EBERHARD
Erinnerungsleuchtpunkte
Ich habe mein Projekt, Fluchtgeschichten von älteren Menschen aufzuschreiben, noch nicht begonnen. Doch schon im Vorfeld begrüßt Eberhard, ein Freund unserer Familie, mit Freude mein Vorhaben. Erst als ich Jahre später nachfrage, erfahre ich, dass er selbst als Zehnjähriger flüchten musste. In all den Jahren bestärkt er mich immer wieder nachdrücklich in meiner Interviewtätigkeit. Ich freue mich, dass Eberhard sich am 7. Februar 2010 bereit erklärt, mir seine Fluchtgeschichte zu erzählen.
Eberhard lebte von 1943 bis 1945 mit seiner Familie in Posen im Warthegau. Am 16. Januar 1945 überschritt die Rote Armee die Grenzen des Warthegaus. Gauleiter Greiser gab am Morgen des 19. Januar in der Presse bekannt: »Der Warthegau bleibt auf ewig deutsch.« Das bedeutete: Vorzeitige Flucht wird mit dem Tod bestraft. Am Abend des 19. Januar wurde die Flucht freigegeben. Sofort flüchtete Eberhards Mutter mit ihren sechs Kindern am 20. Januar 1945. Am 22. Januar 1945 erreichte die Rote Armee die Stadt Posen.
Der Krieg ging zu Ende. Mitte Januar 1945 war die Stadt Posen zur Festung gegen die Russen erklärt worden. Dadurch hieß es am 20. Januar: Wir Zivilisten müssen raus. Das war der letzte Abend noch, an den ich mich erinnere. Wir sitzen alle am Tisch, meine Mutter mit uns sechs Kindern. Ob mein Vater dabei war, weiß ich nicht mehr. »Kinder, zieht alte Sachen an«, sagte meine Mutter zu uns in der Meinung, vielleicht kommen wir wieder.
Mein Vater musste in diesen Tagen sein ganzes Amt, alle seine Akten mit dem Dienstwagen nach Berlin bringen. Das war sicher nicht ganz geheim, aber eine halbmilitärische Sache. So denke ich mal. Der Vater, als Beamter verpflichtet und freigestellt, war nicht im Krieg. Zuletzt arbeitete er in Posen und war dort Leiter des gesamten Bereichs, was man heute das Arbeitsamt nennt. Er hatte wesentlich mit der Beschaffung von Arbeitskräften für die deutsche Industrie zu tun, also mit polnischen und auch jüdischen Arbeitern. So ist mein Verdacht. Also hatte er eine relativ wichtige Position, die ich als Kind aber nicht genau durchschauen konnte. Er wurde morgens mit dem Wagen abgeholt und war dann tagsüber immer weg.
Nun beginnt die eigentliche Geschichte: Mein Vater ist auf einem Bauernhof aufgewachsen und war der Älteste. Und, das war damals etwas Besonderes, er hat nicht den Bauernhof übernommen, sondern er hat studiert. Er wurde, wie man so sagte, promovierter Nationalökonom, also Volkswirtschaftler, und hat auch Karriere gemacht. Er ist auch in die Partei eingetreten. Ich habe das zwar nie gemerkt. Nie habe ich ihn mit Parteiabzeichen gesehen. Aber viel später habe ich das erfahren. Mein Vater war ein ganz akkurater, pflichtbewusster, zuverlässiger Beamter. So wie man später immer gesagt hat, »die haben mitgemacht«, ohne im Grunde alles mitzuverantworten.
Mein Vater war wohl mit meiner Mutter überzeugt, dass das mit dem Hitler doch eine ganz gute Sache wäre. Denn beide kamen aus der Zeit der Arbeitslosigkeit der Dreißigerjahre. Mein Vater und meine Mutter haben sich bei der Fürsorge für arbeitslose Jugendliche in Köln kennengelernt. Sie hatten einen sehr starken sozialen Impuls. Aber politisch waren sie völlig naiv, denke ich mal, oder jedenfalls zurückhaltend.
Meine Mutter war sehr von der Jugendbewegung geprägt. Sie war eine ganz starke Frau in der Jugendbewegung im Kronacher Bund. Sie ist ja auch eine bekannte Person dort gewesen. Die beiden treffen sich in Köln. Dann beginnt das Leben der Familie, erst in Elberfeld, also in Wuppertal. Ich bin 1934 in Gerolstein in der Eifel geboren, weil mein Vater damals das Arbeitsamt des Gebiets der Eifel übernahm. Das hatte sicher schon etwas mit den Vorbereitungen des Krieges zu tun: Aufbau der Westfront. Denn wir merkten als Kinder, dass in dieser Zeit in Gerolstein immer auch fremde Männer bei uns untergebracht waren.
Als 1939 dann am 2. September der Krieg begonnen hatte und Polen besetzt und zerstört worden war, wurde mein Vater sofort nach Danzig geholt. In Danzig sollte er zunächst alleine wieder ein Arbeitsamt aufbauen.
Wir sind Anfang 1940 vom Rheinland in das Gebiet bei Danzig gefahren. Ich werde es nie vergessen, weil das eine lange Zugfahrt war, über 1100 Kilometer. Diese ganzen Dinge mit dem Kriegsanfang waren auch so überraschend. Wir waren noch in der Ferienzeit an der See, an der Nordsee in Cuxhaven, wie es dann plötzlich hieß: »Der Krieg beginnt.« Das war alles so aufregend. Wir wurden in die Züge gesteckt. Unser Zug war völlig voll. Wir fuhren nach Köln. Und in der Nacht hat der Vater uns abgeholt. Also, es war alles etwas turbulent für uns, diese Kriegsanfangsgeschichten. Dann musste die ganze Familie nach Danzig gehen, richtig als Umzug. Damals waren wir schon vier Kinder. Das fünfte Kind wurde dann in Danzig geboren.
Wir haben das Leben einer Beamtenfamilie geführt. Das war schön. Wir haben gute Schulen besucht. Ich bin ins Gymnasium gekommen. Da legte Vater großen Wert darauf. Aber was er beruflich machte, weiß ich nicht so. Wir waren auch vom Krieg eine Zeit lang sehr verschont gewesen. Ich weiß, da kamen zu Hause Verwandte bei uns durch. Die waren Offiziere. Wir Kinder fanden das mit den Orden so toll.
Einmal kam ein Zug in Danzig vorbei. Da hieß es: »Da ist der Führer drin!« – Hitler. Dann standen wir da alle. Wir meinten, wir hätten ihn gesehen. Aber was das nun war, dass die Soldaten bei uns durchzogen nach Russland – das alles war uns Kindern völlig unklar.
Anfang 1943 wurde mein Vater nach Posen versetzt, weil dort noch einmal eine größere Aufgabe für ihn war. Und wir zogen wieder mit. Wir konnten eine sehr große Wohnung beziehen, ich vermute von jüdischen Leuten. So eine große Wohnung mit einer Marmortreppe haben wir noch nie gehabt. Mein Vater wurde wieder mit dem Wagen abgeholt. Der Fahrer nahm vor uns Kindern immer die Mütze ab. Dann fuhr der Vater weg und abends kam er irgendwann wieder.
Die Mutter war das Zentrum der Familie. Sie war eine sehr musikalische Frau und hatte von der ganzen Jugendbewegung so dieses ganze Fröhliche. Sie spielte Laute und Geige und hat mit uns gesungen. Wir waren privilegiert. Wir hatten zwei Haustöchter. Wir konnten das Gymnasium besuchen. In den Sommerferien waren wir manchmal auf einem Rittergut eingeladen.
Vom Krieg hatten wir bisher nicht so viel mitbekommen. Wir hörten immer nur, wenn Leute kamen, was da alles so im Westen von Deutschland an Zerstörungen war. Man sagte damals »aus dem Reich«. Posen hat zwei Angriffe erlebt. Ja, das haben wir mitbekommen, aber nicht so sehr.
Ich werde nie vergessen, als wir in der großen Wohnung in Posen sitzen, kommen plötzlich am 6. Juni 1944 die Nachrichten von dem Einfall und Eindringen der Amerikaner in die Normandie. Und da soll ich meine Eltern gefragt haben, ob es denn noch eine Chance gäbe, dass der Krieg gewonnen würde. Ich fragte, ich war etwas vorlaut, ob der Krieg überhaupt zu gewinnen ist. Ich bekam sofort eine ganz strenge Ermahnung: So etwas dürfe ich nicht sagen. Ja, man glaubte daran.
Die Sachen zogen sich ja zusammen. Mein Bruder und ich waren noch in einer sogenannten KLV Kinderlandverschickung mit der Schule. Das war weit im Osten, in der Nähe von Lodz. Es war eine kleine Stadt, in der man eine Schule eingerichtet hatte. Dort waren Teile des Gymnasiums von Posen als eine Art ausgelagerte Schule. Und nun war die Dramatik 1944, dass doch offensichtlich die Front immer näher kam. Man wusste das schon von Ostpreußen.
In dieser KLV-Schule, das habe ich in Erinnerung, war eine fanatisierte Lehrerschaft. Jedenfalls der Rektor war es. Das ist selbst meinem Bruder und mir aufgefallen. Er war so ein Nazimann. Der holte große HJ-Führer zu uns. Wir wurden als Schüler informiert, gerade mal zehn Jahre alt war ich, dass der Führer eine Wunderwaffe hat: Mit der kann er jetzt noch alles machen. Wir haben uns das angehört. Einerseits mussten wir offiziell alles ja mitmachen. Andererseits haben wir uns eine Nebenwelt aufgebaut, indem wir nur Karl May gelesen haben.
Diese Schule in Lodz war keine Nazi-Eliteschule. Wir waren in einem humanistischen Gymnasium. Das galt als eine Art Elitegymnasium. Hitler hat ja eine andere Schulform propagiert. Diese humanistischen Gymnasien waren kleine Schulen und auch so ein bisschen besonders. Man sagte »die Reichsdeutschen«. Wir waren ja eine besondere Clique: die Deutschen, die aus dem Westen sozusagen als Industrielle oder als Beamte oder als Offiziere in diesen Warthegau kamen. Das war ja ein Gebiet, das von Hitler rein deutsch gestaltet werden sollte. Das war die Planung.
Und in diesem KLV-Lager waren wir sicher auch eine Art Elite. Ich muss hier auch sagen: Da war ja die Hitlerjugend und das Jungvolk. Das stand ja an. Ich weiß, mein ältester Bruder war zuerst dran, und ich hatte den immer so beobachtet. Der war nicht sehr sportlich. Jedenfalls fand ich das nicht so toll, wie der sich da mit seiner Uniform aufgeführt hat. Als ich dann drankam, dachte ich: Jetzt richtig! Ich war ein begeisterter Jungvolkjunge. Ich war in einem Fähnlein Nummer 1, dem »Singfähnlein«.
Eberhards Mutter floh alleine mit ihren sechs Kindern aus Posen und rettete ihnen so das Leben.
Eberhards Mutter als junge Frau im Garten der Familie
Wir haben in Posen erlebt, wie Baldur von Schirach oder andere Parteigrößen kamen. Wir mussten dann vor dem Schloss in Posen vorbeimarschieren. Dort war die Parteizentrale. In der Aula der Universität war eine große Veranstaltung von Nazigrößen. Wir mussten dann als Kinder, als Jungvolk vorne auf der Bühne stehen und diese Lieder singen. Und ich stehe da vorne in der ersten Reihe, und wir haben gesungen. Ich weiß noch, ich habe da etwas herumgehampelt. Da haben die mich sozusagen zusammengepfiffen. So etwas tät man nicht, wenn man da vorne steht.
Das war auch noch die Hitlerjugendzeit. Ich habe das begeistert mitgemacht. Ich fand diese Führer, die dann solche Schnüre hatten, weiße und rote Schnüre, ganz toll. Ich musste sogar ein bisschen mitarbeiten. Man musste immer »zum Dienst« gehen und die anderen Hitlerjungen, die dabei waren, benachrichtigen.
Einmal bin ich zu einer Familie gekommen, hab geklingelt und gesagt: »Heil Hitler! Ich möchte den Dienst anmelden für morgen.« Diese Frau sagte: »Das passt uns aber gar nicht.« Die war da gar nicht dafür. Das habe ich als völlig unmöglich empfunden, wie die sich mir gegenüber benahm. Dass sie nicht »dafür« war. Wer weiß, warum? Vielleicht war ihr Mann gerade gefallen? Das wusste ich alles ja nicht. Wie gesagt, völlig naiv mitgemacht mit zehn, elf Jahren. Auch alle Zeltlager habe ich mit dem Jungvolk mitgemacht.
Von einer eventuellen Flucht haben wir hier überhaupt nichts gehört. Es war immer die Fassade. Wir halten durch! Wir halten durch! Wir sind die Deutschen hier und wir haben diese Führer! Wir sind immer nur solchen Männern begegnet, die uns gesagt haben: Wir kämpfen und wir sind Vorbilder.
Ende 1944 zogen sich die Dinge ja zusammen. Dann muss wohl eine sehr wichtige Entscheidung gefallen sein. Das höre ich heute noch von meinem Klassenkameraden, der noch lebt. Sein Vater, ein Fabrikant, wurde auch wie wir aus dem Westen nach Posen geholt. Er erzählte mir, dass eine sehr wichtige Entscheidung gefallen sei. Mein Vater hätte mit meiner Mutter entschieden, dass wir nach Weihnachten nicht wieder in dieses KLV-Gebiet zurückgehen sollten. Meine Mutter war da wohl die treibende Kraft bei dieser Entscheidung.
Weihnachten 1944 kamen wir zwei Brüder zurück nach Posen in die Weihnachtsferien. Und die Eltern hatten entschieden: Ihr geht nicht mehr dahin zurück. Der Klassenkamerad behauptet, dadurch hätte der Vater uns das Leben gerettet. Denn ein Teil der Schüler ist noch einmal zurückgegangen, weil das ein Befehl war. Man weiß nicht, was aus den Kindern geworden ist. Also, wir durften zu Hause bleiben.
Mitte Januar 1945 wurde die Stadt Posen zur Festung erklärt. Und eben in den letzten Tagen im Januar war schon klar: Jetzt geht es auf die Flucht. Denn man merkte es auch in der Stadt: Große Wagen, Marke Mercedes, fuhren schon in Richtung Westen. Da setzten sich schon die Polizei und Teile des Militärs ab. Für uns Kinder war das nicht durchschaubar.
Dann hieß es am 20. Januar: »Festung Posen. Ihr Zivilisten müsst raus.« Es wurde in der Stadt bekannt gegeben. So denke ich. Das war eine allgemeine Bekanntmachung. Aber es traf einen in einer gewissen Weise doch unvorbereitet. Ich hatte das Gefühl – und unsere Mutter sagte das auch: »Na ja, wir kommen wieder.«
Wir hatten eine sehr schöne Wohnung und ein schönes Haus. »Wir kommen wieder.« So naiv war auch die Familie. Die Schwere der Entscheidung haben wir Kinder sowieso nicht gesehen. Und dadurch war das für uns alles sehr überraschend. Ich weiß nur von diesem Januarabend, von dem ich schon erzählte: Wir sitzen noch um den Tisch. Es gibt die letzten Kirschen aus dem Keller und Klöße dazu. Dann müssen wir uns anziehen. Jeder muss sich einen kleinen Rucksack packen. Und dann ab in die Nacht. Warum denn nachts? Das weiß ich nicht. Es wurde gesagt: »Da kommen schon die Russen!« Es hieß immer: »Die Russen kommen. Die Russen kommen.« Ob das nur Gerüchte waren? Es war schon fast eine Panik auch. Es war so ungeplant. Das ging so schnell. Noch so bis Weihnachten ist alles normal, und plötzlich bricht das alles zusammen.
Irgendwelche Angstgefühle hatte ich nicht. Nein, überhaupt nicht. Ich fand das abenteuerlich. Aber ich denke, da fing das schon an, dass ich das Gefühl hatte: Unsere Mutter, die hält uns. Sie ist unser Halt. Sechs Kinder hat sie in der Sorge. Und so, glaube ich, war das unbewusst meine Sicherheit, diese Mutter. Die Mutter, die ist stark. Das ist immer mein Gefühl gewesen. Sie war auch sportlich. Ich erinnere mich, wenn die mit uns Schlitten fuhr, noch in der Eifel, dann saß sie hinten auf dem Schlitten und wir vor ihr. Und dann fuhr sie mit uns den Berg runter. Also, sie war eine starke Frau. Das kam auch aus der Jugendbewegung. Sie hatte sich einen eigenen Weg aus ihrem Elternhaus gesucht. Das war ein Geschäftshaushalt gewesen.
Wir haben ihre Freundinnen später noch kennengelernt. Wenn wir ihre beste Freundin besuchten, merkten wir, was das für emanzipierte Frauen waren. Obwohl sie sonst in der äußeren Erscheinung brave Mütter waren, die auch gerne Kinder hatten. Meine Mutter wollte Familienmutter sein. Sie war sicher auch die Stütze meines Vaters. Er brachte ja nun das Geld und hatte die Stellung. Familienmütter – aber dennoch emanzipierte Frauen. Wenn ich ihre Freundin gesehen und erlebt hatte, was die für eine starke Meinung hatte. Das hat sich sicher im Alter noch mehr herausgebildet. Aber so selbstbewusst waren die Frauen aus der Jugendbewegung.
Wir haben das mal erlebt: Diese Leute haben sich an der Werra die Burg Ludwigstein gebaut. Meine Mutter hat da mitgemacht. Der Wandervogel war eine idealistische, wir würden heute sagen eine »grüne Bewegung«. Die haben getöpfert, haben soziale Ideen entwickelt, wollten aus dem Bürgertum herauskommen. Das muss man wissen. Obwohl diese Frauen äußerlich sozusagen »brave Familienmütter« waren. Heute würden manche Frauen sagen: Die waren ja völlig angepasst. Aber in ihrer Position als Mütter waren die für uns eine ganz starke Person. Und deswegen habe ich nie Angst gehabt. Nie. Eine Stelle werde ich noch erzählen, wo ich Angst gehabt hatte. Aber sonst wusste ich: Irgendwie geht das schon. Die Mutter macht das schon.
Damals war Mutter 46 Jahre alt. Sie ist Jahrgang 1899. Das heißt, sie hatte mit 44 Jahren noch einmal ein Kind ...