Grundthemen der Literaturwissenschaft: Form
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Über dieses Buch

Form ist die wohl einflussreichste, sicher aber die bestĂ€ndigste Erkennungs- und Konfliktkategorie des literarischen Feldes. Wie kein anderes Konzept verbindet sie die SelbstbegrĂŒndungen der Dichtung mit Diskursen ĂŒber sie und stiftet ein Kontinuum, das gegenwĂ€rtige Modelle auf vergangene und eigene auf fremde zu beziehen erlaubt. Das Handbuch 'Literarische Form' beschreibt das PhĂ€nomen und die mit ihm verbundenen Debatten unter den Rubriken 'Formtheorie', 'Formverfahren' und 'Formkultur' und diskutiert sie in historischer und systematischer Breite – auch mit Blick auf fachdisziplinĂ€re Formdiskurse jenseits der Literaturwissenschaft. Der Formbegriff reicht hierbei von der Mikroebene der literarischen Verfahren ĂŒber KlassifikationskalkĂŒle bei der Gattungsbildung bis zu weltanschaulichen Konzepten und Pragmatiken. Zu diesem Kontext zĂ€hlt auch die Genese der bedeutendsten BinĂ€roppositionen, die - wie beispielhaft 'Materie vs. Form'- besonders wirkungsmĂ€chtig waren oder durch dynamische Konzepte - etwa 'Immersion und Agency' - ergĂ€nzt und ersetzt worden sind. Das Ziel des Bandes ist die Erstbeschreibung dieser vielschichtigen literaturwissenschaftlichen Formdebatte, die hier in ihren wesentlichen Facetten vorgestellt wird.

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Information

II Historischer Abriss

II.1 Konzeptgeschichten der Form

II.1.1 Begriffsgeschichten der Form: Ein metaphorologischer Einsatz

Monika Schmitz-Emans

1 Die Basismetaphoriken Àsthetischer Formdiskurse

Burdorf, Dieter. Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart und Weimar 2001. Der Begriff ‚Form‘, dessen Verwendung ja keineswegs auf Ă€sthetisch-poetologische Kontexte beschrĂ€nkt ist, erscheint gerade in diesen als besonders proteisch und vieldeutig, bedingt sowohl durch die komplexe Bedeutungsgeschichte des philosophischen Form-Begriffs als auch durch die facettenreiche Geschichte poetologisch-literaturtheoretischer Reflexion ĂŒber Formen und ihre jeweiligen Gegen- bzw. KomplementĂ€rkonzepte. Bereits seit der Antike diskutiert wird die (im Rahmen differenter Ästhetiken unterschiedlich beantwortete) Frage nach dem ontologischen Status der Form: Das mit dem dt. Wort ‚Form‘ ĂŒbersetzte lat. ‚forma‘ korrespondiert einerseits dem griech. Begriff ‚eidos‘ (und damit der Bezeichnung fĂŒr etwas den Sinnen Transzendentes), andererseits dem der ‚morphĂ©â€˜ (und damit dem Namen fĂŒr physisch Gestaltetes und sinnlich Wahrnehmbares). Der Ausdruck ‚Form‘ lĂ€sst sich entsprechend divergent interpretieren: als Äquivalent fĂŒr „allgemeine Beschaffenheit, Wesensbestimmung“, aber auch fĂŒr „sichtbare Gestalt, Umriß“ oder fĂŒr „Gattung“ (Schildknecht 2007, Bd. 1, 613). Innerhalb der Philosophiegeschichte hat sich der Form-Begriff insgesamt so stark ausdifferenziert, dass das Historische Wörterbuch der Philosophie den Ausdruck gar nicht als einheitlichen Begriff prĂ€sentiert, sondern verschiedene Form-Begriffe in Einzelartikeln separat abhandelt: die „Form des Urteils“, die „innere Form“, die „logische Form“ sowie die Begriffsoppositionen „Form und Inhalt“ und „Form und Materie (Stoff)“. Neben dem ‚Inhalt‘ und der ‚Materie‘ kann (mit wiederum anderer Akzentuierung) auch das ‚Chaos‘ als Gegenbegriff zur ‚Form‘ fungieren. FĂŒr die Semantiken des Form-Begriffs prĂ€gend sind neben Diskursen der philosophischen Ontologie und Metaphysik nicht zuletzt auch Schöpfungsmythen verschiedener Provenienz, welche die Genese der Welt oder der Geschöpfe als einen Formungsprozess beschreiben, sowie KĂŒnstlermythen und -legenden, die von formender Arbeit berichten.
In Verbindung mit Gegenbegriffen wie ‚Inhalt‘, ‚Gehalt‘, ‚Materie‘ oder ‚Stoff‘ erscheint der Form-Begriff als metaphorisch grundiert. (FĂŒr seine griechischen Äquivalente ‚eidos‘ bzw. ‚morphĂ©â€˜ gilt Entsprechendes.) Er gewinnt sein Profil insbesondere innerhalb sprachbildlich vermittelter Vorstellungen von Außen-Innen-Relationen, von GefĂ€ĂŸen sowie von GebĂ€uden, die den Raum organisieren und Wege durch ihr Inneres anbieten respektive vorschreiben. Die Unterscheidung von Form und Inhalt ist aus metaphorologischer Sicht ein wichtiges Beispiel fĂŒr die PrĂ€gung des Denkens durch eine offenbar unhintergehbare Metaphorik. Als Inhalt bestimmt wird dabei entweder die (metaphorisch sogenannte) ‚stoffliche‘ Vorlage oder der gedankliche ‚Gehalt‘, etwa Ideen oder Empfindungen, welche sich an ‚Stoffliches‘ knĂŒpfen. GefĂ€ĂŸmetaphorisch induziert ist u. a. die kritische Diagnose ‚leerer Formen‘.
Kontrovers beantworten Poetiker seit der AufklĂ€rung die Frage, ob sich jeder Stoff mit jeder Form verbinden lasse. Damit verknĂŒpft finden sich vielfach Erörterungen ĂŒber den Status des Rhetorischen in der Dichtung, bei denen wiederum metaphorisch induzierte Vorstellungen ins Spiel kommen. Ist das Rhetorische ein bloßes Transportmittel? Ist es eine bloße Verpackung fĂŒr einen die eigentliche poetische Substanz ausmachenden Inhalt? Ist es als Verpackung womöglich eine VerhĂŒllung; macht es das Innere zunĂ€chst unsichtbar, bis dieses hermeneutisch freigelegt wird? Gibt es einerseits Formen, die Inneres verbergen, andererseits solche, die offenbarend wirken (vgl. Holz 1899, 49-50, wo vom Umgang mit Formen im Rekurs auf handwerklich-malerische Metaphern die Rede ist; vgl. Burdorf 2001, 381)? In der Avantgarde wird diese Offenbarungskraft geradezu als QualitĂ€t der ‚neuen‘ Form im Unterschied zur ‚alten‘ angesprochen, etwa im Rekurs auf handwerklich-malerische Metaphern bei Arno Holz: „Mit der alten Form konnte man noch verwischen und vertuschen, mit der neuen nicht mehr.“ (Holz 1899, 49-50).
Mit EinschĂ€tzungen der jeweils gewĂ€hlten Form als einem Äußerlichen verbindet sich vielfach ihre Abwertung als ‚bloß rhetorisch‘ (und damit implizit eine EinschĂ€tzung der Rhetorik selbst). Im Sinn einer metaphorischen Grunddifferenzierung zwischen Innen und Außen charakterisiert noch 1959 Ingeborg Bachmann die öffentliche Rede des Dichter-Ichs als ein ‚formales‘ und insofern ‚rhetorisches‘ Unternehmen, bei dem das Mitzuteilende, das „Ich“ (gedacht als ‚Inneres‘), hinter dem ‚Äußeren‘ der Rede verschwinde: „Aber schon, wenn Sie hier allein heroben stehen und sagen zu vielen unten ‚Ich sage Ihnen‘, so verĂ€ndert sich das Ich unversehens, es entgleitet dem Sprecher, es wird formal und rhetorisch.“ (Bachmann 1993 [1959/60], 217). Mit einem eigentĂŒmlichen Sprachbild, das eine metaphysisch semantisierte Lichtmetaphorik und konkrete Lichtbeobachtungspraktiken amalgamiert, Ă€ußert sich schon Goethe skeptisch gegenĂŒber der Wahrheit von Formen: „Jede Form, auch die gefĂŒhlteste, hat etwas Unwahres; allein sie ist ein fĂŒr allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz des Menschen zum Feuerblick sammeln.“ (Goethe 1977a [1775], 47).
AnlĂ€sslich der Frage nach Form und Gehalt bringen sich im Lauf der Ästhetikgeschichte insgesamt jedoch sehr unterschiedlich semantisierte Grundmetaphoriken des Äußeren und des Inneren zur Geltung. Da ist zum einen ein Ansatz, der physisch Äußeres als (letztlich kontingente) ‚Äußerlichkeit‘ auslegt und vom Inneren trennt; da ist zum anderen ein dem spĂ€tantiken Idealismus verpflichteter synthetischer Ansatz: Im Rekurs auf Plotinisches Denken gilt Inneres in Ă€sthetisch-poetologischen Reflexionen oft auch als bedingend fĂŒr die Ă€ußere Gestaltung Ă€sthetischer Artefakte. Es sind zwar primĂ€r diese ‚inneren‘ Gehalte, denen das Interesse der idealistischen Ästhetik gilt; die Ă€ußere Form gilt dabei aber als genuine EntĂ€ußerung des Geistigen (s. u.). Dass unterschiedliche Varianten der Außen-Innen-Metaphorik gerade im Bereich der Form-Konzepte miteinander konkurrieren können, illustriert exemplarisch ein Gedicht Storms (vgl. Burdorf 2001), das zwei solche Varianten gegeneinander ausspielt (und zwar implizit wertend): die GefĂ€ĂŸmetapher und die Leibmetapher. Dem ‚gelehrten Dichter‘ mag die Form als „GefĂ€ĂŸâ€œ fĂŒr Inhalte erscheinen; anziehender erscheint ihre Analogisierung mit dem belebten Körper:
Poeta laureatus:
Es sei die Form ein GoldgefĂ€ĂŸ
In das man goldnen Inhalt gießt!
Ein Anderer:
Die Form ist nichts, als der Kontur,
Der den lebend’gen Leib beschließt.
(Storm 1987/88 [1885], Bd. 1, 93; vgl. Burdorf 2001, 219)
Werden Formen als HĂŒllen interpretiert, so kann die - ihrerseits metaphorische - Bestimmung des eingehĂŒllten Inhalts als fester oder flĂŒssiger ‚Stoff‘ aussagekrĂ€ftige Anschlussmetaphern erzeugen. So etwa im Bild des Glockengusses, das Schillers Lied von der Glocke prĂ€gt: „Wenn die Glock soll auferstehen, / Muß die Form in StĂŒcken gehen“, so heißt es hier, wobei zu bedenken ist, dass die nach dem Guß zerstörte „Form“ ja die Gestalt der Glocke geprĂ€gt hat (Schiller 81987 [1800], 439; vgl. Burdorf 2001, 21). ‚Masse‘ wiederum bezeichnet im achtzehnten Jahrhundert summarisch alles, was sich „auf die körperliche FĂŒlle und Ausdehnung jenseits ihrer Formgebung“ bezieht (vgl. Benne 2015, 495).
Ästhetisch-kunsttheoretische Reflexionen ĂŒber die Form sind von der Antike bis in die Gegenwart hinein im Übrigen vielfach einer (offenbar schwer hintergehbaren) ‚Material‘-Metaphorik verpflichtet. Leib-Seele-Metaphern sind dabei die vielleicht suggestivsten. Kritisch bemerkt der Ästhetiker Robert Zimmermann 1858:
Dass die moderne Aesthetik dasselbe [Wort „Form“] in engerem, meist nur im Gebiete der plastischen Kunst giltigen Sinne gebrauchte, hat sie in den Irrthum verwickelt, Inhalt und Form unter dem Bilde von Seele und Leib, Innerem und Aeusserem aufzufassen und so den Einklang zwischen beiden [
] zum ausschliesslichen Bilde der Schönheit zu erheben. (Zimmermann 1870 [1862], 263; vgl. Burdorf 184)
Neben Stoff-Metaphern und GefĂ€ĂŸmetaphern wirken sich auch Derivate wie Bau- und Konstruktions-Metaphern, die bereits bei Plotin prominent entfaltet sind (vgl. Burdorf 2001, 61), bis in jĂŒngere Zeiten prĂ€gend auf Beschreibungen Ă€sthetischer Artefakte aus. Dies illustrieren exemplarisch Titel wie Bauformen des ErzĂ€hlens (LĂ€mmert 1955), aber auch Diskurse ĂŒber das ‚Zerbrechen‘ oder ‚Auflösen‘ von Formen. Welche nachhaltige Bedeutung die metaphorisch grundierte Dichotomie von ‚Stoff‘ und ‚Form‘ als ‚Innerem‘ und ‚Äußerem‘ des Artefakts fĂŒr Poetiken besitzt, wird nicht zuletzt deutlich an Versuchen der Konzeptualisierung einer abstrakten Dichtung (auch ‚konkrete Poesie‘ genannt), die im zwanzigsten Jahrhundert mit dem, was diese Opposition suggeriert, gerade zu brechen suchen (s. u.).
Formdiskurse prĂ€gen die Poetik qua Theorie dichterischer Werke und Intentionen unter werkĂ€sthetischer, unter produktionsĂ€sthetischer sowie auch (ansatzweise) unter rezeptionsĂ€sthetischer Akzentuierung. Die Vielzahl der metaphorisch grundierten oder doch durch Sprachbilder beeinflussten Bedeutungen von ‚Form‘ entfaltet sich in einem Spektrum zwischen deskriptiven und normativen Diskursen. Im Bereich der deskriptiven Verwendung des Terminus lĂ€sst sich unterscheiden zwischen der Gleichsetzung von ‚Form‘ mit ‚Àußerer Gestalt‘ und ‚Form‘ als Bezeichnung der Relation von Ganzem und Teilen. Der normative Formbegriff ist stĂ€rker facettiert und bezieht sich auf Proportionen, Beziehungen zu einem Ideal etc. (vgl. Burdorf 2001, 23). Die Gegenbegriffe der ‚Unförmigkeit‘ oder ‚Formlosigkeit‘ haben ihre eigene Geschichte, wobei ihre Semantik sich Ă€hnlich stark ausdifferenziert wie die der ‚Form‘. ‚Formlosigkeit‘ als ‚Gefahr‘ zu interpretieren, ist in kunstkritischen Diskursen auch der Moderne noch gelĂ€ufig (vgl. Burdorf 2001, 3). Zur Charakteristik spezifischer Formdiskurse bei verschiedenen Autoren hilfreich erscheint die Differenzierung zwischen einem „emphatischen“ und einem „technischen FormverstĂ€ndnis“ (Burdorf 2001, 2).

2 Poetikgeschichtliche Variationen des ‚Form‘-Begriffs: Aspekte und Etappen im Überblick

Rhetorik und Poetik: Formkonzepte und Handwerksmetaphern

Die antike Rhetorik widmet sich im Zeichen der Basisdichotomie von Form und Inhalt der Frage nach den Relationen zwischen sprachlicher ‚Form‘ (verba) und ‚Inhalt‘ (res). Vor 1750 dominiert in der Poetik ein rhetorischer Formbegriff, demzufolge es gilt, die Wörter (verba) den Inhalten bzw. GegenstĂ€nden (res) anzupassen. Ein Zuordnungsprozess zwischen an sich verschiedenen Relaten findet statt und wird in entsprechenden Metaphern beschrieben. Eine Form wird einem Gegenstand ‚gegeben‘; die Form, in der er durch den Formgebungsprozess prĂ€sentiert wird, kann aber auch ‚verfehlt‘ werden bzw. ‚misslingen‘ (wobei der Gegenstand derselbe bleibt). FĂŒr einen Gegenstand die richtige Form zu wĂ€hlen, ist aber ebenso erlernbar wie die praktische Umsetzung dieser Wahl; Dichtung erscheint unter diesem Vorzeichen als eine lehrbare Kunst (vgl. Burdorf 48-50). Handwerkergedichte können dort, wo sie Prozesse der Produktion und Bearbeitung von Stoff reflektieren, als poetologische Texte interpretiert werden - so etwa in einem Beispiel des Heinrich von Meißen (‚Frauenlob‘), wo es heißt: „ich forme, ich model, ich mizze“ (Frauenlob 1981 [um 1300], V. 13).
Bis heute gelĂ€ufige Metaphern und Vergleiche aus dem Bereich der Handwerke und anderer gestaltender Praktiken korrespondieren mit diesem Konzept literarischer Gestaltungsarbeit: Metaphernspender sind das Herrichten von Objekten, das Zubereiten von Stoffen, das Zer- und Verteilen, das Durchdringen und Kneten, das Zusammenstellen (Komponieren) und Verfugen, das Feilen und Polieren. Dabei gilt im Allgemeinen die ‚gegebene‘ Form nicht als beliebig: Der Inhalt geht der Form voraus und entscheidet (im Zuge von inventio und dispositio) ĂŒber Praktiken und Prinzipien formaler Gestaltung - so wie in Handwerken das zu bearbeitende Material die Auswahl der Instrumente und den Umgang mit diesen bestimmt. Erst im Zuge neuplatonistischer NeuansĂ€tze geht man dazu ĂŒber, Form und Inhalt als Einheit zu denken (s. u.).

Außen-Innen-Metaphoriken und ihre Implikationen: Philosophisch-Ă€sthetische Formreflexionen und das Konzept der ‚inneren Form‘

Es ist Aristoteles, der die Begriffsdichotomie von ‚Form‘ (forma, morphĂ©) und ‚Materie‘ (hyle) in die Philosophie einfĂŒhrt. Er ordnet die Form der Materie ĂŒber und bestimmt sie als das „Sosein eines jeden Dings und sein erstes Wesen“ (Metaphysik, 7,7, 1032 a-b). KĂŒnstlerische Produktion ist fĂŒr ihn die Realisierung einer intendierten Form durch den Arbeitsprozess. Form und Inhalt bilden im Werk eine Einheit. In Abweichung davon konzipiert Plotin eine ‚innere Form‘ in der Seele des Produzenten, die der ‚Àußeren Form‘ im realisierten Werk vorangeht und der platonischen ‚Idee‘ entspricht (vgl. Schildknecht 2007, Bd. 1, 613). Zu Recht spricht Klaus StĂ€dtke bezogen auf die antike Begriffsbildung von ‚Form‘ und ‚Materie‘ von einer zweifachen Relationierung: zum Stofflichen auf der einen Seite, zu Idee und Bedeutung auf der anderen:
Form steht in einer unaufhebbaren Relation zu ‚Materie‘, ‚Material‘, ‚Stoff‘, d. h. zu einem Nicht-Geformten (bzw. Formlosen), und andererseits zu ‚Zweck‘, ‚Inhalt‘, ‚Bedeutung‘, ‚Idee‘, d. h. zu einem geistigen, das die Formung verursacht, durch sie zur Existenz gebracht und durch die gestaltete (materialisierte) Form reprĂ€sentiert wird. So bedeutet attributivisch ‚formal‘ in diesen Relationen das bestimmende Moment, ‚material‘ hingegen das bestimmte Moment. (StĂ€dtke 2001, 463-464)
Die Differenzierung zwischen Ă€ußerer Erscheinung und Inhalt prĂ€gt in Nachwirkung antiker AnsĂ€tze die mittelalterliche Ästhetik ebenso wie die der Renaissance. In mittelalterlichen Form-Diskursen ist das Konzept der Proportion prĂ€gend, ĂŒber das der Begriff des Schönen bestimmt wird. Entsprechend orientieren sich Ă€sthetische Reflexionen vielfach an mathematischen und architektonischen Vorstellungen. FĂŒr die Poetikgeschichte des Form-Begriffs besonders folgenreich ist die Horaz’sche Forderung, das poetische Werk möge eine geschlossene Einheit bilden, ‚simplex et unum‘ sein. In der AufklĂ€rung allerdings wird diese Forderung allmĂ€hlich zurĂŒckgenommen, vor allem unter dem Einfluss der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens; KomplexitĂ€t und ‚Mannigfaltigkeit‘ sind im Folgenden eher positiv konnotiert. Konzepte der Mischung, der Wechselwirkung, der PluralitĂ€t und der Vieldeutigkeit erscheinen sukzessiv als Ă€sthetisch relevant - sei es, dass das Ă€sthetische Artefakt in Analogie zum lebendigen Organismus gedacht wird, sei es, dass es als dessen betont artifizieller Gegenentwurf erscheint. Das Nachdenken ĂŒber Ă€sthetische Formen ist von der Neuaushandlung der Relationen zwischen Einheit und Vielheit, Einfachheit und KomplexitĂ€t, Transparenz und Polysemie evidenterweise nachhaltig betroffen; die Formdiskurse sind durch entsprechende Sprachbilder, Vergleiche und Metaphern geprĂ€gt.

Autonomisierung der Ästhetik und Formbegriff: die ‚inneren Formen‘ und das Innere des Produzenten

Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts kann von einem genuin Ă€sthetischen Form-Begriff nicht gesprochen werden. Als die Ästhetik dann zum eigenstĂ€ndigen Diskurs wird, gewinnt der Form-Begriff erkennbar an Bedeutung (dazu Burdorf 2001, 46-47), ablesbar u. a. an EnzyklopĂ€die-Artikeln und Ă€hnlichen Quellen. Im Zusammenhang damit entsteht eine eigenstĂ€ndige Form-Ästhetik, die sich von der Funktion löst, nur eine technisch-‚richtige‘ Textgestaltung zu lehren. Das Begriffspaar „Form und Inhalt (Gestalt/Stoff, Gehalt)“ gewinnt tragende Bedeutung (Schwinger 1972, Sp. 975-977). Außen-Innen-Metaphoriken sind im Horizont eines Diskurses, der SubjektivitĂ€t zunehmend nachdrĂŒcklicher als ‚Innerlichkeit‘ interpretiert, von besonders suggestiver Wirkung. Vor allem die Plotinische Ideenlehre bietet ihren neuzeitlichen Rezipienten ein Konzept der Beziehung zwischen Ă€ußerer Erscheinung und innerer Form, das die Überwindung des Ă€lteren Formbegriffs, demzufolge den vorgĂ€ngigen Inhalten gemĂ€ĂŸ dem aptum eine Form zugeordnet wird, gestattet. Shaftesbury knĂŒpft an Plotin an und spricht von einer inward form als einer Naturkraft, welche als forming power Ă€ußere Formen hervorbringe. Der Dichter respektive KĂŒnstler erscheint als formgebende Instanz, wobei sein Inneres - bei Shaftesbury und seinen Nachfolgern - als Fundus derjenigen Formen gilt, auf den dann bei der Ă€ußeren Gestaltung zurĂŒckgegriffen wird.
Seit sich im achtzehnten Jahrhundert ein genuin Ă€sthetischer Formbegriff konstituiert (so lĂ€sst sich generalisierend feststellen), wird das, was die Form eines Werks ausmacht, nicht mehr als etwas betrachtet, das man aus einem gegebenen Bestand auswĂ€hlt, um damit möglichst effizient seine Zwecke zu verfolgen. Metaphorisch grundierte Vorstellungen eines zweckmĂ€ĂŸigen Vorgehens mittels bereitstehender Instrumente, eines Zurichtens vorgegebener Materie treten tendenziell (wenn auch nie ganz) zurĂŒck. Über das jeweilige Werk respektive Projekt selbst wird nun vielmehr reflektiert, indem ĂŒber eben seine Form reflektiert wird - und in Zusammenhang damit ĂŒber den Arbeitsprozess sowie ĂŒber den Rezeptionsprozess (vgl. Burdorf 2001, 12, Kap. II, 2).
Die Shakespeare-Rezeption des achtzehnten Jahrhunderts steht u. a. im Zeichen kontroverser EinschĂ€tzungen klassizistischer und antiklassizistischer AnsĂ€tze und wirkt sich auch auf den Form-Diskurs prĂ€gend aus. An Positionen klassizistisch-französischer Ästhetik orientiert, distanziert s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. I Einleitung
  5. II Historischer Abriss II.1 Konzeptgeschichten der Form
  6. II Historischer Abriss II.2 Formalistische Wege
  7. III Zentrale Fragestellungen III.1 Formtheorien
  8. III Zentrale Fragestellungen III.2 Formverfahren
  9. III Zentrale Fragestellungen III.3 Gattungswissen und -transformation
  10. III Zentrale Fragestellungen III.4 Kulturen der Form
  11. IV InterdisziplinĂ€re Implikationen und Konzepte IV.1 Formphilosophie
  12. IV InterdisziplinĂ€re Implikationen und Konzepte IV.2 Medien-Formen
  13. IV InterdisziplinĂ€re Implikationen und Konzepte IV.3 Form als Funktion
  14. IV InterdisziplinĂ€re Implikationen und Konzepte IV.4 Erlebte Form
  15. IV InterdisziplinĂ€re Implikationen und Konzepte IV.5 Form als Performance
  16. V Anhang
  17. Personenregister
  18. Sachregister
  19. Grundthemen der Literaturwissenschaft Herausgegeben von Klaus Stierstorfer