fühlt sich ätzend an.« Wenn ich mich demütig dazustellte, fielen das Gebet und die Segnungsworte tief in mein bedürftiges Herz und richteten mich auf.
Ich erinnerte mich daran, dass Jesus die Worte: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken« (Matthäus 11,28) auf dem Marktplatz ausgesprochen hatte, wo jeder sehen konnte, wer denn da bedürftig zu diesem Jesus ging. Das waren schon damals keine Worte für das stille Kämmerlein gewesen, auch wenn ich mir das immer so vorgestellt hatte.
Ganz wunderbar und ganz schwierig gestalteten sich meine Sabbatzeit-Tage unter der Woche: die Dienstage. An diesen Tagen stand nur eines in meinem Kalender: nichts tun. Auch besondere Hausarbeit wollte ich an diesem Tag nicht erledigen. Ich, die ich immer genau vorausplante, also eher zwanghaft-diszipliniert bin, wollte aushalten und lernen, einfach mal »da zu sein«, auch wenn sich das für mich wie Faulsein anfühlte.
Eine Ausnahme machte ich, und das war der 14-tägige Klavierunterricht. Wie schön war es, wieder zu musizieren! Doch auch das war nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Da saß ich nun: eine 56-jährige Frau wie eine kleine Klavierschülerin unsicher vor sich hinklimpernd. Mein Klavierlehrer war sehr kompetent, einfühlsam und legte gar keinen Wert auf Leistung. Ich aber schon! Ich wollte richtig spielen, wollte es gut machen!
Und dann kamen seine Kommentare: »Birgit, hör auf, richtig spielen zu wollen! Leg mehr Gefühl in die Musik! Lass die Hände spielen und versuch nicht, das zu kontrollieren!« An schlechten Tagen bekam ich die Krise. Hatte ich das nötig? Warum tat ich mir das an?
An guten Tagen hörte ich die Kommentare, stöhnte innerlich oder äußerlich und versuchte, der Aufforderung nachzugehen. Und dann spürte ich plötzlich große innere Freude und Lebendigkeit, während meine Finger eine kleine Melodie spielten, die sie sich just in diesem Moment ausgedacht hatten. Ich genoss es und blieb so lange in der Freude … bis ich es wieder von außen beurteilte: »Das ist doch kindisch! Was soll denn das? Andere spielen viel besser als du.«
Wohin sonst zog mich mein Herz und die innere Lebendigkeit? Zum Stricken. Als Jugendliche und junge Erwachsene hatte ich mit Begeisterung gestrickt. Das lag nun 35 Jahre zurück. Schon immer hatte mich Wolle angelacht. Doch ich hatte mir gesagt: »Die Wolle ist so teuer wie eine neue Jacke. Das ist Zeit- und Kraftverschwendung – wozu stricken?« Doch an einem Dienstag wagte ich es: Ich radelte zu einem Strickladen meines Kölner Viertels und … blieb zwei Stunden dort. Ich setzte mich zu einigen Frauen, die auch dort strickten, blätterte in Strickzeitschriften, entschied mich für ein Modell und suchte mir Wolle für eine Jacke aus.
Auf der Heimfahrt bemerkte ich, wie fröhlich ich war. Es war dort einfach schön gewesen! Die nächsten Wochen über radelte ich immer mal wieder an meinen Sabbattagen dorthin. Der Ort wurde für mich zu einem »Nichts müssen«-Ort. Mehrmals trennte ich große Teile der Jacke wieder auf, Fehler hatten sich eingeschlichen. Dabei schnitt ich in die Wolle und musste flicken. Dennoch: Die Jacke wurde wunderschön und ich spürte Freude und Stolz.

In Jesus zu mir finden

Durch die viele freie Zeit kamen Themen und Wunden von früher wieder an die Oberfläche. Eine Schicht nach der nächsten. Wie gut war es in dieser Zeit, geistlich begleitet zu werden. Hier hatte ich den Raum, alle innere Not und Verzweiflung auszusprechen. Hier erlebte ich den Zuspruch und Trost Gottes in meine bedürftige Seele hinein.
In diesem Jahr brachen viele meiner Konzepte und Überzeugungen von geistlichem Wachstum zusammen: die Idee der stetigen Aufwärtsentwicklung, die Überzeugung, irgendwann schmerzliche Lebensthemen abgearbeitet und hinter sich gelassen zu haben. Ich hatte »innere Heilung« so verstanden, dass die Lebenswunden irgendwann bearbeitet und abgeheilt sein würden, sodass ich wieder stark und unabhängig leben und als geistlicher Christ zunehmend von Sieg zu Sieg schreiten würde.
Wie oft fühlte ich mich durch diese Denkweise wie ein absoluter Loser im Glauben. All diese Konzepte hielten meinem Leben nicht stand. Ich ging durch ein dunkles Tal, das jedoch immer wieder von hellem Licht durchflutet wurde: dem lebendigen, befreienden Licht des Evangeliums von Jesus und dem frischen Wind des Heiligen Geistes.
Ja, es ist möglich, jahrzehntelang diesem Jesus nachzufolgen und dennoch in den Mustern der eigenen Kultur verhaftet zu sein (in unserer westlichen Welt ist das die Leistungsgesellschaft) und in der Verblendung über die eigenen sündhaften Muster, der eigenen Egozentrik. Immer wieder ahnte, ja, wusste ich, dass Jesus und die Nachfolge anders sind, als ich jahrzehntelang geglaubt hatte. Und obwohl ich mich seit Jahren in einem intensiven Verwandlungsprozess befand, waren alte, hartnäckige Botschaften noch wirksam in meinem Leben.
Jean Vanier, der Begründer der weltweiten Arche-Bewegung, zu der auch der Autor Henri Nouwen gehörte, schrieb: »In jedem von uns gibt es etwas, das schon leuchtet, (das) schon bekehrt ist. Aber es gibt auch das (in uns)...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Stimmen zum Buch
  3. Haupttitel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Über die Autorin
  7. Ein Reiseführer – Vorwort von Uli Eggers
  8. Einführung
  9. Kapitel 1: Mein Dilemma
  10. Kapitel 2: Wie Gott uns Menschen gemacht hat
  11. Kapitel 3: Der Gott, der alles auf den Kopf stellt
  12. Kapitel 4: Vom inneren Richter, inneren Spiegel und Heiligen Geist
  13. Kapitel 5: Ganz in Gottes Gegenwart sein
  14. Kapitel 6: Unsere Kernverletzungen und Antreiber
  15. Kapitel 7: Tiefe Herzensklärung: lieben lernen konkret
  16. Kapitel 8: Über Geistliche Übungen, ein Körpergebet, Stille und eine Sabbatzeit
  17. Kapitel 9: Das Tor zur Fülle – über die Frucht, die entsteht
  18. Kapitel 10: Auf dem Weg zu »unvollkommen wertvoll«
  19. Nachklang
  20. Anmerkungen
  21. Dank
  22. Leseempfehlungen