Mit den Narben der Apartheid
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Mit den Narben der Apartheid

Vom Kampf für die Freiheit zum Heilen traumatischer Erinnerungen

  1. 270 Seiten
  2. German
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Mit den Narben der Apartheid

Vom Kampf für die Freiheit zum Heilen traumatischer Erinnerungen

Über dieses Buch

Father Michael Lapsley verlor als Kämpfer gegen die Apartheid bei einem Briefbombenattentat beide Hände und eines seiner Augen. In seiner Autobiografie erzählt er von diesem entsetzlichen Ereignis – und davon, wie er seine eigene traumatische Erfahrung umgelenkt hat und sie nun, als Leiter des Institute for Healing of Memories, für die Heilung anderer Traumatisierter auf der ganzen Welt nutzt. "Michaels Leben ist eine beeindruckende Metapher … ein Fremder, der in unser Land kam und eine grundlegende Verwandlung durchlebte. Sein Leben spiegelt die Komplexität der vielen langen Reisen und Kämpfe unseres Volkes wider." Nelson Mandela "Das Apartheid-Regime in Südafrika war eines der menschenverachtendsten politischen Systeme in der Geschichte der Menschheit. Trotzdem hat es die schwarze Bevölkerungsmehrheit geschafft, die Verbrechen der Apartheid nicht durch das Strafrecht zu ahnden, sondern mit den Mitteln einer Wahrheits- und Versöhnungskommission zu verstehen und zu behandeln. Diese zutiefst humane, vergebende und versöhnliche Grundhaltung verdankt Südafrika Persönlichkeiten wie Nelson Mandela, Bischof Desmond Tutu oder Pater Michael Lapsley." Prof. Manfred Nowak, ehem. Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter "… ein inspirierendes und leuchtendes Buch, das überzeugend zum persönlichen Zugehen auf den nächsten Menschen aufruft. Und auch zu Vergebung und Versöhnung. In Europa, in Afrika, überall auf der Welt!." Jean-Claude Juncker, Premierminister von Luxemburg (bis 2013) "… In seiner Biografie beschreibt Michael Lapsley, dass es Menschen leichter fällt, sich ihm mit ihren Schmerzen, die manches Mal gar nicht sichtbar sind, anzuvertrauen, eben weil seine Verletzungen so sichtbar sind." Margot Käßmann

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[103]Teil III
Die Wandlung zum Heiler
[104]
Mit Nelson Mandela vor seiner früheren Zelle auf Robben Island, am 5. Jahrestag seiner Entlassung aus dem Gefängnis
[105]9
Die Rückkehr nach Südafrika – auf der Suche nach einer neuen Identität
Ich sage oft, dass mein Lebensweg die Entwicklung Südafrikas widerspiegelt. Das traf auf den Zeitpunkt des Briefbombenanschlags besonders zu. Während ich blutüberströmt und bandagiert im Krankenhausbett in Harare lag, ereignete sich sechs Tage nach dem Anschlag im über zweitausend Kilometer entfernten Kapstadt etwas, das den Lauf der Geschichte veränderte. Am 4. Mai 1990 unterzeichneten in Groote Schuur, dem Amtssitz des Präsidenten, die Regierung von Südafrika und der ANC ein Dokument, mit dem die Verhandlungen in Gang gesetzt wurden, durch die schließlich das demokratische Land ins Leben gerufen wurde, für das wir so lange gekämpft hatten. Mir und Südafrika stand ein langer Heilungsprozess bevor.
Manchmal werde ich gefragt, wie der Briefbombenanschlag mich verändert hat, und dann wird die Antwort gleich mitgeliefert. Die meisten finden mich sanftmütiger und behutsamer, weniger streitlustig und verträglicher. Es ist ja richtig, dass andere uns oft deutlicher sehen als wir uns selbst, aber manchmal möchte ich trotzdem sagen: „Ich bin immer noch derselbe.“ Ich finde meine Veränderung nicht so bedeutend wie andere Menschen. Andererseits stimmt es auch, dass ich verstümmelt wurde, dem Tod nur um Haaresbreite entkam und seither mit einer schweren Behinderung lebe. So etwas durchzumachen hinterlässt Spuren. In Bitternis zu verfallen hieße, sich von Hass und Groll verzehren zu lassen. Mein Leben wäre zweifellos in vieler Hinsicht unvergleichlich viel einfacher, wenn ich nicht Opfer des Briefbombenanschlags geworden wäre. Doch obwohl ich immer noch derselbe bin, der ich vorher war, kann ich die Gaben, die mir durch meine Arbeit mit Healing of Memories zuteil werden, gar nicht hoch genug einschätzen, und das habe ich dem Briefbombenanschlag zu verdanken.
Es gibt auch Gründe dafür, dass andere mich als etwas aggressiv empfanden. Eine gewisse Abhärtung war im Befreiungskampf überlebensnotwendig. Da ich Weißer bin, wurde ich von manch anderen Weißen als Volksverräter angesehen. Sie nahmen mir meine Entscheidungen, die sie als Werturteil ihnen gegenüber empfanden, übel, da sie nicht im Stande waren, ebenso zu handeln. Ich hatte ihre Feindseligkeit und die Gemeinheiten zu ertragen, die manche von ihnen über mich schrieben und erzählten. Darüber hinaus gab es Momente, in denen Schwarze nicht genau wussten, ob ich es [106]ernst meinte. Das bedeutete, dass ich mich manchmal selbst in den Augen derjenigen bewähren musste, mit denen ich mein Leben riskierte und von denen ich manche liebgewonnen hatte.
Man muss sich ein dickes Fell zulegen, um mit den aus allen Richtungen kommenden Hieben und Stichen fertig zu werden. Ich nehme an, dass ich manche Gefühle einfach nicht aufkommen lassen durfte. So wurde mein damaliges Leben eher vom Kopf her bestimmt, während es seit dem Anschlag eher dem Herzen gehorcht – ich habe also eine Entwicklung durchgemacht, durch die ich meine Sanftmut wiedergewinnen kann, die ich damals zurücklassen musste. Anders ausgedrückt, im Befreiungskampf musste ich eisern werden, um zu überleben. Che Guevara sagte einmal, dass Revolutionäre lernen müssen durchzuhalten, ohne ihr Mitgefühl zu verlieren, und an diese Mahnung klammere ich mich. Ja, es ist richtig, dass ich seit dem Briefbombenanschlag weichherziger geworden bin, und ich kann mich in die Versehrtheit anderer Menschen auf eine Art und Weise hineinversetzen, wie ich es nie und nimmer hätte tun können, wenn ich nicht selbst gebrochen worden wäre.
Meine Veränderung muss jedoch auch vor dem Hintergrund der Ereignisse gesehen werden. Ich hatte mich weniger verändert als die Situation um mich herum. Zum Beispiel hielten viele Weiße in Südafrika den Chris Hani, der sich für Verhandlungen und Versöhnung engagierte, für einen anderen Chris Hani als den, der Generalstabschef der Umkhonto we Sizwe gewesen war. Aber die Zeiten hatten sich einfach geändert. Die Verhandlungen begannen ja praktisch in dem Moment, als ich die Briefbombe erhielt. Das Ungeheuer zu erschlagen war die Aufgabe in den Siebziger- und Achtzigerjahren, aber in den Neunzigern ging es um Heilen und Versöhnung. In Kapitel 12 des Buches der Offenbarung steht in einer entscheidenden Passage: „Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen; und der Drache stritt und seine Engel“. Hier geht es um das Gute und das Böse. Welche Form nahm dieser Kampf für uns in Südafrika an? Es war der Kampf gegen die Apartheid. An einer anderen Stelle der Heiligen Schrift steht: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel“ (Eph. 6, 12). Diese Passage deutet auf das systemimmanente Böse hin. Schon während des Kampfes riefen manche zu Heilung und Versöhnung auf, oft auch Kirchen und bisweilen Menschen, die ein persönliches Interesse an der Erhaltung des Status quo hatten. Diese Aufrufe waren zwar insofern berechtigt, als sie auf das endgültige Ziel hinwiesen, waren jedoch zu dem Zeitpunkt verfrüht und ablenkend. Sie kamen von denjenigen, die den zwischenmenschlichen Aspekt der Versöhnung betonten. Das Böse war jedoch systembedingt, und wir mussten zuerst die Institutionen der Apartheid abschaffen.
[107]Nun hatte eine andere Epoche begonnen. Wir übten unsere Arbeit in einem demokratischen Umfeld aus, und Heilen und Versöhnung standen ganz oben auf der Tagesordnung. Als meine Wunden geheilt waren, gab es die alten Schützengräben nicht mehr. Der Kampfschauplatz gehörte jetzt Menschen wie Glenda Wildschut, einer befreundeten Krankenschwester, die davon träumte, ein Traumazentrum zu gründen, das Menschen seelische Betreuung bot, die zuvor im Kampfeinsatz und ständig auf der Flucht waren. Die schrecklichen Auseinandersetzungen fanden nach und nach ein Ende und wurden durch den Aufbau der Nation und die ruhigere Arbeit des Heilens der Wunden ersetzt, die wir einander zugefügt hatten. Diesen Wandel erfuhr auch ich, als ich vom Freiheitskämpfer zum Heiler wurde. Beispielsweise waren die Geschichten, von denen dem Menschenrechtskomitee der Wahrheits- und Versöhnungskommission berichtet wurde, sehr unterschiedlich. Manche wurden zornig erzählt, andere mit sanfter Stimme, bisweilen mit einem unterdrückten Schluchzen oder langen Pausen, wenn der Betroffene versuchte, tief empfundene Gefühle zu überwinden und die Fassung wiederzugewinnen. Das ist typisch für den Heilungsprozess. Er erfordert ruhige, konzentrierte Aufmerksamkeit und belohnt uns mit der Befriedigung, die wir empfinden, wenn wir die Wandlung von Schmerz und bisweilen Verbitterung zu den ersten Anzeichen von Frieden und Hoffnung erleben.
Im Buch Kohelet steht geschrieben: „Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit … eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen“. Obwohl ich noch nicht wusste, was die Zukunft bringen würde, fühlte sich der Briefbombenanschlag an wie ein reinigendes Feuer, das mir immer mehr Klarheit verschaffte. Ich würde einen Weg finden, meine sichtbare Versehrtheit als Mittel einzusetzen, um andere Menschen zu heilen. Wie mein Freund Horst Kleinschmidt es ausdrückte, war ich nun für diesen neuen Kampf ganz anders gerüstet, auch wenn der Preis dafür sehr hoch war. Die liebevolle Unterstützung durch Freunde aus aller Welt empfand ich als Privileg, das anderen, ebenso verdienstvollen Menschen vorenthalten blieb. Privileg und Verantwortung gehen jedoch Hand in Hand, und ich nahm mir vor, meine Dankbarkeit auszudrücken, indem ich gemeinsam mit anderen den Weg ging, den andere mit mir zurückgelegt hatten. Diese Dankbarkeit treibt meine Arbeit heute noch an. Wenn ich durch die Welt reise, leiste ich Seelsorge für die Ärmsten der Armen, für die das Wort Privileg einer anderen Welt angehört.
Natürlich waren diese Ideen anfangs reine Theorie, und ihre praktische Umsetzung musste noch geklärt werden. Als ich nach meiner Genesung in Australien nach Simbabwe zurückkehrte, erfuhr ich, dass die Stelle als Gemeindepfarrer in Bulawayo, die ich vor dem Briefbombenanschlag angenommen hatte, nicht mehr frei war. Gleichzeitig fanden in Südafrika gewaltige Veränderungen statt: Nelson Mandela wurde freigelassen, das Verbot des ANC wurde aufgehoben, und Verhandlungen begannen. Ich wollte diesen [108]Umschwung mit eigenen Augen sehen und organisierte deshalb einen Besuch für Mitte 1991. Der Gedanke, nach so vielen Jahren zurückzukehren, überwältigte mich. Atemlos sahen wir zu, mit welcher Geschwindigkeit sich der Wandel vollzog.
Der ANC hatte sich immer wieder auf die vier Säulen des Kampfes gestützt: den bewaffneten Kampf an sich, die Untergrundorganisation in Südafrika, die Mobilisierung der Bevölkerungsmassen und die internationale Solidarität. Verschiedene Führer gaben ihnen unterschiedliche Prioritäten, doch der ANC erkannte zunehmend, dass sie alle dazu beitrugen, Druck auf das Regime auszuüben. Manche malten sich vielleicht aus, dass eine bewaffnete Guerillabewegung mit der Zeit die Macht ergreifen könnte, und ich glaube, dass einige von uns vom bewaffneten Kampf mehr erwarteten, als er letztendlich brachte. Mitte der Achtzigerjahre, als der Einfluss der Vereinigten Demokratischen Front (UDF) in Südafrika stieg, wurde in ANC-Veröffentlichungen die Möglichkeit erörtert, das Land unregierbar zu machen. Vielleicht würde ein allgemeiner Aufstand die Regierung aus dem Amt jagen, wie 2011 in Ägypten. Ich weiß nicht, wie realistisch das alles war, und ein gewisser Grad an Naivität ist in dem Zusammenhang wohl kaum von der Hand zu weisen. Im Grunde genommen war der ANC seit seiner Gründung 1912 zu Verhandlungen bereit und knüpfte besonders in den Achtzigerjahren viele geheime Kontakte zu einflussreichen Mitgliedern der Zivilgesellschaft und der Apartheidregierung. Trotzdem hatte ich mich auf einen viel langwierigeren Kampf eingestellt, als er es letzten Endes war. Weil ich die kubanische Revolution bewunderte und mehrmals nach Kuba gereist war, malte ich mir aus, wie Panzer durch Pretoria rollten und die Menschenmenge Blumen auf die Guerillakämpfer warf, so wie es Fidel und Che ergangen war, als sie triumphierend in Havanna einzogen. Ich glaube, dass eigentlich keiner von uns seine Fantasien wirklich ernst nahm, aber wir hatten sie nun mal, und sie gaben uns Mut.
Bald stellte sich heraus, dass der zunächst merkwürdig erscheinende Zeitpunkt des Briefbombenanschlags zeigen sollte, woher nun der Wind wehte. Während der Verhandlungen ließ die Unterdrückung durch die Apartheid nicht etwa nach, sie lösten im Gegenteil eine Terrorwelle ohnegleichen aus, die das Land zu verschlingen drohte. Tausende verloren ihr Leben in dieser Zeit, unter ihnen unser beliebter Führer Chris Hani, der nur ein Jahr vor den Wahlen ermordet wurde. Beinahe brach das gesamte Land auseinander, und seine Ermordung brachte fast den kompletten Verhandlungsprozess zum Scheitern. Die Regierung trägt zwar die Verantwortung für einen Großteil dieser Gewalt, aber es gab auch unzählige Berichte über Gewalt unter Schwarzen. Männer, die in Baracken weit entfernt von ihren Familien untergebracht waren, rotteten sich, mit Speeren und Schusswaffen ausgerüstet, nachts zusammen und überfielen und ermordeten unglückselige Townshipbewohner. Die meisten Angreifer waren arme, ungebildete Männer aus [109]entfernten ländlichen Gegenden, die ihre Familie ernähren mussten. Auf der Suche nach Arbeit in den Minen zogen sie deshalb in die Stadtgebiete, weil es bei ihnen zu Hause keine Arbeit gab. Sie wurden vom Apartheidsystem als billige Arbeitskräfte ausgebeutet und arbeiteten unter äußerst gefährlichen Bedingungen, und jetzt wurden sie wieder ausgenutzt, um die schmutzige Arbeit der Regierung zu erledigen. Diese Angriffe lösten natürlich Vergeltungsangriffe aus. Es existierten tatsächlich rivalisierende politische Gruppen innerhalb der schwarzen Bevölkerung, aber es gab auch handfeste Beweise dafür, dass die Regierung echte Unstimmigkeiten ausnutzte, um zu Gewaltakten aufzustacheln. Das Regime muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Aktionen der sogenannten destabilisierenden dritten Kraft Vorschub geleistet zu haben, indem sie bisweilen Geheimdienstinformationen mit rivalisierenden schwarzen Gruppen teilte oder auch direkte materielle Unterstützung gewährte. Die Apartheidregierung verhandelte also bei Tag und mordete bei Nacht. Sie hoffte natürlich, dass das dadurch entstehende Chaos und die Feindseligkeiten dazu führen würden, dass sich die schwarze Mehrheit nicht zu einer einheitlichen Verhandlungsposition durchringen könne. Es gab Zeiten, da dachten wir, die Regierung würde es schaffen, doch letztendlich behielten die Besonnenen die Oberhand, dank der stetigen und beruhigenden Präsenz von Nelson Mandela und anderen hochrangigen Vertretern des ANC. Eine vorläufige Verfassung wurde ausgearbeitet, ein ordnungsgemäßes Wahlverfahren wurde eingeleitet, und in letzter Minute erklärten sich alle zur Teilnahme bereit. Am 27. April 1994 fand etwas statt, das wie ein Wunder anmutete: Zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Südafrika zu einer Demokratie mit einer nach dem Prinzip „ein Mensch, eine Stimme“ gewählten Mehrheitsregierung. Das vielverwendete Wort Wunder lässt meiner Meinung nach aber das Ausmaß des jahrhundertelangen Leidens und die Opfer unberücksichtigt, die man bis zur Sklaverei und noch weiter zurückverfolgen kann und die uns nun endlich freie Wahlen bescherten.
1991 machte mich der Gedanke an eine Rückkehr nach Südafrika nervös. Ich hatte gemischte Gefühle, da ich seit 1976 keinen südafrikanischen Boden mehr betreten hatte. Ich freute mich zwar darauf, aber es war sicher auch alles andere als einfach, in dieses von Gewalt zerrissene Land zurückzukehren. Ich wusste nicht, wer mir die Briefbombe geschickt hatte. Vielleicht würden sie mir ja bei meiner Rückkehr auflauern. Angesichts der Gewalt, die damals das Land verschlang, war dies kein unrealistischer Gedanke. „Warum kehrst du nach Südafrika zurück? Bist du verrückt? Diese Leute haben versucht, dich umzubringen. Bleib doch hier bei uns“, sagten Freunde in Simbabwe. „Ach, aber ich bin doch nur wegen des Kampfes hier in Simbabwe. Die Zeit ist reif, gemeinsam ein neues Land aufzubauen. Außerdem denke ich, dass ich aufgrund meiner Reaktion auf den Briefbombenanschlag zur Heilung der Nation beitragen kann. Es ist an der Zeit, zurückzukehren“, erwiderte ich, trotz eigener Bedenken. Ich wollte die dramatischen Ereignisse [110]mit eigenen Augen sehen. Außer Reichweite in Simbabwe zu bleiben und lediglich die Nachrichten aus dem Nachbarland Südafrika zu hören war einfach zu frustrierend. Auch wollte ich unter anderem ganz einfach wieder persönliche Kontakte aufnehmen, die unerlässlich waren, um dort später nach meiner endgültigen Rückkehr Arbeit zu finden.
Ich organisierte eine dreiwöchige Reise. Mein Visumantrag wurde anfangs abgelehnt, mit der Begründung, dass man mir zunächst Amnestie gewähren müsse, bevor man mir als ANC-Mitglied eine Einreiseerlaubnis erteilen könne. In den Verhandlungen war zwar automatische Straffreiheit vereinbart worden, aber die Regierung spielte trotzdem Katz und Maus mit mir. Da ich Pfarrer war und nicht Anwalt, war mir klar, dass es hier um ihre Sünden ging, nicht um meine. Schließlich wurde mir Amnestie gewährt, was theoretisch bedeutete, dass ich bei der Landung in Johannesburg nicht festgenommen werden durfte. Die ANC-Vertreter in Johannesburg waren zwar zuversichtlich und beruhigten mich, aber ich war mir da nicht so sicher. Während ich im Flugzeug Richtung Johannesburg saß, mit den noch neuen Prothesen auf meinem Schoß, wirbelten mir Gedanken und Gefühle durch den Kopf. Der Briefbombenanschlag war erst ein Jahr her, ich war erst vor wenigen Monaten von Australien nach Simbabwe zurückgekehrt und fühlte mich auf der Reise wegen meiner Behinderung unsicher. Zwar begleitete mich Cosmas Mulonda, ein junger Simbabwer, und half mir bei allem, was ich nicht selbst erledigen konnte; dennoch fühlte ich mich abhängig von der Hilfsbereitschaft anderer. Ich kam mir fast vor wie ein Fremder in dem Land, für das ich so viel geopfert hatte. Würde ich es nach so langer Zeit wiedererkennen? Die meisten engen Freunde hatten ja mit mir im Exil gelebt. Ich hatte zwar zu Freunden, die in Südafrika geblieben waren, Kontakt gehalten, hatte manche von ihnen aber viele Jahre lang nicht gesehen. Eine seltsame Mischung aus Vorfreude und Einsamkeit ergriff mich. Bei meiner Ankunft in Johannesburg wurde ich nicht verhaftet, sondern wir wurden von einem alten Freund abgeholt, Kingston Erson, der ebenso wie ich aus Neuseeland stammt und Pfarrer in der Auferstehungsgemeinde war. Als ich im Gewimmel der Reisenden das Flugzeug verließ, erwartete mich keine Parade, keine bewundernde Menschenmenge, und niemand warf Blumen. Obwohl ich wirklich keine Blumen erwartet hatte, dachte ich mir: ‚Das hattest du dir doch eigentlich anders vorgestellt.‘ Trotzdem war ich glücklich, wieder da zu sein.
Auf meiner Reise besuchte ich drei Städte, Johannesburg, Durban und Kapstadt, und meine Ankunft in Durban war um einiges angenehmer als die in Johannesburg. Meine Freundin Phyllis Naidoo, die nach dem Briefbombenanschlag an meinem Bett saß, holte uns am Flughafen ab. Phyllis hatte einige Kameraden zur Begrüßung am Flughafen zusammengetrommelt. Natürlich kannten sie mich nicht ohne Hände, und obwohl Phyllis sie sicherlich darauf vorbereitet hatte, muss es doch ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein, mich in diesem Zustand zu sehen. Das hielt sie aber nicht davon ab, [111]mich herzlich zu begrüßen. „Willkommen zu Hause, Michael! Wir sind so glücklich, dass du wieder hier bist“, sagten sie einfach. Es war zutiefst befriedigend, sie sagen zu hören, dass ich tatsächlich zu Hause war.
Ich war zum ANC-Kongress eingeladen worden, der vom 2. bis zum 6. Juli in Durban stattfand. Es war ein historisches Treffen, da es der erste Kongress in Südafrika nach der Aufhebung des ANC-Verbots war. Nelson Mandela, der nur fünfzehn Monate zuvor freigelassen worden war, wurde zum Präsidenten gewählt. Es gab viel zu tun, denn der ANC musste nun von einem Tag auf den anderen von einer Befreiungsbewegung in eine regierungsfähige Partei umgewandelt werden. Das Ergebnis der Verhandlungen mit dem Apartheidregime war zwar noch unklar, doch symbolisierte der Kongress den Triumph im Kampf um Demokratie. Alle anwesenden und auch viele sonstige Kameraden konnten kaum glauben, dass der ANC im Begriff war, Südafrika zu regieren, und dass wir Maßnahmen zum Aufbau der neuen Demokratie beschließen würden, für die wir gekämpft hatten. Die Unermesslichkeit der Verantwortung überwog aber nicht...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. Danksagung
  8. Teil I: Die Briefbombe und ihre Folgen
  9. Teil II: Freiheitskämpfer
  10. Teil III: Die Wandlung zum Heiler
  11. Teil IV: Eine weltweite Mission