I
»Die Liebe muss frei sein, damit sie Liebe bleibt«
Erste Begegnungen
»Er lebt noch!«, rief Shelley und schüttelte den Kopf – über sich selbst. Wie hatte er so unbedacht sein können! William Godwins großes Werk über Politische Gerechtigkeit war seit Jahren seine Bibel. Das Buch hatte gleich nach dem Erscheinen im Jahre 1793 – Shelley war damals gerade ein Jahr alt – für Aufsehen gesorgt, denn es entwarf eine Utopie, in der nichts mehr so sein würde wie derzeit im alten England. Und als der junge Dichter Percy Bysshe dieses Buch viele Jahre später zur Hand nahm, erschien es ihm wie ein Ruf aus einer verheißungsvollen Epoche: Revolution in Paris, Aufstand der Massen, Entmachtung des Klerus, Ende der Monarchie, Republik. Dabei nahm aber Godwin in seinem Werk Stellung gegen die Gewalt. Und er ging in der Theorie viel weiter als die Franzosen in der Praxis. Der Staat müsse überwunden werden, forderte er, und die Menschheit sich selbst regieren vermittels der ihr eingeborenen Vernunft. Seite für Seite zog der visionäre Philosoph Shelley in seine Gedankenwelt hinein, der Junge wurde sein eifriger Adept, trug das Buch stets bei sich und las sich selbst immer wieder laut daraus vor. Doch dann kam, abgesehen von einem Roman, einfach nichts Rechtes mehr von Godwin, jedenfalls nichts, was Shelley wahrgenommen hätte. Sein Lehrer war verstummt – seit nun schon über fünfzehn Jahren. Er ist wohl gestorben, hatte der Schüler bei sich gedacht, ich werde sein Andenken ehren. Und nun teilte ihm sein Freund, der Dichter Robert Southey, mit, dass Godwin in London eine Verlagsbuchhandlung betrieb, Schwerpunkt Kinderbücher. Es machte Shelley glücklich, sich vorzustellen, wie der Mann, dessen Werk ihn wie kaum ein anderes beeinflusst hatte, in einem Büro saß und eine Quartalsbilanz erstellte oder im Laden einem kleinen Jungen, der gerade lesen gelernt hatte, ein Buch empfahl. »Ich muss ihn treffen«, sagte Shelley zu sich selbst, »das Gespräch, das ich so lange in Gedanken mit ihm führe, muss weitergehen – im wirklichen Leben. Ich werde ihm schreiben.«
Das Schreiben von Briefen füllte einen großen Teil von Shelleys Zeit aus. Manchmal machte er den ganzen Tag nichts anderes – abgesehen vom Dichten natürlich. Und vom Lesen, das er ebenfalls mit ungeheuerlichem Eifer betrieb. Er las antike Autoren, französische Philosophen, deutsche Dichter, englische Klassiker, er las Platon und Lukrez, Rousseau und Condorcet, Goethe und Winckelmann, Shakespeare, Milton, Locke und immer wieder Godwin. Er las nicht nur in seinem Studierzimmer. Er las beim Spazierengehen, auf dem Lokus, in der Kutsche und beim Essen. Er hätte sehr gern noch im Schlaf gelesen, aber das gelang nicht. Immerhin las er des Nachts, wenn er aus einem Traum erwachte; lange lagen die Gedichte Robert Southeys neben seinem Bett. Dieser Schriftsteller war ihm durch sein Werk, das eine glühende Verteidigung der Französischen Revolution einschloss, ähnlich nahegekommen wie Godwin. Aber es gab auch immer wieder Ärger, denn Southey stand politisch aufseiten der Konservativen, der Torys, und das war für den Rebellen Shelley schwer zu ertragen. Southey seinerseits versuchte, den Atheisten Shelley davon zu überzeugen, dass der in Wahrheit sehr wohl an Gott glaube, dass er eben das Universum für Gott nehme. Woraufhin Shelley erwiderte, dass Gott nur eine Umschreibung für das Universum sei, man könne ihn ebenso gut weglassen. Wir, Du, ich, alle Menschen sind Teile eines unermesslichen Ganzen, schrieb er ihm. Southey war viel älter, er war erfahrener und vor allem vorsichtig geworden, was seine Sympathie für Revolutionen betraf. Shelley imponierte ihm wegen seiner Intelligenz, wegen der Wissensschätze, die er trotz seiner Jugend aufgehäuft hatte und wegen seines dichterischen Talentes, das außerordentlich schien. Und dann war dieser Knabe ein Freigeist, ein Freak, ein Radikaler. Das gefiel Southey, er sah sich vielleicht selbst in ihm, wie er früher einmal gewesen war und wollte ihn nicht wegen bloßer Meinungsverschiedenheiten als Freund verlieren. »Der einzige Unterschied zwischen uns beiden«, sagte er zu ihm, »ist, dass du neunzehn bist und ich siebenunddreißig.« Percy bewunderte Southey, er nannte ihn einen großen Mann, aber ihre politischen Differenzen führten schließlich zum Bruch. Zuvor jedoch hatte Southey seinen Freund auf die Spur eines anderen, für Shelley noch bedeutenderen Mentors gesetzt: William Godwin.
Der folgenreichste Brief, den Percy Bysshe Shelley im Jahre 1812 schrieb, ging an die Adresse einer Verlagsbuchhandlung in der Londoner Skinner Street.
Sie werden vielleicht überrascht sein, von einem gänzlich Fremden zu hören. Der Name Godwin erregt in meinem Innern Gefühle der Verehrung und Bewunderung, und gleich zu Beginn meiner Bekanntschaft mit Ihren Gedanken und Prinzipien hegte ich den glühenden Wunsch, auf der Basis persönlicher Nähe jenem Geist zu begegnen, der mir durch seine Entäußerung im Werk so hohen Genuss bereitet hat. Ich bin jung, ich brenne für die Sache der Menschheit und der Wahrheit. Glauben Sie nicht, dass es Eitelkeit sei, die mich dazu antreibt, mich selbst in dieser Art bei Ihnen einzuführen. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich Ihrer Freundschaft nicht völlig unwürdig bin, und wenn das Glück der Menschheit und die Sehnsucht, es zu befördern, auch für Sie bei der Wahl Ihrer Freunde den Ausschlag gibt – dann antworten Sie mir bald.
William Godwin hatte seinerzeit fast alles in makelloser, wenngleich verschlungener Diktion niedergeschrieben, was den aufmüpfigen Schüler und Studenten Shelley umtrieb: Konnte denn der Mensch nicht in eigener Verantwortung sein Leben führen, warum mussten ihm vorgeblich unanfechtbare Autoritäten den Weg zum Glück versperren? Warum duldete das Machtwort des Vaters und der Verweis des Oberlehrers keine Widerrede? Warum war der Pfarrer befugt zu entscheiden, was sündhaft war und was süß? Warum konnten Richter einen Eierdieb ins Gefängnis werfen und einen Baron, der seinen Knecht fast zu Tode prügelte, unbehelligt lassen? Warum durften Regierungen sich anmaßen, gewaltsam Hand an den Urquell der Gesellschaft zu legen und dessen Lauf verhindern? Warum galten Frauen als Menschen zweiter Klasse, so gut wie rechtlos, eingehegt in patriarchalische Zwänge – wozu auch die Ehe gehörte, die unbedingt abzuschaffen war! Und dann über allem Gott der Herr, dessen Wille es angeblich war, dass die Hüter von Thron und Altar ein luxuriöses Leben führten, während die Massen in Stadt und Land verarmten. Godwin forderte direkte Demokratie, gerechte Verteilung aller Güter, Ächtung des Privateigentums und eine Erziehung nach Maßgabe der Vernunft. Es erschien Shelley höchst seltsam, dass dieses aufrührerische Buch Untersuchung über politische Gerechtigkeit und ihren Einfluss auf Moral und Glückseligkeit (An Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness) nicht von der Zensurbehörde verboten worden war. Der Grund war dieser: Godwin stellte an seine Leser hohe Ansprüche. Es war, meinten die Zensoren, vorauszusehen, dass sein Buch bloß innerhalb der akademischen Welt Aufnahme finden würde – wenn überhaupt. Als sich dann aber die Politische Gerechtigkeit vom Geheimtipp zum Verkaufsschlager entwickelt hatte und man überall den Namen Godwin raunte, war es zu spät, und die Zensoren mussten einsehen, dass sie sich verkalkuliert hatten. Das Thema Revolution eroberte auch außerhalb der Universitäten die Köpfe und sorgte selbst in Pubs und Salons für Debatten. Und so gelangte es – wenn auch mit einiger Verspätung – in die Hände des damals siebzehnjährigen Internatsschülers Percy Shelley. Und es eröffnete ihm eine Welt.
Godwin antwortete seinem Verehrer sogleich; es entspann sich ein Briefwechsel, der beiderseits mit Hingabe betrieben wurde. Shelley erzählte viel von sich selbst: dass er aus altem, begütertem Landadel stamme, sich aber mit seiner Familie überworfen habe, nachdem er als Student in Oxford eine Streitschrift mit dem Titel Die Notwendigkeit des Atheismus verfasst habe und daraufhin sofort von der Alma Mater relegiert worden sei. Dass er bereits zwei Romane geschrieben habe, inzwischen aber, dank Godwins Einfluss, mehr Interesse am wirklichen Leben, an der Geschichte und der Politik hege und ein weiserer und besserer Mann geworden sei.
Der Autor der Politischen Gerechtigkeit war seit seinem berühmten Erstling ein wenig in Vergessenheit geraten – dass Shelley gemutmaßt hatte, er sei gar nicht mehr unter den Lebenden, kam nicht von ungefähr. Über Godwins radikal-anarchistische Vorstellungen war die Zeit hinweggegangen – in Frankreich ebenso wie in England. Napoleon hatte ganz Europa in seine Kriegszüge verwickelt und sich zum Kaiser krönen lassen – was war aus der Revolution geworden? Und was aus mir?, fragte sich Godwin, denn seine Buchhandlung lief mehr schlecht als recht, und als Autor von Romanen erregte er kein Aufsehen mehr. Ein Bewunderer aus der jungen Generation kam da wie gerufen – ganz aus dem Gedächtnis der Zeit verschwunden war er also doch noch nicht. Wie es schien, hatte dieser Shelley wirklich was im Kopf. Und im Hintergrund war vielleicht sogar ein Vermögen! Ja, er würde sich bereit erklären, den jungen Herrn zu sich einzuladen.
Es verging noch einige Zeit, bis es zum ersehnten Treffen kam. Shelley war davon überzeugt, dass ein Revolutionär und Sozialreformer nicht nur theoretisieren darf, sondern praktisch tätig werden muss. Also reiste er als Agitator nach Dublin, um die aufständischen Iren zu unterstützen. Zurück in London dachte er dann nur diesen einen Gedanken: Godwin. Political Justice. Der Besuch steht an. Und er fragte nach, ob es genehm sei, wenn er in Begleitung seiner Frau erscheine. Denn mit Harriet, seiner siebzehnjährigen, ungewöhnlich schönen Ehegefährtin, teilte Percy die meisten seiner Unternehmungen. Sie war in Irland an seiner Seite gewesen, wusste, was ihm Godwin bedeutete, und sollte nun beim Kennenlernen dabei sein.
Der Abend im Herbst 1812, an dem Shelley erstmals mit seinem Idol in dessen Stube speiste, sollte allen Beteiligten lange im Gedächtnis bleiben. Erstaunt und erfreut blickte Shelley auf das Gewimmel junger Menschen um Godwin herum – sie nannten ihn »Papa«. Waren das alles seine Kinder? Ja und nein – und wieder ja, es dauerte seine Zeit, bis Percy und Harriet herausgefunden hatten, wie sich diese Patchworkfamilie zusammensetzte. Die Älteste, ein freundliches, schüchternes Mädchen von neunzehn Jahren namens Fanny, war die Tochter von Godwins erster Gemahlin, der berühmten Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft. Shelley hatte von dieser Schriftstellerin gehört, er wusste auch, dass sie nicht mehr am Leben war, und erfuhr später, dass Fanny ein Kind der Liebe aus Marys revolutionärer Zeit im Paris der 1790er-Jahre war, geboren vor ihrer Verbindung mit Godwin. Die Wollstonecraft hatte also diese nichteheliche Tochter mit in die Ehe gebracht. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, ein vierzehnjähriger koketter Kobold mit schwarzen Locken; sie hieß Jane und war ebenfalls mit in die Ehe gebracht worden – und zwar von Godwins zweiter Ehefrau, einer geborenen Mary Jane Vial, die sich nach dem Vater ihrer Tochter Clairmont nannte. Jane warf lange Blicke auf die reizende Harriet und ihr elegantes Kleid. Sie hatte einen älteren Halbbruder, Sohn der Frau Clairmont, Charles geheißen, der ebenfalls zu der bunten Abendgesellschaft stieß. Ein kleiner William junior, neun Jahre alt, Sohn Godwins und seiner zweiten Frau, lief ferner im Zimmer herum. Sofort zog er Shelleys Aufmerksamkeit auf sich. Denn wenn es etwas gab, an dem der Dichter nicht vorbeigehen konnte, dann waren es Kinder. Am liebsten hätte er sich mit William auf den Boden gesetzt und ein Modellschiff aus Baumrinde mit ihm gebastelt. Aber die Höflichkeit verlangte eine gepflegte Konversation – zumal Mrs Clairmont Godwin, die umtriebige Herrin des Hauses, majestätisch am Kopf der Tafel stand und Anweisungen gab, William musste sich brav auf seinen Stuhl setzen. Und schließlich war da Godwin selbst, der Mastermind, um dessentwillen Shelley gekommen war. Ein wenig verlegen wartete der Gast darauf, dass der Philosoph das Gespräch eröffnete – was er bei der Suppe dann auch tat. »Erzählen Sie, lieber Shelley, was Sie in Irland erfahren haben. Zu welchen Gruppierungen hatten Sie Zutritt und wie ist Ihre Flugschrift aufgenommen worden?« Shelley hatte in Irland wenig bewegen können, das Thema war ihm also etwas unangenehm. Aber geschickt, wie er als Diskutant immer schon war, lenkte er das Gespräch auf die Dichtkunst, und die Familie hörte ihm gebannt zu.
»Welche sind Ihre neuesten dichterischen Projekte?«, fragte Mrs Godwin.
»Ich arbeite an einem Epos in Versen, ich nenne es ein philosophisches Gedicht. Es soll zeigen, dass eine Revolution, ein radikaler Wandel hier auf Erden alle Notwendigkeit auf seiner Seite hat und dass die Natur selbst diesen Wandel fordert.«
»Werden Sie aus diesem Gedicht vortragen?«
»Jetzt? Hier?«
»Wenn Sie es dabeihaben …«
Natürlich hatte Percy es dabei, er hatte gehofft, vor Godwin daraus lesen zu dürfen, und so warf er sich in Positur, schaute ernst in sein Publikum und sprach die Worte: »Der Titel der Dichtung lautet: Queen Mab, die Feenkönigin. Sie ist Harriet gewidmet.« Seine Frau legte den Kopf zurück und warf ihm eine Kusshand zu. Percy erhob seine helle Stimme:
»Wes ist...