Die Stadt
  1. 416 Seiten
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Über dieses Buch

Walerjan Pidmohylnyj (1901–1937) hat mit »Die Stadt« 1928 einen Roman geschaffen, der von der psychologischen Prosa des französischen Naturalismus, die Pidmohylnyj selbst ins Ukrainische übersetzt hat, inspiriert ist und zum Kernbestand der ukrainischen literarischen Moderne gehört. Der Existenzialismus blitzt schon durch die Zeilen, die sanft ironische Erzählweise schlägt immer wieder in bissigen Spott um – und dennoch vermag Pidmohylnyj es auf atemberaubende Weise, von den sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeit nicht nur zu berichten, sondern sie uns erzählerisch vor Augen zu führen und begreifbar zu machen. Stepan, dessen Weg wir lesend miterleben, kommt voller Erwartungen und mit großen Zielen in die Metropole Kyjiw, wo er ein Studium beginnen und dabei mithelfen möchte, den Sozialismus aufzubauen.Die Stadt und ihre Bewohner faszinieren ihn, stoßen ihn aber gleichzeitig auch ab und genügen seinen überzogenen Ansprüchen nicht. Vor allem aber stürzen sie ihn in chaotische Verhältnisse und machen seine hehren Pläne zunichte: Als Stepan dann auch noch Feuer für die Schriftstellerei fängt, kommt er endgültig vom Kurs ab. Alexander Kratochvil hat in Zusammenarbeit mit Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok die abgründig schillernde Erzählung in ein elegant doppelbödiges Deutsch gebracht, mit einer Vielzahl an geschliffenen Formulierungen und zugespitzten Dialogen. »Die Stadt«, dieses Meisterwerk der ukrainischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, fügt der vielstimmigen europäischen Moderne eine hierzulande bisher unbekannte weitere Facette hinzu.

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Information

ERSTER TEIL

I

Es schien nicht mehr weiterzugehen.
Der Strom des Dnipro hing plötzlich in einer Bucht fest. Umschlossen von frühherbstlichen Ufern in verwaschenem Gelbgrün. Doch dann wendete der Dampfer, und das lange ruhige Band des Flusses zog sich weiter zu kaum merklichen Hügeln am Horizont.
Stepan stand auf Deck an der Reling, seine Augen versanken ziellos in der Ferne, die gleichmäßigen Schläge des Schaufelrades und die dumpfen Worte des Kapitäns durch den Lautsprecher lullten seine Gedanken ein. Auch sie hingen in der nebligen Ferne fest, wo der Fluss unmerklich verschwand, als wäre der Horizont die Grenze zu seinen Träumen. Der Blick des jungen Mannes schweifte über die nahen Ufer, er verfiel unerwartet in Rührung – an der Biegung rechterhand kam ein Dorf zum Vorschein, das die Wiesen bis jetzt verborgen hatten. Die Augustsonne wusch den Schmutz von den weißen Häusern, knüpfte ein Netz grauer Wege, die sich in Feldern verliefen und wie der Fluss irgendwo im Blau verschwanden. Eine Straße verlief quer durch die grenzenlose Ebene, vereinte sie mit dem Himmel und führte den lichten Raum ins Dorf. Und eine andere Straße, die sich zum Fluss hinabzog, brachte die Frische des Dnipro zu den Hütten. Das Dorf schlief in der Mittagssonne. Es lag ein Geheimnis in diesem Schlaf inmitten der Naturelemente, die diesen Flecken mit ihrer Kraft nährten. Hier am Ufer erschien das Dorf als die ureigene Schöpfung der Weite, als die zauberhafte Blüte der Erde, des Himmels und des Wassers.
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Das heimische Dorf, das Stepan verlassen hatte, lag ebenfalls am Flussufer, und er suchte unwillkürlich nach Ähnlichkeiten zwischen beiden. Er spürte eine Verwandtschaft und dachte vergnügt, dass er genauso gut in diesen Hütten zu Hause sein könnte wie in jenen, die er zurückgelassen hatte. Mit Bedauern sah er, wie sich das Dorf mit jedem Schlag der Maschine weiter entfernte, in der Ferne verschwamm, bis es schließlich hinter einem Streifen widerlichen Dampferqualms vollständig verschwand. Stepan seufzte. Möglicherweise war es das letzte Dorf gewesen, das er vor der Stadt noch sehen sollte.
Er verspürte eine unklare innere Unruhe, als ob er im Heimatdorf und in all den anderen Dörfern, die er unterwegs gesehen hatte, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch seine Hoffnung zurückgelassen hätte. Er schloss die Augen und gab der Traurigkeit nach, die sich in ihm breitmachte.
Als er wieder aufsah, stand Nadijka neben ihm an der Reling. Er hatte sie gar nicht kommen gehört. Er freute sich, dass sie von sich aus zu ihm gekommen war. Ruhig ergriff er ihre Hand. Sie erschauderte, und ohne den Kopf zu heben schaute sie auf die fächerartige Welle, die der Bug des Dampfers aufwarf.
Sie kamen zwar aus demselben Dorf, waren sich aber kaum je begegnet. Er kannte sie nur flüchtig, da sie sich nur selten bei dörflichen Geselligkeiten blicken ließ, aber er wusste, dass sie studieren wollte. Einige Male hatte er sie im Silbud gesehen, wo er die Bibliothek geleitet hatte. Aber eigentlich waren sie heute zum ersten Mal länger beisammen, und der gemeinsame Weg brachte sie einander näher. Sie waren unterwegs zum Studium in der großen Stadt, beide hatten Empfehlungsschreiben in der Tasche, vor beiden lag ein neues Leben. Sie überschritten gemeinsam die Schwelle zur Zukunft.
Freilich war ihre Lage ein bisschen besser als seine. Sie hatte stolz erzählt, dass ihre Eltern Lebensmittel schicken würden. Er hoffte einzig auf ein Stipendium. Sie sollte bei Freundinnen unterkommen, er hatte bloß einen Brief seines Onkels an dessen Bekannten, einen Kaufmann. Sie war von lebhafter Natur; er war ruhig und wirkte zurückhaltend. Im Laufe seiner ersten fünfundzwanzig Lebensjahre war er zunächst Pflegekind und Hirtenjunge, danach einfach ein junger Bursche, schließlich hatte er sich während der Revolution den Aufständischen angeschlossen, und in letzter Zeit hatte er als Dorfsekretär von RobSemLis gearbeitet. Nur in einem war er ihr gegenüber im Vorteil – er war belesen und hatte keine Angst vor den anstehenden Aufnahmeprüfungen. Im Lauf des gemeinsamen Tages auf dem Dampfer hatte er für sie viele Rätsel der Sozialwissenschaften gelöst, und sie hatte bezaubert seiner angenehmen Stimme gelauscht. Wenn sie für einen Augenblick nicht in seiner Nähe war, befiel sie auf der Stelle Langeweile und weitere, bisher nicht besprochene ökonomische Fragen fielen ihr ein. Wenn er dann anfing, sie ihr von neuem auseinanderzusetzen, wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn der Bursche von etwas anderem erzählt hätte: Von seinen Hoffnungen, davon, wie er gelebt hatte, bevor sie sich kennenlernten. Doch sie bedankte sich für seine Erklärungen und sagte überzeugt: »Oh, Sie bekommen sicher ein Stipendium! Sie sind ja so gut vorbereitet.«
Stepan lächelte, es freute ihn, von dem blauäugigen Mädchen, die auf seine Fähigkeiten vertraute, gelobt zu werden. Tatsächlich hielt er Nadijka für die schönste Frau an Bord. Die langen Ärmel ihrer grauen Bluse kamen ihm anmutiger vor als manch nackter Arm, ihr Kragen ließ nur den Blick auf einen schmalen Streifen Haut zu, wo andere schamlos ihre Schultern und die Rundungen des Busens präsentierten. Sie trug einfache Schuhe mit flachen Absätzen, und ihre Knie schauten nicht bei jedem Schritt unter dem Rock hervor. Ihre Ursprünglichkeit gefiel Stepan, sie war seiner Seele nahe. Andere Frauen betrachtete er mit leichter Geringschätzung oder Furcht. Es schien ihm, dass sie ihn nicht beachteten oder gar verachteten in seiner ärmlichen Feldjacke, seiner rostroten Schirmmütze und seinen ausgeblichenen Hosen.
Er war hochgewachsen, gut gebaut, das Gesicht gebräunt. Doch seit einer Woche war er unrasiert, was seinem Aussehen etwas Liederliches verlieh. Stepan hatte dichte Brauen, große graue Augen, eine hohe Stirn, sinnliche Lippen. Seine dunklen Haare kämmte er nach hinten, wie es viele junge Männer vom Dorf taten – und neuerdings auch so mancher Dichter.
Stepan ließ seine Hand auf Nadijkas warmen Fingern ruhen und schaute nachdenklich auf den Fluss, auf die steilen Sandufer und einsamen Bäume. Auf einmal richtete sich Nadijka auf und sagte mit ausgestrecktem Arm: »Da, bald sind wir in Kyjiw.«
Kyjiw! Das war die große Stadt, in der er studieren und leben würde. Das war das Neue, in das er eintauchen wollte, um seine langgehegten Träume zu verwirklichen. Wie, Kyjiw ist schon so nah? Stepan wurde unruhig und fragte: »Wo ist eigentlich Lewko?«
Sie blickten sich um und entdeckten am Bug eine Gruppe Landleute, die es sich mit einer Mahlzeit bequem gemacht hatte. Auf einem ausgebreiteten Bauernhemd lagen Brot, Zwiebeln und Speck. Lewko, ein Student der Agrarökonomie, der auch aus ihrem Dorf kam, war dabei. Er war prächtig gelaunt und besser genährt, als seine Statur es eigentlich zuließ, früher wäre ein hervorragender Pope aus ihm geworden, heutzutage jedoch ein mustergültiger Agronom. Schon sein Vater, Großvater und Urgroßvater waren Bauern gewesen, und so konnte er den Leuten vom Land ebenso mit Bibelsprüchen wie mit einem gelehrten Rat helfen. Er studierte fleißig, lief überall in einem traditionellen Überzieher herum und ging leidenschaftlich gern zur Jagd. Während zweier nicht gerade üppiger Jahre in der Stadt hatte er aus dem Revolutionsslogan »Wer nicht arbeitet – darf nicht essen« sein Credo »Wer nicht isst, kann auch nicht arbeiten« abgeleitet, das er bei jeder Gelegenheit auf alle möglichen Fälle anwendete. Hier auf dem Dampfer bewirteten ihn die Dörfler mit ihrer rustikalen Kost, und er versorgte sie dafür mit interessanten Geschichten über den Planeten Mars, die Agrarökonomie in Amerika und das Radio. Sie staunten und fragten ihn vorsichtig, ein wenig ungläubig lächelnd, über Gott und die Welt aus.
Lewko gesellte sich lächelnd, sich auf etwas kurzen Beinen wiegend, zu seinen Bekannten. Gute Laune und ein Lächeln gehörten als grundlegende Eigenschaften zu seiner Einstellung der Welt gegenüber. Weder Armut noch Studium konnten seiner Gutmütigkeit etwas anhaben, die unter den stillen Weiden des Dorfes gereift war. Stepan und Nadijka hatten ihre Bündel bereits geschnürt. Noch eine Drehung des Steuerrades, und linkerhand erstreckte sich hinter den sandigen Hügeln am Ufer der graue Streifen der Stadt. Der durchdringende Ton des Dampfers, der langgezogen vor einer Pontonbrücke pfiff, hallte in Stepans Innerem als schmerzliches Echo wider. Für einen Augenblick vergaß er, dass sich seine Wünsche eigentlich erfüllten, und blickte wehmütig auf das weiße Dampfwölkchen über der Sirene wie auf die letzten Spuren seiner Vergangenheit. Als das Pfeifen plötzlich abriss, breitete sich in seiner Seele Totenstille aus. Er spürte, dass ihm lächerliche Tränen in die Augen stiegen, die in seinem Alter und seiner Lage eigentlich völlig unangebracht waren, und es überraschte ihn, dass der Tränenquell trotz aller Leiden und Mühen noch nicht ausgetrocknet war, dass er nur überdeckt war und nun so plötzlich und unpassend zu fließen begann. Dies brachte ihn so durcheinander, dass er errötete und sich abwandte. Aber Lewko bemerkte seine Fassungslosigkeit. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:
»Nimm’s dir nicht so zu Herzen.«
»Ist schon gut«, entgegnete Stepan verlegen.
Nadijka überschüttete Lewko mit Fragen. Sie fragte ihn nach jedem Hügel, jeder Kirche, ja fast schon jedem Haus. Dabei stellte sich heraus, dass Lewko nicht viel von der Stadt kannte. Natürlich wusste er, wo die Lawra ist und die Säule mit dem heiligen Wolodymyr, aber ob der Hügel, auf dem sie steht, auch nach dem heiligen Wolodymyr benannt ist, da war er sich bereits nicht mehr so sicher. In Kyjiw bewegte er sich nur in seinen engen, ausgetretenen Kreisen, zwischen der Leninstraße, wo er wohnte, und seinem Institut. Er verließ sie so gut wie nie, im Winter war er bestenfalls dreimal im DerschKino Nr. 5 gewesen, um sich amerikanische Abenteuerfilme anzusehen, und nur selten fuhr er mit dem Zug Kyjiw–Teteriw zur Jagd. Aber damit konnte er Nadijkas zunehmend lebhafte Neugierde nicht stillen. Diese Häuserflut, so niedlich und komisch anzusehen aus der Ferne, faszinierte sie, und ihr fröhliches Lachen verriet ihre Freude, dass auch sie dort wohnen werde.
Bald wurde ihre Aufmerksamkeit jedoch von etwas anderem gefesselt. Sie beobachtete die Motorboote, die röhrend über den Fluss sausten, und die Ruderboote mit braungebrannten Sportlern mit freiem Oberkörper, die ihre Muskeln anspannten und fröhlich auf dem Wellenschlag des Dampfers schaukelten. Einige tollkühne Schwimmer johlten ausgelassen und sprangen ganz nah beim Schaufelrad ins Wasser. Kurz darauf glitt wie ein weißes Phantom eine Dreimaster-Jacht am Dampfer vorbei.
»Schaut, schaut nur!«, rief Nadijka beim Anblick der ungewöhnlichen dreieckigen Segel. An Bord waren drei junge Männer und ein Mädchen, das sich ein Tuch umgewickelt hatte. Sie schien wie eine Rusalka aus den alten Märchen, die man nicht anders als beneiden konnte.
Je näher sie Kyjiw kamen, desto reger wurde der Verkehr auf dem Fluss. Vor ihnen lag inmitten des Dnipro eine sandige Insel mit einem Strand, zu der drei Motorboote unentwegt Badegäste brachten. Die Stadt erstreckte sich vom Hügel hinab zum Ufer. Von der Revolutionsstraße rollte eine bunte Welle von Jungen und Mädchen, Frauen und Männern die breite Treppe hinab – ein quirliger Strom heller Leiber, die sich nach einem Bad in der Sonne und im Wasser sehnten. In diesem Getümmel war kein Platz für schlechte Laune – dort, am Rande der Stadt, begann eine neue Welt, die Welt der elementaren Freuden. Wasser und Sonne umfingen die, die gerade noch mit Füllfedern und Kontorswaagen hantiert hatten. Die jungen Männer glichen dem sagenhafte Kyj, die jungen Frauen der märchenhaften Lybid. Ihre Monate lang in Kleidern gefangenen Körper erblühten nun, befreit und nackt wie Bronzestatuen in flimmernder Hitze, gleich den Barbaren an den Ufern des Nils. Für einen Moment pulsierte das blanke, ursprüngliche Leben in ihnen, und einzig die hauchdünne Badebekleidung erinnerte an den Jahrtausende währenden Strom der Zeit.
Der Kontrast zwischen den trostlosen Bauten am Ufer und dem ungetrübten Badespaß wirkte auf Nadijka seltsam und wunderbar. Gerade in diesem Gegensatz spürte sie die Vielfalt städtischen Lebens und dessen Möglichkeiten. Das Mädchen hielt ihre Begeisterung nicht zurück. Sie wurde von der bunten Palette der Kleider und Körper geblendet, von den zartrosa Körpern, die erstmals in die Sonne tauchten, bis hin zu den dunkel gebräunten, die die brennenden Strahlen des Sommers gestählt hatten.
Leidenschaftlich wiederholte sie immer wieder:
»Wie schön das ist! Wie schön!«
Stepan teilte ihre Euphorie keineswegs. Ihm war der Anblick der nackten, besinnungslosen Menschenmenge zutiefst zuwider. Und es enttäuschte ihn, dass Nadijka diesen ausgelassenen, triebhaften Haufen anziehend fand. Mürrisch sagte er:
»Purer Spaß an der Freud!«
Lewko sah sich die Leute genauer an:
»Sie sitzen tagaus, tagein an Schreibtischen, na, und hier schlagen sie ein wenig über die Stränge.«
Sie gingen im dichten Gedränge von Bord, blieben ein wenig abseits stehen und ließen den Strom der Passagiere vorbeiziehen. Nadijkas Begeisterung legte sich. Die Stadt, die von Ferne weiß und licht im sonnigen Dunst geschwebt hatte, hing nun dunkel und schwer über ihr. Schüchtern blickte sie sich um. In ihren Ohren dröhnte das Schreien der Marktweiber, das Pfeifen, das Rattern der nach Darnytsia fahrenden Autobusse und das gleichmäßige Schnaufen der Dampfmaschine einer nahen Mühle.
Stepan drehte sich aus seinem Machorka eine Zigarette und rauchte. Er hatte die Angewohnheit, nach dem...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. INHALT
  4. DIE STADT
  5. ANHANG
  6. Impressum