Legende vom gestörten Maßwerk – II
Ich tue gut daran, dass ich meine Gedanken, die krausem, spätmittelalterlichem Rankenwerk gleichen, nicht einfach wegschiebe, denn die Geschichte, der Prozess, die Prozession ist noch nicht zu Ende. Sie haben nur eine Pause eingelegt, der Ordensbruder, der Büffelköpfige, die Äbte Benedikt und Bernhard. Nun aber wird wieder die Beschwörungsformel laut:
Bruder, was schaffst du hier?
Komm doch und geh mit mir!
Und der kleine Zug setzt sich wieder in Bewegung:
Du findest von dir
Nichts Böses in mir,
Abscheuliches Tier!
Und die Äbte Benedikt und Bernhard haben das Sprüchlein inzwischen auch gelernt.
Der Ordensbruder weiß genau, wohin er zuerst gehen, dass er bei Adam und Eva beginnen muss, und es wundert ihn kein bisschen, als der Büffelköpfige dem Altar unter dem großen Kreuz zutänzelt, um dort auf seine Verwandte, die Schlange, zu treffen. Er sehnt sich nach ihr, hat aber zugleich Angst. Es macht ihm so viel Mühe, diese Szene zu durchschauen, hindurchzuschauen. Durch das Türchen nämlich. Natürlich könnte er es mit seinen Nüstern ganz einfach zur Seite schnauben. Aber gerade das wäre kein Erfolg, den Kräften eines Büffelköpfigen nicht angemessen. Doch wer würde das Türchen öffnen? Wer könnte es wagen, die mühsam eingefangenen Ängste wieder freizulassen?
Diese Frage stellen sich auch Adam und Eva, als sie den kleinen Gestaltenzug herankommen sehen. Wie sehr hoffen sie darauf, dass sie von ihrem lästigen Türchen befreit würden! Denn nur so könnte die Sache endlich zur Sprache kommen. Nur so könnte man sehen, dass das gekrönte Häuptlein dort im Baum auf einem geringelten Schlangenkörper sitzt. Doch wie schon so oft würde sich wohl auch diesmal ihre Hoffnung wieder zerschlagen. An dieses Türchen wagte sich niemand heran, denn die Schlange selbst hat es geschlossen.
Auch die Schlange hat längst gemerkt, dass der Ordensbruder und der Büffelköpfige auf das erste Menschenpaar zusteuern. Und als nun gar der Ordensbruder mühsam mit seinen kurzen Beinchen auf den Altartisch klettert und ohne Zaudern das goldene Türchen öffnet, zuckt sie zusammen, dass ihr das Krönchen vom Kopf rutscht, und zischt: Was fällt dir ein, du Missgestalt? Mach die Tür zu, es zieht, mir wird kalt!
Doch der Ordensbruder gehorcht ihr nicht.
Da fährt die Schlange den Büffelköpfigen an: Was tänzelst du da herum, als hättest du nicht vier Beine, auf denen du fest und sicher stehen könntest? Wirst du nicht einmal mit einem lächerlichen Zwerg fertig?
Dem Büffelköpfigen fällt nichts anderes ein, als sein Sprüchlein wieder vor sich herzusagen.
Wie konntest du es zulassen, dass dieser geschorene Bärtige das Türchen öffnet? zischt die Schlange weiter. Hör auf mit deinem albernen Geplapper! Hilf mir lieber, dass der arme Adam die böse Eva richtig bestraft für ihre Missetat, grünes Obst abzureißen!
Der Ordensbruder lächelt so, dass die Schlange ihre Augen niederschlägt.
Nachdem das Türchen nun geöffnet ist, kommen Adam und Eva zu sich. Es strömt durch ihre Adern, und ein tiefer schöner Goldton legt sich über ihr Haar. Adam öffnet seinen Mund und möchte fragen: Was können wir nun gemeinsam tun, damit wir ganz aus der Erstarrung befreit werden?
Aber er bringt die Worte nicht heraus, denn der Büffelköpfige ist hinter ihn getreten und bläst ihm seinen warmen Atem in den Nacken. Und Adam wird zornig.
Wie konntest du mich derartig hereinlegen? schreit er seine Frau an. Alles Unheil der Welt kommt nur von dir! Du bist nicht wert, dass die Erde dich trägt!
Lass dir das nicht gefallen, Eva! zischt die Schlange. Zahl es ihm heim! Gib’s ihm!
Wieso nur ich? schreit Eva zurück. Du hättest ja nicht essen müssen, aber du warst ja so neugierig! Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen! Und was kann ich dafür? Die Schlange da mit der Krone, wie sollte ich ihr nicht glauben? Hübsch und fein, wie sie aussieht? Was kann ich dafür?
Recht so, zischt die Schlange den Büffelköpfigen an. Blas ihn weiter an, damit ihm die Luft zum Streiten nicht so schnell ausgeht.
Der Büffelköpfige bläst, und Adams Stimme überschlägt sich fast vor Wut.
Dir haben wir nun diese schreckliche Zukunft zu verdanken, nur dir! Du kannst ja nicht einmal zu dieser Tat stehen, wälzt alles auf die arme Schlange ab, die sich nicht wehren kann. Weiberpack, elendes! Aber wir sind mit hineingerissen.
Ja, weil ihr schwach und abhängig seid und ohne uns überhaupt nichts könnt, gibt Eva zurück. Kraftlos und abhängig seid ihr, eure einzige Waffe ist die rohe Gewalt!
Die Schlange setzt sich ihre Krone schief auf, und ein freudiges Zittern geht durch ihren Körper. Der Baum, um den sie sich geringelt hat, ist verdorrt. Schwarz und kahl recken sich die Äste.
Der Büffelköpfige bläst und bläst, doch es gelingt ihm nicht, dem Adam das Gold aus dem Haar zu blasen. Der fühlt seinen Zorn immer noch anschwellen.
Geh und hol ihm Verstärkung! herrscht die Schlange den Büffelköpfigen an. Es dürfte dir ja nicht schwerfallen, in dieser Kirche gibt es mehr als genügend Männer.
Der Büffelköpfige bringt auch in Windeseile eine ganze Schar zusammen, die sich dem Adam zur Seite stellen. Im Nu sind die Altarschreine leer, und bei Adam entsteht Gedränge.
Es versammeln sich die Apostel und die Propheten, die Kirchenväter und die Kriegshelden. Es kommt auch der starke Simson, der die Stadttore von Gaza aus den Angeln gehoben hat. Wie im Spiel balanciert er sie heran und fragt treuherzig, ob er sie an die Stelle des goldenen Filigrantürchens bringen solle, damit sich Adam und Eva dahinter wieder sicher fühlen können. Doch der Ordensbruder schüttelt den Kopf und wundert sich, dass sich auch die Äbte Benedikt und Bernhard auf die Seite Adams drängen lassen.
Die vielen Männer wissen jedoch nicht so recht, was sie tun sollen. Sind sie in solcher Menge nur gegen eine Frau angetreten? Damit sind sie unterfordert, das geht gegen ihre Ehre! Und so wenden sie sich wieder zum Gehen, als erster der Kriegsheld Gideon.
Halt! ruft die Schlange. Bleibt ihr! Ihr wisst ja nicht, was euch droht, was im Hinterhalt auf euch lauert. Seid nicht so sorglos, und fühlt euch nicht sicher!
Sie verlässt ihren Baum und kriecht durch den Kirchenwald auf den von allen guten Geistern verlassenen Schrein des Hauptaltars zu. Hiobs Weib ist noch dort und keift auf ihren von Unglück und Krankheit geschlagenen Mann ein, verhöhnt ihn wegen seiner Geduld und seines Vertrauens und rechnet ihm unaufhörlich vor, dass das ganze Leben völlig sinnlos sei. Jedermann täte nur gut daran, sich sogleich einen Strick zu nehmen.
Die Schlange ringelt sich der geifernden Frau um den Hals und zerrt sie mit sich.
Und damit nicht genug – sie kehrt auch noch beim anderen Altar ein, denn dort wiederholt sich das Gezeter von Hiobs Weib, als könne man davon gar nicht genug bekommen.
Hiob wird unaufhörlich geschlagen. Ein Teufelchen drischt mit einer Keule auf ihn ein, und die Frau gibt zu jedem Schlag ihre Schelte dazu.
Geschieht dir ganz recht! Du bist ja kein Mann! Lässt dir alles gefallen und bemühst dich weiter um Geduld und Vertrauen! Es müsste dir noch viel schlechter gehen, damit du endlich zur Vernunft kommst.
Bravo – applaudiert die Schlange, aber nun komm mit, ein Mann ist viel zu wenig für diese Schimpfvorräte! Und den kleinen Fratzenschneider nehmen wir mit, damit er die Trägheit des Büffelköpfigen ein wenig anheizt. Vorwärts!
Und sie schleppt beide Hiobsfrauen mit sich fort.
Nun sollte man aber nicht annehmen, dass sich die beiden Keifenden auch nur annähernd einig sind – ganz im Gegenteil! Jetzt gehen sie trotz der Schlangenschlinge um ihren Hals erst einmal aufeinander los.
Mein Mann ist viel mehr geschlagen als deiner! Meiner ist ein viel größerer Schwächling als deiner! Und deinem sollte es noch viel schlechter gehen als meinem!
Selbst die Schlange kann nicht unterscheiden, welche Frau was sagt. Eigentlich ist es ja auch gleichgültig – Hauptsache, sie streiten sich.
Sobald sie jedoch in Evas Nähe kommen, verbünden sie sich.
Dein Mann steht auch da wie ein gerupfter Hahn, es ist doch immer dasselbe! keifen sie zweistimmig. Soll er sich doch begraben lassen! Und ihr anderen auch, ihr aufgeblasenen Pfauen und Gerechtigkeitskrämer!
Nun ist aber Schluss! ruft der Kriegsheld Simson und hebt das Stadttor von Gaza, um damit auf die Hiobsfrauen einzuprügeln. Aber das zähnebleckende schwarze Teufelchen schlägt ihm mit der Keule das Tor aus der Hand.
Die Hiobsfrauen reiben sich die Hände, als nun auch Eva in ihr Schimpfen einstimmt.
Nun können wir vom Duett zum Terzett übergehen, triumphieren sie, dann machen wir Frauen euch Männern Bewegung!
Schon ergreift der König David die Flucht und lässt sogar seine Harfe fallen, und der Abt Bernhard hält sich die Ohren zu.
Dem Büffelköpfigen aber leuchten die Augen.
Schön, nicht? brüllt er immer wieder und wedelt mit dem Schwanz. Nun ist doch endlich einmal etwas los bei uns!
Der Ordensbruder denkt verzweifelt nach, was oder wen er diesem teuflischen Treiben entgegenstellen könnte.
Endlich fällt ihm etwas ein.
In dieser Kirche leben ja auch noch andere Frauengestalten. Sie bieten ein besseres Bild als diese Hiobsfrauen.
Mechthild von Magdeburg! ruft der Ordensbruder mit wohlklingender Stimme.
Im wiegenden Schritt tritt, gekleidet in das schlichte Gewand der Beginen, die Mystikerin und Dichterin Mechthild von Magdeburg aus dem Kirchendunkel. Sie trägt ein kostbares Bild als Schutzschild vor sich her.
Wie aus einer vergilbten Handschrift leuchtet uns mit matten Goldspuren eine ungewöhnliche Kreuzigungsdarstellung entgegen.
Nicht die Kriegsknechte, die Bösewichter sind es, die als Schergen ungerechter Macht diese grausame Exekution vollziehen, sondern die allegorischen Gestalten der Tugenden, Inbegriff des Wahren, Guten, Edlen und Schönen.
In heiliger Siebenzahl treten sie als Frauenchor auf: Gehorsam, Demut und Wahrheit, Liebe und Beharrlichkeit, Friede und Gerechtigkeit, Akteure eines paradoxen Theaters.
Mechthild von Magdeburg rezitiert mit wohltönender sanfter Stimme:
Sieh, meine Braut, wie schön mein Mund, mein Auge ist,
Mein Herz voll Glut, meine Hand wie zart,
Wie schnell mein Fuß! Nun folge mir!
Du sollst mit mir zur Marter gehn:
Gekreuzigt wirst du in den Tod des eignen Willens,
Geschlagen an das Kreuz mit Nägeln heil’ger Tugend,
Verwundet durch die Lieb’ und sterben durch Geduld …
Die Schlange und der Büffelköpfige wollen sich vor Lachen ausschütten.
Bravo, Ordensbruder, rufen sie. Auf diese Weise schaffst du uns viele Verbündete! Tugenden in Frauengestalten! Schöngeistige Seelenpflege! Die Tugenden sind es ja, die dem Menschen Schmerzen zufügen! Nur mit Rücksichtslosigkeit und Ellenbogen kann er sich wieder davon befreien. Der Tugendhafte aber betreibt Selbstbestrafung und wird dann schnell unsere Beute …
Nein, erwidert Mechthild von Magdeburg. Das Wort Tugend kommt von taugen. Und hier wird die Probe aufs Exempel gemacht, ob die Tugenden dazu taugen, dem Tod standzuhalten.
Die Schlange zischt verächtlich, und der Büffelköpfige lacht weiter. Um die Gestalten von Adam und Eva wird es zwar ruhiger, doch diese Ruhe ist nicht frei von Spannung und Verlegenheit. Die Tugendallegorien haben sich aus dem Bild gelöst und an Evas Seite gestellt. Aber sie bleiben flächige dünne Schablonen und gewinnen kein Volumen.
Traurig blickt die Dichterin Mechthild von Magdeburg durch die Löcher im Bild, die durch den Ausstieg der Tugenden entstanden sind.
Was habe ich nur falsch gemacht? sinnt der Ordensbruder.
Nun gerät er in neue Bedrängnis, denn in den schwarzen Fensterflächen sieht er, drohend und großmächtig, hilfe- und rachesuchende Frauengesichter auftauchen und Einlass fordern.
Das ist die Ilsebill, sagt die Schlange, die aus dem Märchen vom Fischer und syner Fru … Ihr ist Unrecht geschehen, sie wollte immer nur das Beste … Und im anderen Fenster die Mutter Courage, die Landstörtzerin … Lasst sie hinein, sie gehören auch auf Evas Seite.
Nein, rufen Benedikt und Bernhard wie aus einem Munde, nur das nicht!
Sie legen zur Abwehr ihre Abtstäbe wie Lanzen ein.
Ilsebill und Mutter Courage verschwinden auch sogleich, aber nur, um am Fenster im Rücken der beiden Äbte wieder aufzutauchen.
Lindwurm und Drache schnauben gelbe Schwefelwolken durch die Nüstern. Der Ordensbruder wischt sich den Schweiß von der Stirn und schlurft mit hängenden Schultern ins Kirchendunkel, während der Streit um Adam und Eva weiterbrodelt.
Nach einigen Augenblicken fällt mir auf, dass der starre Ton, auf dem die Melodie stehen geblieben war, wieder zu zittern und zu schwingen beginnt und Mut zu neuen Melodienschritten zeigt. Es ertönt die Begleitung zu einer Litanei. Ich höre auch eine Stimme. Der Ordensbruder! Kräftig und laut singt er eine Marienlitanei.
Rosa mystica
Turris Davidica
Domus aurea
Stella matutina
Regina Pacis
Es sind Urworte in diesem Raum. Auch mir sind sie vertraut, aber sie klingen mir dennoch fremd.
Der Ordensbruder kommt mit einer kleinen Prozession zurück. Wen bringt er denn nun an? Ich traue meinen Augen nicht: Es nahen sich alle Mariengestalten, mit denen das Münster ausgestattet wurde, angeführt von der Leuchtermadonna mit der schweren Krone, unter der sie fast zusammenbricht.
Um Gottes willen! entfährt es der Restauratorin. Die dürfen doch hier gar nicht herumlaufen, die sind doch so empfindlich und gefährdet! Und ich muss mich dann wieder mit der Fassung und den losen Farbpartikelchen herumplagen!
Die Mariengestalten jedoch kümmern sich nicht um solche Sorgen. Wie selbstverständlich trippeln sie an den Altar heran, verneigen sich und stellen sich zu Eva und den Frauen, die starr vor Staunen dastehen.
Auch die Apostel und Kirchenlehrer sind überrascht, aber sie wissen, wie sie sich verhalten müssen, drängen alle Streitgedanken zurück und verneigen sich ritterlich. Die Kriegshelden indes tun sich nicht ganz so leicht und sind dankbar, dass ihnen der Abt Bernhard schnell noch einige Verhaltensregeln gibt. Auch der König David, der sich hinter einem Pfeiler versteckt hatte, wagt sich nun wieder hervor und zupft einen kleinen Hymnus von der Harfe.
Ja, so habe ich mir das gedacht, so musste es kommen, so ist es immer gewesen, sagt die Restauratorin, und es klingt eher vorwurfsvoll als spöttisch. Nun ist ja alles klar. Befehl von oben. Deus ex Machina. Nun werden alle Trümpfe ausgespielt. Nun müssen die Männer den Mund halten.
Maria in vielen Gestalten … Ich weiß zwar, wie viel Marienfiguren man für das Doberaner Münster brauchte, aber es verblüfft mich dennoch. Zweimal nimmt Maria die Verkündigung des Erlösers vom Erzengel Gabriel entgegen, der sich jedoch in geziemender Entfernung hält. Sie bringt im Stall von Bethlehem das Kind zur Welt. Sie geht mit ihm auf die Flucht in das Land Ägypten. Auch die triumphale Madonna vom großen Kreu...