Öl-, Migrations- und Terror-Hotspot und Dauerkriegsschauplatz: Europas shithole country Libyen feiert seinen Zehnten – unter reger internationaler Beteiligung
Wenn das Thema Libyen in der deutschen Öffentlichkeit zum Gegenstand von Meldungen, Kommentaren, Hintergrundexpertisen wird, dann gibt es in aller Regel nichts Erfreuliches zu berichten: Seit nunmehr zehn Jahren tobt, auf- und abflauend, ein Krieg mit unübersichtlich vielen inneren Beteiligten und einer Reihe von auswärtigen – wie vermeldet wird, nicht nur befugten – Unterstützermächten. Letztere halten mit Geld und Waffen nicht nur den Krieg am Laufen, sondern veranstalten in größeren Abständen Konferenzen an unterschiedlichen Orten, verkünden im Anschluss ihren festen Willen, den Krieg zu beenden, von dem sie so auch offiziell zu Protokoll geben, dass es ihrer ist, und berufen sich dabei allesamt auf hohe, wenn auch teilweise unterschiedliche weltpolitische Prinzipien und Regeln. Nach der zum je eigenen Interesse jedes Mal erstaunlich gut passenden diplomatischen Auslegung der Resultate dieser Treffen schreiten sie dann zur praktischen Anwendung der jeweiligen Vereinbarungen, was genauso regelmäßig in den Fortgang der Auseinandersetzungen mündet. Unter Anleitung dieser rührigen auswärtigen Mächte haben es die Kriegsparteien vor Ort inzwischen zur zweiten „Regierung“ mit dem bezeichnenden Namen „Government of National Unity“ (GNU) gebracht, die wie ihre auf den Namen GNA („Government of National Accord“) getaufte Vorgängerin zwar nicht in allen Teilen der Hauptstadt, aber dafür „international anerkannt“ ist. Sogar das offizielle Ziel steht, im Dezember d.J. diejenigen, die als „Bürger Libyens“ rangieren, zur Wahl zu rufen; in ihren gewalttätigen Auseinandersetzungen lassen sich die verfeindeten Akteure vor Ort davon, nach allem, was man erfährt, nicht weiter stören. Dazwischen irren Flüchtlinge auf libyschem Territorium oder auf dem Mittelmeer umher, die von einigen der libyschen Milizen für Schlepperdienste nach Strich und Faden ausgepresst und von anderen Bewaffneten – manche haben sogar Uniformen mit Hoheitszeichen – inzwischen wieder sehr verlässlich und zu hohem Prozentsatz an die libysche Küste zurückgeschleppt werden, um sie dann in diverse Zwangsdienste zu nehmen oder einfach verrotten zu lassen. Manchmal kommt es dabei zu Exzessen und größeren Unglücken, die europäische Politiker gar nicht leiden können; sie bedauern dann zutiefst, dass die libysche Flüchtlingsabwehr, die zur europäischen Festungspolitik zumindest im Resultat sehr gut passt, ein Grauen produziert, das zur „europäischen Idee“ irgendwie nicht passt. So gut eingedämmt der das humanistische Europa bedrohende Menschenstrom inzwischen wieder ist, so gut fließt der Strom von Öl aus Libyen heraus, wiederum vor allem nach Europa, das neben seiner Werte- bekanntlich auch noch eine kapitalistische Realwirtschaft betreibt, also mit der feinen Ware – gehobene Kategorie „sweet crude“ – viel anzufangen weiß. Nach den Regeln des zivilen Rohstoffschachers fließt viel Geld in Gegenrichtung zurück; dies, wie mitgeteilt wird, sogar zu größeren Teilen über die international legitimen Kanäle. Ab und zu wird ein Ölterminal besetzt oder zerstört, manchmal werden Förderung und Transport von Öl sogar landesweit nahezu komplett heruntergefahren, dann wird unter der Rubrik „Wirtschaft und Finanzen“ fachkundig die Frage gewälzt, ob das Auswirkungen auf den Ölpreis hat; und zwischendurch erschießt amerikanisches Militär per Drohne ein paar militante Islamisten.
I. Libyen-Krieg 2011: Noch ein Ordnungskrieg zerstört noch ein Stück imperialistischer Ordnung
Dabei war vor zehn Jahren alles so gut gedacht und begann ja auch so schön: In Protesten gegen den im Westen als Problem eingestuften Staatsführer Gaddafi, die sich – wie gerufen – bald zu blutigen Unruhen auswuchsen, weil der Diktator nicht abtreten wollte und die Protestierer ebenfalls nicht nachgaben, entdeckte vor allem Frankreich eine Gelegenheit: Mittels eines nach amerikanischem Vorbild und mit amerikanischer Unterstützung herbeigebombten Regime-Change im Namen der unterdrückten Libyer sollte der Grundstein für eine schöne neue, französisch definierte, europäisch ausgeübte Ordnung übers Mittelmeer gelegt werden, an der kein künftiger libyscher Herrscher, kein sonstiger arabischer Despot und erst recht keiner der weltpolitischen Rivalen Frankreichs und Europas vorbeikommen sollte. 1)
So nahmen die Dinge auch ihren hoffnungsvollen Anfang und Verlauf: Der humanitäre Luftkrieg bombte Gaddafi und die Seinen in kürzester Zeit vom Status institutioneller Herrschaftsgewalt auf den einer Partei unter mehreren in einem Krieg um Teile des Landes und deren Bewohner zurück. Weil auch ansonsten die Gaddafi-Gegner die auswärtige Hilfe erhielten, die sie für ihre Rolle als Kanonenfutter für westlich-europäische Ordnungsambitionen brauchten, war der Ex-Herrscher recht bald und definitiv beiseitegeschafft. Aufseiten der Opposition hatten die Westmächte schon vor dem endgültigen Abgang Gaddafis nach Figuren Ausschau gehalten, die ihnen passten, und waren in Libyen selbst und vor allem in den libyschen Exilanten-Communities in den USA und in Frankreich auch schnell fündig geworden. Als „einzig legitime Vertreter des libyschen Volkes“, die die Anerkennung der Welt verdienen, waren ja in dieser Etappe im Prinzip alle geeignet, die nur entschieden genug den Standpunkt vertraten, dass Gaddafi weggehört. 2) Die brachten die auswärtigen Aufstandspaten per Anerkennung als alternative Führer in Stellung und nahmen ihnen auch gleich die Mühe ab, sich über die Zukunft Libyens große und vor allem allzu selbständige Gedanken machen zu müssen: „ungeteilt“ und „in den anerkannten nationalen Grenzen“, „friedlich“ und den „Regeln der internationalen Gemeinschaft“ verpflichtet, außerdem „demokratisch“ und „modern“ sollte das neue Libyen sein, was durchaus passende Umschreibungen dafür waren, dass Libyen eine national selbständig wirtschaftende prowestliche Ölquelle bleiben sollte, nur diesmal eben ohne den störenden Ehrgeiz eines nationalen Führers, aus dem Land ein gegenüber den Großmächten in West und Ost eigenständiges Staatssubjekt zu machen, und stattdessen verlässlich einsortiert als strategischer Besitzstand Europas.
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Gekommen ist es bekanntlich, siehe oben, anders. In ihrer Euphorie der Neuordnung eines Stücks der von ihnen beanspruchten Mittelmeerregion, die darum „südliche Gegenküste Europas“ heißt, haben sich die kriegslustigen Mächte nämlich darüber hinweggesetzt, dass sie mit der ihnen unbequemen Herrschaft Gaddafis eben auch die einzige politische Herrschaft über das Land zerstören. So viel war an den zum Feindbild stilisierten Schilderungen der schlimmen, schlimmen Verhältnisse in Libyen als „Ein-Mann-Diktatur“ nämlich wahr: Der nationale Zusammenhalt innerhalb der kolonial und nachkolonial, also allemal von außen gesetzten Grenzen des Sahara-Abschnitts hatte ausschließlich darin bestanden, dass Gaddafi ihn verordnete, mit den ihm ergebenen Mannschaften durchsetzte, persönlich repräsentierte und damit das Land und seine Leute auf seine Vorstellungen von einem definitiv modernen, irgendwie islamisch-arabisch-beduinisch volksfreundlichen Staatsleben unter seiner Lenkung und Leitung verpflichtete. Die Mittel dafür bezog er samt und sonders aus der Rolle Libyens als Ölquelle fürs westliche Ausland. Mit dem dabei verdienten Geld besorgte er sich die Gewaltmittel, die er für die Etablierung und Sicherung seines Regiments brauchte; und er stiftete den Leuten, die er zu dem Volk formieren wollte, als welches er sie definierte, mit dem Ölgeld zugleich die Einkommen, mit denen sie sich an dem gleichfalls so gut wie vollständig aus dem Ausland bezogenen, fürs gesellschaftliche und individuelle Dasein nötigen sachlichen Reichtum beteiligen konnten. Geblieben ist nach seinem Abgang die Abhängigkeit des Landes vom Ölexport als einziger Devisenquelle und vom Import der sachlichen Mittel des Lebens und damit die Abhängigkeit aller Libyer vom Zugriff auf möglichst große Teile davon.
Der ist seitdem Gegenstand gewaltsamer Auseinandersetzungen, für die sich vor allem regionale und innerhalb der Regionen familien-, clan- und stammesmäßig organisierte Vereine zusammenrotten und militärisch ausstatten. 3) Im Moment von Gaddafis Entmachtung und seither machen sie sich über die zivilisatorischen Hinterlassenschaften dieser Epoche her, versuchen insbesondere, Ölförderanlagen, Pipelines und Hafenterminals in ihre Gewalt zu bringen, um direkt von deren in der Regel ausländischen Betreibern Tribut zu beziehen oder einen größeren Anteil an den von den ausländischen Konzernen an die offiziellen Stellen gezahlten Geldern verlangen zu können; als Gegenleistung dafür stellen sie sich für Verteidigungsdienste gegen konkurrierende Gruppen zur Verfügung. Auf dieser Basis entwickelt sich eine barbarische Ökonomie der Territorial- und Bandenkriege, in der von stationärem und mobilem Gerät, Expertise, Versorgung und Verpflegung bis hin zu den Mannschaften und einem irgendwie loyalen Fußvolk alles für Geld zu haben und also umgekehrt zu Geld zu machen ist. Etwas Politisches im Sinne einer Auseinandersetzung einander ausschließender Programme einer „libyschen Nation“ hat das alles für die Waffenträger und ihre Feldkommandeure nicht. Das heißt umgekehrt, dass sich alle doch zu Politikern berufen fühlenden Möchtegern-Erben Gaddafis auf diese bewaffneten Kräfte zu beziehen, also sie zu bekämpfen oder zu kaufen haben – beides jeweils immer in Konkurrenz zu anderen mit gleich gelagerten Ambitionen. Exakt soweit sie das vermögen, reicht ihr Machtwort dann auch. Wie weit das genau ist, können darum selbst intime Kenner der Szene oft nicht so recht beantworten – ebenso wenig wie die Frage, ob der im größten Palast der jeweiligen „Hauptstadt“ oder „Hochburg“ Residierende von den umliegenden Milizen mehr beschützt oder mehr belagert wird.
Die Einzigen, deren Gewalt einem wirklich höheren Zweck dient, sind die von Gaddafi unterdrückten Islamisten. Die nutzen das Ende seiner Kontrolle über das Staatsgebiet dazu, ihren nun entfesselten gewaltsamen Kampf für die Unterwerfung des Diesseits unter die von ihnen befolgten und vertretenen Regeln der Gottgefälligkeit zu führen. Die lokalen Führer und Aktivisten dieses Kampfes verstehen sich subjektiv als Teil eines viel größer dimensionierten arabisch-islamischen Reiches in Gründung, bringen es objektiv immerhin dazu, Libyen zu einem neuen Kampfplatz, Stützpunkt und Rückzugspunkt der antiwestlichen und dezidiert antieuropäischen islamistischen Internationale mit ihren zum Teil erbittert konkurrierenden, mitunter kooperierenden Abteilungen vom IS bis zu al-Qaida zu machen – und kommen ansonsten auch nicht umhin, sich um die Finanzierungsquellen ihres bewaffneten Märtyreraktivismus zu kümmern, sich also an der Raubökonomie der libyschen Ölstaatsruine zu beteiligen.
II. Europas Mächte betreuen ihr Zerstörungswerk als Objekt ihrer Interessen und imperialistischen Ordnungsansprüche
Mit dem Desaster an ihrer „Gegenküste“, das sie mit ihrem Krieg angerichtet haben, pflegen die in dieser Frage wichtigen europäischen Mächte – die damals hauptkriegführende Macht Frankreich, das seinerzeit nur nolens volens mitbombende Italien 4) und auch das vor zehn Jahren entschieden kriegsabstinente Deutschland – ihren je eigenen Umgang, der dem gehobenen Anspruch dieser Nationen angemessen und daher an Zynismus nicht zu überbieten ist: Sie teilen sich ganz gepflegt ein, sorgen einerseits dafür, dass die ihnen unmittelbar wichtigen Interessen – im Wesentlichen Ölversorgung, Flüchtlingsabwehr, Terrorabwehr – bestmöglich zum Zuge kommen. Andererseits knüpfen sie daran unverdrossen Ansprüche auf Ordnung sowie – zwischen ihnen unterschiedlich bis gegensätzlich definierte – europäische Ordnungskompetenz und reproduzieren damit zugleich die Gründe dafür, dass die auf Dauer unerfüllt bleiben.
1. Europa sichert seine Interessen an dem kaputten Land
a) Öl und Gas
Den Beitrag Libyens zu ihrem jeweiligen nationalen Energiemix sichern sich die europäischen Nationen, so gut sie es vermögen; Staat und Ölkonzerne greifen dafür auf ihre jahrzehntelangen Geschäftsbeziehungen zu Libyen zurück. Die Ölkonzerne erbringen dabei in unermüdlicher Verfolgung ihres Geschäftsinteresses trotz – und teilweise auch dank – aller Widrigkeiten die national dienlichen Leistungen bei der Versorgung mit den strategischen Gütern Öl und Gas.
Die größten Anteile hat hier Italien mit seinem zu einem Drittel in Staatsbesitz befindlichen Petrokonzern Eni und den aus längst vergangener Zeit glücklich herübergeretteten und periodisch erneuerten Sonderbeziehungen zu seiner Ex-Kolonie Libyen. 5) Den nahezu kompletten Einbruch der libyschen Öl- und Gasproduktion in den Monaten des Krieges gegen Gaddafi haben Eni und all die anderen umtriebigen Konzerne zwar noch nicht vollständig, aber zu großen Teilen wettgemacht. 6) Produktionsausfälle und -schwankungen gibt es freilich angesichts der ungeordneten Gewaltverhältnisse immer wieder, durch Zerstörungen an Anlagen, aufgeschobene Reparaturen und Erneuerungen usw., was sich in der Gesamtbilanz in den entsprechenden Grafiken mit ihren auffällig unruhigen Kurven deutlich niederschlägt. Die in Bezug auf diese Kurven feinfühligen Manager von Eni und anderen Öl- und Gas-Kapitalen können darum nicht genauso feinfühlig sein, wenn es um die Methoden geht, die eigenen Geschäfte im Lande zu sichern, und um die „Ansprechpartner“, die sie sich dafür vor Ort suchen. Als solche kommen eigentlich alle Ganoven infrage, die Waffen und Mannschaften genug haben, um den technischen Ablauf von Exploration, Förderung, Transport und Verarbeitung des Öls und Gases zu stören, was im Prinzip damit zusammenfällt, dass sie all das in Reichweite ihrer Gewalt auch halbwegs sichern können, wenn sie mit genügend Geld dafür bezahlt werden. Allen voran Eni arrangiert auf diese Weise sein Geschäft und arrangiert sich mit der Lage, das heißt auch mit den jeweiligen Milizen, die mal da, mal dort die Oberhand gewinnen, mal als Abteilung der offiziellen Schutztruppen, mal gleich ganz offen auf eigene Rechnung. Da der Konzern die entscheidende Geldquelle jeder Gewalt ist, ist ihrerseits jede Miliz, die einer anderen die Bewachung eines Ölfelds abkämpft, schon bei der Übernahme daran interessiert, nicht gleich alles zu Klump zu hauen, sondern möglichst bald wieder in Betrieb nehmen zu lassen. All das summiert sich für Eni wie für seine Konkurrenten zu routiniert ausgerechneten und verbuchten Zusatzkosten. 7) Die können all diese Konzerne einigermaßen frei kalkulieren, weil sie als global agierende Unternehmen auf Libyen keineswegs so angewiesen sind wie umgekehrt die Libyer auf ihre Gelder. Diese einseitige Abhängigkeit der permanent kriegerisch um ihre Behauptung und selbst um ihre Existenz kämpfenden libyschen Ansprech- und Geschäftspartner sorgt auf ihrer Seite für eine Bescheidenheit in der Preisfrage, die – zusammen mit den anderen entscheidenden Kostenvorteilen durch die spezielle Qualität des libyschen Erdöls, die geringen technischen Schwierigkeiten der Förderung und für Eni die erfreulich kurze Entfernung ins italienische Stammland 8) – in den Kalkulationen der Ölkonzerne die eigentümlichen Zusatzkosten noch allemal aufwiegt.
In dieser herausfordernden Lage können sich Italiens Eni, Frankreichs Total, Spaniens Repsol und Konsorten darauf verlassen, dass sie bei ihren wichtigen und durch die unfriedlichen Zustände in Libyen bleibend unsicheren Beiträgen zur nationalen Energieversorgung von den staatlichen Energie- und Sicherheitsfunktionären gebührend unterstützt werden. Die Sicherung ihrer Geschäfte ist politisches Anliegen jeder Regierung in Rom, Paris und Madrid. Das gilt vor allem beim Umgang mit den wechselnden politischen Führern in der libyschen Hauptstadt, deren es zwischenzeitlich zwei gibt. Die Scheidelinie zwischen „international anerkannt“ und „selbsternannt“, an der alle offiziell festhalten, markiert jedenfalls nicht die Grenze, an der man, was die Anbahnung, Ausgestaltung und Sicherung von G...
