Elbe 511
eBook - ePub

Elbe 511

  1. 224 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Elbe 511

Über dieses Buch

Vor dem Mauerbau geht Wolfgang als 20-Jähriger mit seinem Freund über die innerdeutsche Grenze, um in Westdeutschland zu arbeiten. Acht Monate später kehrt er aus Heimweh zurück. Dies hat erhebliche Konsequenzen, die sein ganzes Leben prägen werden. Denn er wird von seinem Freund denunziert und wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Gefängnis in Bautzen verurteilt, wo er als politischer Häftling schlimmste Schikanen und Grausamkeiten erlebt.Nach der Entlassung darf Wolfgang nicht in seinem Heimatdorf leben und wird dadurch erneut seiner Freiheit beraubt. Erneut beschließt er zu fliehen und schwimmt bei Flusskilometer 511 über die Elbe. Im Westen baut er sich eine Existenz auf, heiratet und gründet eine Familie. Nach seinem Tod in der Schweiz macht sich die Tochter auf die Suche nach der verloren gegangenen Heimat. Sie besucht das Heimatdorf ihres Vaters, das Gefängnis in Bautzen und die eingezäunte Dorfrepublik an der Elbe am 511. Flusskilometer, wo für ihren Vater die persönliche Wende begann. Anhand der Fluchtgeschichte ihres Vaters rekonstruiert die Autorin auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte und spannt dabei einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Dabei wird auch deutlich, was es für den Einzelnen bedeutet, sich zur Flucht zu entschließen, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf die hat, die gehen, und auf jene, die bleiben.

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Information

Jahr
2022
ISBN drucken
9783958904507
eBook-ISBN:
9783958904514

GARDINEN

Die Fähigkeiten zum Eindringen in gedankliche Prozesse anderer können nur und ausschließlich durch Menschen selbst aufgebracht werden.
(Dissertation von Werner Korth, Ferdinand Jonak, Karl-Otto Schubert: Die Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter und ihre psychologischen Bedingungen, 1973)
Das Land, durch das ich mit dem Auto meines Vaters fahre, ist kein gewöhnliches Land. Es ist 1988, etwas mehr als ein Jahr vor der Wende, vor der Revolution in Ostdeutschland, die zur Wiedervereinigung führen sollte.
Es ist Spätsommer. Vor ein paar Monaten habe ich meinen Führerschein gemacht und fahre nun zusammen mit meiner Mutter durch eine Landschaft in der DDR, die mir nie als etwas Zusammenhängendes in Erinnerung bleiben wird. Da ist das Niemandsland hinter der Elbe, die weite Ebene aus Schützengräben und Wachtürmen. Und da sind die Dörfer, die wie graue Tupfen unscheinbar aus der Landschaft ragen.
Wir fahren ohne meinen Vater. Denn in der DDR wird er immer noch mit Haftbefehl gesucht. Inzwischen glaubt mein Vater seiner Mutter nicht mehr, die auch diesmal beteuert: Dir wird schon nichts passieren.
Hinter den ersten Heidebüschen kann ich die Grenzanlagen erahnen. Kleine, unauffällige weiße Baracken. Auf einem Wachturm dreht ein Soldat mit Maschinenpistole seine Runden. Eine Einfahrt, wie wenn man zu einer Tankstelle einbiegt, an der statt Zapfsäulen Grenzsoldaten stehen. Aus der Ferne sehen sie aus wie graue Strichmännchen, die in mehreren Reihen angeordnet sind. Ich ahne, dass uns dort noch mehr erwartet, wenn wir unsere Pässe vorzeigen müssen. Wir müssen aussteigen und uns durchsuchen lassen. Auch das Auto durchsuchen sie und schlagen die Motorhaube nicht richtig zu, sodass mir später mitten auf der Fahrt durch das Niemandsland vor einer Kurve die Haube entgegenschlägt.
Wir haben Angst anzuhalten. Ich fahre noch ein bisschen weiter und halte ein paar Meter neben dem Grenzzaun. Hoffentlich haben uns die Hunde nicht gewittert, denke ich, als ich aussteige und die Motorhaube wieder andrücke.
Ich höre und sehe zuerst ihre Ketten und sehe dann, wie sich die Hunde an den Ketten in unsere Richtung bewegen. Es beruhigt mich nicht, dass die Hunde hinter dem Stacheldraht laufen. Meine Angst verwandelt sich auf einmal in Wut. Und ich frage mich, ob es die Idee von Wahnsinnigen oder von Menschen gewesen ist, dass es das Beste sein soll, nicht nur Hühner einzusperren, sondern auch ganz normale Menschen.
Je mehr Zeit dazwischenliegt, desto besser erinnere ich mich. Als wir auf der Landstraße durchs Land fahren, fällt mir auf, dass in einigen Dörfern die Häuser der Hauptstraßen nur zur Hälfte gestrichen sind. Der untere Teil ist in hellem Grau gestrichen, der obere Teil ist dunkelgrauer Beton. Später lese ich, dass der angestrichene Teil für Erich Honecker bestimmt war, weil er durch seine Limousine nur die unteren Hälften der Häuserfassaden sehen konnte.
Während ich weiterfahre, frage ich mich, ob dort überhaupt noch Menschen wohnen. Die Gegenden hinter der Elbe sehen verlassen aus, wie eine Filmkulisse, aus der die Schauspieler geflohen sind. Dabei waren es richtige Orte, aus denen es kein Entkommen gab.
Ich frage mich auch, ob die Dinge hier anders schmecken oder riechen. Ein Dorf ist trostloser als das andere. Die Landschaft habe ich gar nicht mehr als grün in Erinnerung, da die Häuser und Straßen so öde und grau aussahen. Tristheit, die einem aufgezwungen wird. Ein verzaubertes Vakuum, das einen durch Schweigen krank machen und durch falsches Reden ins Gefängnis bringen kann. Ein Land mit eigenen Strafen und Regeln, schlimmer als George Orwells Roman, weil es sich in der Wirklichkeit abspielt.
In diesem Moment ahne ich, dass auch ich hineinkatapultiert werde in den ewigen Widerspruch der Geschichte, wenn die Mehrheit anfängt zu schweigen und auch ich Teil des Schweigens werde. Während meiner Reise nehme ich wahr, dass viele die Wirklichkeit einfach ausblenden oder sich die bestmögliche Nische suchen, um jahrelang auf den Frühling zu warten, der weit entfernt vom großen sozialistischen Traum liegt.
Als wir die Hauptstraße verlassen, landen wir auf einer Schotterstraße, die schnurgerade in das Dorf hineinführt, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Im Vergleich zu den anderen Dörfern ist die Straße breit, sie führt leicht bergan, und das Dorf beginnt schon lange, bevor die ersten grauen Häuser zu sehen sind. Ich fühle mich fast wie auf einer Allee, umsäumt von Nadelbäumen und hohem Heidegras. Ungewöhnlich große Gärten und kleine Häuser, die am Waldrand stehen. Wie im Märchenwald meiner Kindheit, wo auf Knopfdruck Schneewittchen mit ihren Zwergen an der Hand die Tür öffnet und zu singen anfängt:
Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?
Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?
Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?
Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?
Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?
Wer hat in meinem Bettchen gelegen?
Als wir den stillgelegten, vor sich hin bröckelnden Bahnhof erreichen, weiß ich, dass dies kein Märchenland ist.
Vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da musste sie in die rot glühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.
(Auszug aus Schneewittchen, Märchen der Gebrüder Grimm)
Ich sehe im Vorbeifahren, dass sich in den Fenstern die Gardinen bewegen. Dahinter stehen die Dorfbewohner, denen man unsere Ankunft vorab angekündigt hat. Das ganze Dorf weiß Bescheid: Heute kommen die Wessis.
Ich fühle mich beäugt wie eine Außerirdische, die von einem fremden Planeten kommt und der man sich nicht zu erkennen geben will, weil das Misstrauen größer als die Neugierde ist.
Irgendwann endet die Straße an einem Freibad. Wir haben uns verfahren und fragen einen älteren Mann nach dem Weg. Wir schenken ihm eine Schachtel Zigaretten. Im Rückspiegel sehe ich, wie zwei weitere Männer aus einem Vorgarten auf ihn zugehen und wild gestikulierend auf ihn einreden. Wir drehen um, fahren wieder zurück, vorbei an den bebenden Gardinen. Ich wünschte, die Menschen würden uns zuwinken, anstatt sich zu verstecken.
Das Haus, in dem meine Großmutter mit der Familie ihres jüngsten Sohnes nun wohnt, liegt am Ende einer Sackgasse am Feldrand. Ein paar Meter weiter steht die Dorfkirche. Es ist keine gewöhnliche Kirche, sondern eine Kirche mitten im Wald. Wie das Dorf, das auch mitten im Wald liegt. Ein schmaler Weg führt zur Kirche, die eingerahmt ist von alten Ulmen und Eichen.
Alt Jabel ist ein verschlafener Ort, in dem man keine Autos erwartet, sondern nur den Geruch von frischen Pferdeäpfeln. Rechts neben dem Weg liegen die Ruinen einer Kirche, die um 1256 aus Feldsteinen und Findlingen erbaut und die durch einen Dorfbrand 1859 bis aufs Gemäuer zerstört wurde. Inzwischen wachsen kleine Bäume und Sträucher daraus. Ein Denkmal aus einer anderen Zeit. Ohne Dach und Glockenturm hat man das Gefühl, man sieht in eine Festung und nicht in ein Kirchenschiff.
Meine Oma Meta, deren Brillengläser so dick sind, dass sie wie eine Taucherin aussieht, macht uns die Tür des Hauses auf, das früher zum Forstamt gehörte. Die Begrüßung ist herzlich. Endlich seid ihr da. Meine Tante und mein Onkel, die auch dort wohnen, stehen ebenfalls im Flur. Sie sind freundlich, aber zurückhaltend. Sie haben nicht die Entspanntheit meiner Großmutter, der es egal ist, was andere von ihr denken. Schön, dass ihr da seid. Und dass ihr euch endlich alle kennenlernt.
Im Wohnzimmer warten schon meine beiden Cousins und meine Cousine, die alle noch im Haus wohnen. Nacheinander stellen sie sich vor. Zwei Katzen und einen Hund haben wir auch. Die dürfen aber nur in die Küche.
Meine Mutter und ich setzen uns auf ein graues Sofa, und ich ahne, dass die Vorbereitung auf unseren Besuch einige Tage des Putzens und Backens in Anspruch genommen haben muss. Der Tisch ist reich gedeckt mit mehreren Variationen von Obstkuchen. Das Silberbesteck glänzt so sehr, dass ich mich darin spiegele. Das Einzige, das das Idyll stört, ist, dass die ganze Zeit über lautlos der Fernseher läuft.
Erst als ich sitze, fällt mir auf, dass alle weiße Hemden oder Blusen tragen. Nur meine Oma hat wie immer ihre Kittelschürze an, die sie auch nicht auszieht, wenn Besuch aus dem Westen kommt.
Bevor das Schweigen zu laut wird, ergreift sie das Wort: Nicole, erzähl mal, gehst du noch zur Schule? – Ja, ich gehe noch zur Schule. Und ihr?, fragte ich in Richtung meiner Cousins und Cousinen. Also ich mache gerade eine Lehre zum Mechaniker, erwidert mein Cousin Torsten. Noch ein Jahr, dann mache ich auch eine Lehre, antwortet meine Cousine, die in etwa gleich alt ist wie ich.
Meine Oma blinzelt mich durch ihre dicken Gläser hindurch an: Nicole wird mal ein Doktor, sagt sie nicht ohne Stolz und rutscht mit einem klatschenden Geräusch ihrer unbestrumpften Oberschenkel in den Sessel.
Während sie den Kuchen isst, trompetet sie über alle Köpfe hinweg: Ihr wisst ja, Wolfgang ist im Westen zum Millionär geworden. Meine Mutter beginnt zu husten. Ich weiß, dass das nicht ihr Asthma ist, und sage freundlich: Na ja, das stimmt nicht ganz.
Nun seid mal nicht so bescheiden, neckt die Oma, die sich das erlauben kann. Schließlich kommt sie ja jedes Jahr zu uns nach Hamburg, wo es in meinem Elternhaus im Vergleich zu hier natürlich mehr Luxus gibt. Kein Kachelofen, sondern eine Ölheizung. Kein Trabi, sondern ein West-Auto. Kein Waschtrog fürs Geschirr, sondern eine Spülmaschine. Kein einfaches Brotmesser, sondern eine Brotschneidemaschine. Kein Grau in Grau, sondern die Küche und das Wohnzimmer farblich abgestimmt. All das beeindruckt sie schwer. Und das verbreitet sie jetzt vor der versammelten Familie.
Verlegen schaue ich im Raum umher. Meine Oma brachte uns einmal die drei Affen mit, die alles Schlechte nicht wahrhaben wollen und die immer noch im Wohnzimmer meiner Eltern stehen. Auch hier finde ich sie, in einer kleinen Vitrine aus Glas, wie wenn kein Staubkorn sie je berühren dürfe. Einer hält sich die Augen zu, der andere die Ohren, der dritte den Mund. Drei harmlose Affen, die das Mitläufertum zur Niedlichkeit verzerren. Meine Oma muss meine Gedanken gelesen haben und sagt mit einem Augenzwinkern: So etwas gibt es bei euch auch.
Nicht nur durch den sehr eigenen Humor meiner Oma merke ich, dass man drinnen im Haus über andere Dinge reden kann als draußen. Von außen sieht es nicht danach aus. Aber hinter den kleinen Fenstern des ehemaligen Forsthauses, in dem Meta seit ein paar Jahren wohnt, gibt es eine ganz andere Welt.
Nachdem wir die Legende vom Millionär begraben haben, reden wir über alltägliche Dinge, wie Hamburg so ist und wann ich zu studieren anfange. Schließlich aber sprechen wir doch über Politik und stellen fest, dass wir uns vor allem in einem Punkt einig sind: Nur ein Jahr vor der Wende kann sich keiner der Anwesenden vorstellen, dass die Grenze jemals wieder geöffnet werden sollte.
Am Nachmittag mache ich mit meinen Cousins einen Spaziergang durchs Dorf. Auch hier dieses zerbrechliche Idyll mitten im Wald, nur durch das Beben der Gardinen unterbrochen. Wenn man genau hinsieht, sieht man manchmal ein Gesicht, aber nie ein Lächeln. Ich vermute, dass Misstrauen hier Bestandteil aller sozialen Beziehungen ist, in einem Land, in dem jeder jeden verdächtigen kann. Vielleicht muss man Feinde ausmachen, damit man weiß, wer man ist.
Feinde wie wir, die als Verwandte eines politisch Verurteilten in die DDR kommen und nun unter Beobachtung stehen. Auch wenn mein Vater sich nichts zu Schulden hat kommen lassen, als einfach über die Elbe zu schwimmen, ist das ein Grund, ihn zu verurteilen, in einem Land, in dem Vermutungen schnell zu Fakten werden. Es gibt nur Freund oder Feind. Das kann unversehens lebensentscheidend sein. Typisch für das DDR-Regime ist es, dass die berufliche Laufbahn zerstört ist, wenn man durch die Verwandtschaft oder Freundschaft mit einem politisch Verfolgten zu einem Feind wird. So wie die Frau von Klaus, die auch nie wieder als Lehrerin arbeiten darf.
Am ersten Abend gibt es einen eindrucksvollen Schweinebraten auf einer Porzellanplatte, auf deren Rand gebratene Zwiebeln liegen. Dazu Mehlklöße mit Rotkohl. Ich bedanke mich überschwänglich, denn ich weiß von meiner Oma, dass hier nur an besonderen Feiertagen solch ein Festmahl gegessen wird.
Meine Tante sieht vor lauter Besuchsvorbereitungen ganz abgekämpft aus, was sie sich nicht anmerken lässt. Und da sich in diesem Raum meistens nur die Männer unterhalten, während die Frauen in der Küche arbeiten, redet sie nicht viel. Sie nickt nur, als ich sie lobe. Ist ja nicht der Rede wert.
Nach dem Abendessen kehren wir in der Dorfkneipe ein. Auch hier werde ich in einer seltsamen Mischung aus Neugierde und Reserviertheit beäugt, und ich spüre, dass ich hier im Gegensatz zum Wohnzimmer meiner Oma auf der Hut sein muss. Torsten bestätigt meinen Eindruck: Du kannst hier nicht alles sagen.
Wieso nicht?, flüstere ich zurück. Torsten erwidert: Die Firma hört immer mit. Das fällt dann auf uns zurück. Und da ich nicht will, dass meine Verwandten Schwierigkeiten bekommen, halte ich mich zurück und höre lieber zu.
Alle trinken Schnaps und Bier, als ob es keine Mangelwirtschaft gibt. Zwei meiner Onkel sind Alkoholiker. Einer wohnt in einer kleinen Dachwohnung, in die es hineinregnet. Neue Dachpfannen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. INHALT
  6. Chronologie
  7. Steinmauern
  8. Der Gefrierschrank der Herzen
  9. Schuhe
  10. Die Kiste
  11. Freundschaft
  12. Klaus
  13. Überleben
  14. Entlassung
  15. Elbe 511
  16. Die Flucht
  17. Briefe
  18. Helga
  19. Hamburg
  20. Familie
  21. Gardinen
  22. Ein Vierteljahrhundert
  23. ADAC
  24. Aufbruch
  25. Osterfeuer
  26. Das Waldbad
  27. Das blaue Haus
  28. Es brennt
  29. Rüterberg
  30. Bautzen
  31. Gedicht »Das Spurenelement«
  32. Nachtrag und Danksagung
  33. Literatur