Nachwort
»Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Wo sie dieses nicht ganz mehr sein können, und schon in sich selbst den zerstörenden Einfluß willkürlicher und künstlicher Formen erfahren …, da werden sie als die Zeugen und als Rächer der Natur auftreten.«
Karl Kraus zitiert diese Sätze aus Schillers Abhandlung ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ von 1795 (F 443-444 v. 16.11.1916, S. 13), auf die ihn Leopold Liegler aufmerksam gemacht hat. Er versteckt unter der fast gleichgültig erscheinenden, farblosen Überschrift ›Zitate‹ weitere Textpassagen, in denen Schiller den Satiriker neben den Dichter stellt:
»Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale (in der Wirkung auf das Gemüt kommt Beides auf Eins hinaus) zu seinem Gegenstande macht. Dies kann er aber sowohl ernsthaft und mit Affekt als scherzhaft und mit Heiterkeit ausführen, je nachdem er entweder im Gebiete des Willens oder im Gebiete des Verstandes verweilt. Jenes geschieht durch die strafende oder pathetische, dieses durch die scherzhafte Satire.«
Die »pathetische Satire« rechtfertige sich stets aus dem »Ideal«, heißt es weiter. Nur der »Trieb nach Übereinstimmung« dürfe »jenes tiefe Gefühl moralischer Widersprüche und jenen glühenden Unwillen gegen moralische Verkehrtheit erzeugen«, der bei Juvenal, Swift, Rousseau, Haller und anderen zu beobachten sei. Sie alle hätten in »einem ausgearteten Zeitalter« gelebt. Die »schauderhafte Erfahrung moralischer Verderbnis« hätte »Bitterkeit in ihre Herzen gestreut«.
Was hier, im November 1916, in einer der schmalsten Nummern der ›Fackel‹ als Lesefrucht mitgeteilt wird, ist programmatisch für den »Dichter« und für den »Satiriker« Karl Kraus. »Die Verbindung von Lyrik und Glosse« werde, wie er am 6. November 1916 Sidonie Nádherný mitteilt, »förmlich geweiht« (Kraus/Nádherný, Briefe I, S. 438).
Zur unmittelbaren Erklärung seiner Beobachtungen besteht dieses Heft aus ›Worten in Versen‹ und Glossen (›Inschriften‹). Alle Gedichte sind symmetrisch zum Zentrum des Heftes hin angeordnet, das Schillers »Zitate« zusammen mit Goethes ›Sprüchen in Prosa‹ und Auszügen aus Jean Pauls Friedenspredigt der ›Levana‹ bilden. Nichts ist dem Zufall überlassen. ›Mythologie‹, ein Alptraum der vom Krieg verstümmelten Menschenleiber steht am Anfang; die Bitte, »Du großer Gott, laß mich nicht Zeuge sein! | Hilf mir hinab ins Unbewusste« in dem Gedicht ›Gebet‹ bildet den Schluss des Heftes. Es folgen, jeweils spiegelbildlich angeordnet, die an Sidonie Nádherný gerichteten Verse ›Zuflucht‹ und ›Vor dem Einschlafen‹. Wiederum aufeinander bezogen folgen die Gedichte über Los und Lust des Schreibens: ›Abenteuer der Arbeit‹ und ›Der Reim‹. Den Kreatur und Natur verherrlichenden Versen ›Alle Vögel sind schon da‹, ›An den Schnittlauch‹ und ›Grabschrift für ein Hündchen‹ antworten im zweiten Teil des Heftes die Bekennerschreiben dessen, der »in dem alten Haus der Sprache« wohnt: ›Elysisches‹, ›Bekenntnis‹, ›Der Irrgarten‹, ›Der Ratgeber‹.
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Karl Kraus hat den Brief von Rosa Luxemburg aus dem Breslauer Frauengefängnis an Sophie Liebknecht zwischen 1920 und 1928 insgesamt zehnmal vorgelesen: in Berlin am 28.5.1920 (170. Vorlesung), am 28.1.1921 (192) und am 27.2.1924 (292); in Dresden am 4.6.1920 (174); in Prag am 12.6.1920 (176); in Wien am 9.10.1920 (179), 21.10.1920 (180), 2.1.1921 (188), 11.5.1928 (448) und schließlich in Karlsbad am 31.5.1928 (457).
Die ›Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsentimentalen‹ wird bei den beiden Wiener Lesungen vom 21. Oktober 1920 und 2. Januar 1921 vorgetragen, ebenso bei der Berliner Lesung am 28. Januar 1921. Kraus‘ Kommentar zu dieser ›Antwort …‹ erscheint nur im Druck der ›Fackel‹.
Der Brief steht bei den Lesungen bis 1924, mit einer Ausnahme, stets an hervorgehobenen Stellen der Vorlesungsprogramme, also als Schlussstück eines Ersten Teils vor der Pause oder am Anfang des Zweiten Teils. In Berlin, 1924, hat Kraus seine Vorlesung sogar mit diesem Brief begonnen. Damals jährten sich die Tage der Ermordung von Rosa Luxemburg zum fünften Mal.
Im Frühjahr 1931 lässt Kraus in einem Prospekt der Neuen Truppe, Berlin, für seine »Elektro-Schallplatten«-Produktion mit »Raumton« eine 25-cm-Platte für Anfang September ankündigen: »Nr. 34/72 Karl Kraus spricht Brief Rosa Luxemburgs an Sonja (Büffelbrief) aus ›Briefe aus dem Gefängnis‹.« (Kraus liest Eigenes …, S. 8). Dazu ist es nicht gekommen. Der »Büffelbrief« von der von Menschen verratenen Schöpfung: Er ist das Gegenbild zu den krächzenden Raben über den Toten des von Menschen gemachten Krieges und seiner touristischen Vermarktung für Überlebende mit den ›Reklamefahrten zur Hölle‹. Walter Benjamin nennt Kraus 1928 nach einer Lesung aus Offenbachs ›Pariser Leben‹ – also unter ganz anderen Voraussetzungen – den »mutigsten Menschenbändiger« (Benjamin, Kraus liest, S. 183).
Aufmerksamkeit verlangt nun aber nicht nur der Brief Rosa Luxemburgs mit der Sorge für Natur- und Pflanzenwelt, ihr »Erbarmen« für die unschuldigen Tiere, das in den Kriegsfackeln vielfache Korrespondenzen fände, sondern auch der Kontext, in dem dieses Dokument von Kraus öffentlich gemacht wird.
Es sind, jedenfalls in den Jahren 1918/21, die Bilder der Verwüstung alles Kreatürlichen und Natürlichen in den Materialschlachten dieses Kriegs, die Kraus in Szenen seiner Tragödie ›Die letzten Tage der Menschheit‹ in wörtlichen Zitaten festgeschrieben hat. Es sind die »Büromörder«, die als Schreibtischtäter wiedererstanden sind. Es sind »die Begriffe ›Menschenmaterial‹, ›durchhalten‹«, die uns aus Hitlers Krieg noch im Ohr sind. Und die eher friedseligen Substantiva »›Scherflein‹, ›Hamstern‹, ›Mustern‹, ›Nachmustern‹, ›Tachinierer‹…, der ganze »ABC-Befund unseres Zustandes in seiner abgründigen Tiefe…, zu dem wir uns innerhalb dieses Mechanismus verurteilen ließen«, der sich dem heutigen Leser in neuen Wortschöpfungen zeigt (Kraus, Akt-Ausgabe, S. 505). Immer gibt es einen, »der nicht bis drei zählen« kann, wie der Erzherzog Friedrich, der mit dem »Wolfslachen«, eine Erscheinung, vor deren Tatenruhm Napoleon als der erste Defaitist erscheint«; er hat Hunderte von Galgen errichten lassen (Kraus, Akt-Ausgabe, S. 515ff.).
Aus dem Prospekt der Neuen Truppe, Berlin, 1931, mit der Ankündigung der nie produzierten Sprechplatte »Büffelbrief«.
Auf der Rückseite Paraphrasen aus dem russischen Arbeiterlied (»Tapfer, Genossen, im Gleichschritt«).
Leonid Petrowitsch Radin, 1895/96, im Moskauer Taganka-Gefängnis
Es sind die ›Worte in Versen‹, in denen der Satiriker seine Ideale dem »ausgearteten Zeitalter« entgegensetzt. Es sind die Inschriften und Glossen, die den »Aufstand der Menschenwürde« gegen jene »Auftraggeber« beklagen, »die für die Erweiterung von Absatzgebieten über Leben und Glück von Millionen verfügt haben« und die »erst nach mehr als vier Jahren und erst von einer Revolution des Hungers die Geschäftsstörung befürchten« mussten (F 499-500, S. 29). Es sind die Taten und Untaten, die jede »Harmonie der Schöpfung« zerstören (F 406-412, S. 94). Es sind die hundertfältigen Beispiele einer von Kreaturen »menschverratnen Schöpfung« (F 445-453, S. 172). Wo die Aufforderung gilt: »… treiben S’ nicht die Humanität auf die Spitze! Humanität hin, Humanität her, das is ja alles recht schön, aber wie reimt sich das mit dem Patriotismus? Jetzt is Krieg …« (Kraus, Akt-Ausgabe, S. 415), hat der Respekt vor der Kreatur keinen Platz. Wo Hunde, Pferde, Ochs und Esel dem Krieg geopfert wurden, gilt das Geständnis eines Regimentsarztes: »Es is unglaublich, wie man verroht. Man kommt faktisch gar nicht mehr dazu, human zu sein.« (Kraus, Akt-Ausgabe, S. 277).
Bei der ersten Berliner und der Prager Lesung steht nach Gedichten und solchen Szenen aus den ›Letzten Tagen der Menschheit‹ das Gedicht ›Ich habe einen Blick gesehn‹ (F 508-513, S. 20f.): »An einer Lastenstraße, staubgeboren, | im Frühjahr allzu kümmerlich erblüht, | steht ein Gesträuch, in eine Welt verloren, | für die sich Gott vergebens müht. | Und vor dem Strauch ist eine Frau gestanden, | und ich stand auch und sah nur ihre...