Der alles so herrlich regieret?
Gott muss nicht allmächtig sein, um Gott zu sein
Es ist ein Lied für besondere Tage und wird gern beim Gemeindefest oder zur Goldhochzeit gesungen: „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren“. Ein kirchlicher Evergreen mit einem Text des Pfarrers Joachim Neander aus dem Jahr 1680. Die zweite Strophe lautet:
„Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret,
der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,
der dich erhält,
wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?“
Wie schön, wenn jemand die rhetorische Frage am Schluss bejahen kann: „Ja, ich habe gespürt: Gott hat mich gerettet, aus Bedrängnis befreit; ich fand immer wieder ins Leben zurück trotz aller Schwierigkeiten. Wie auf den Flügeln des Adlers wurde ich getragen, über alle Abgründe hinweg.“ – Welch ein Segen!
Was aber, wenn ein Mensch ehrlicherweise antworten muss: „Nein, ich bin abgestürzt und fiel tief und hart. Die Probleme rauben mir die Luft zum Atmen. Die Freude am Leben habe ich verloren. Von Gottes Schutz spüre ich nichts.“
Zwei Wochen vor der Niederkunft wird die schwangere Frau schuldlos in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Bei der notfallmäßig eingeleiteten Geburt leidet das Kind unter Sauerstoffmangel. Der Junge ist seither schwerstmehrfachbehindert. Er kann nicht sprechen, nie Mama sagen. Er kann nicht gehen, seiner Mutter nicht in die Arme laufen. Augenkontakt zu halten gelingt ihm im wahrsten Sinne nur einen Augenblick lang. Heute ist er über 20 Jahre alt. Seine Mutter pflegt ihn Tag und Nacht, oft muss sie ihm den Rachen absaugen, weil er nicht husten kann. – Der Traum der Mutter: Ein paar Tage in eine Einrichtung fahren, wo sich mal andere um ihren Sohn kümmern und sie ein wenig Luft holen kann. Weitere Wünsche für das eigene Leben? Fehlanzeige. Die Alltagsbewältigung raubt ihr die Phantasie eines erfüllten Daseins. Sie glaubt an Gott und fragt, ob sie alles richtig macht.
Diese Mutter hat keine Kraft mehr zum Protestieren. An ihrer Stelle begehre ich auf. Auch im Namen derjenigen, deren Existenz von einer Flutwelle (oder Dürre) vernichtet wurde. Die unter einer Diktatur in Angst ihr Dasein fristen. Die Opfer von Verbrechen wurden. Die verzweifelt ungerechte Strukturen ertragen. Die Liste der Gepeinigten nimmt kein Ende.
Der Kopf weiß, es war nie anders, so ist die Welt: Krankheit und Behinderung plagen den Menschen. Das Lebensalter schwankt von wenigen Minuten bis zu über hundert Jahren, was am Ende dann vielleicht auch kein Vergnügen mehr ist. Kriege und Katastrophen quälen den Homo sapiens, der so richtig vernunftbegabt („sapiens“) wohl doch nicht ist. Manches Leiden verursacht der Mensch selbst, anderes die Natur – aber was hilft diese Unterscheidung der geschundenen Kreatur? Es geht brutal zu auf der Erde. Immer schon. Dagegen rebelliere ich.
Und siehe:
alles war sehr gut
Das muss wohl lange her sein, Gott
denn nichts scheint gut
auf unserem Planeten
Die Nachrichten erbrechen
täglich ihre Übel
in unsre trauten Heime
die Kirchen bleiben
klinisch rein, nie fehlen
Fürbitten für arme Seelen
War die Schöpfung
nur ein Versuch?
„Gott“, will ich schreien, „für viele ist die Erde kein guter Ort zum Leben. Es ist nicht auszuhalten, was hier von Menschen erduldet werden muss. Da helfen keine frommen Vertröstungen, dass es eines Tages mal besser werden wird. Wir leben nicht im Jenseits, sondern hier und heute muss das Leben bewältigt werden! Warum greifst du nicht ein mit starker Hand?“
„… der alles so herrlich regieret“ – mindestens das Wort „alles“ aus der Liedstrophe ist höchst problematisch, denn es ist nicht „alles“ gut. Vielleicht sogar das meiste nicht, denn immer schon hungern Menschen, erleiden Gewalt, werden vertrieben und sind unglücklich. Soll ich Gott loben, obwohl diese irdische Existenz Millionen in Chaos und Verzweiflung stürzt?
Von Gottes „Regiment“ auf Erden ist wenig zu spüren. Diese Beobachtung ist alles andere als neu. Bereits die Weisen der Antike erwogen die Frage, wie die Existenz eines guten Gottes mit der Wirklichkeit auf unserem Planeten zusammenzudenken sei. Der frühchristliche Theologe Lactantius (240–320), ein Römer, überliefert uns folgende Überlegungen des griechischen Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.):
Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft.
Oder er kann es und will es nicht:
Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist.
Oder er will es nicht und kann es nicht:
Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott.
Oder er will es und kann es, was sich allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?
Ich kann dieser logisch aufgebauten Argumentation folgen. Am Ende steht die drängende Frage, die mich tiefer berührt als die suggestive „hast du nicht dieses verspüret?“: Warum nimmt Gott die Übel nicht weg? Sind wir ihm gleichgültig? Will er nicht einschreiten? Oder kann er es gar nicht?
Wolfgang Borchert gibt in seinem Nachkriegsdrama „Draußen vor der Tür“ eine bittere Antwort. Gott tritt da auf als altes, hilfloses Männlein, das sich beim Protagonisten Beckmann ausheult. Gott spricht: „Keiner glaubt mehr an mich. Du nicht, keiner. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Und um den sich keiner mehr kümmert. Ihr kümmert euch nicht um mich.“ Der folgende Dialog offenbart bittere Erkenntnisse:
„Beckmann: Hat auch Gott Theologie studiert? Wer kümmert sich um wen? Ach, du bist alt, Gott, du bist unmodern, du kommst mit unsern langen Listen von Toten und Ängsten nicht mehr mit. Wir kennen dich nicht mehr so recht, du bist ein Märchenbuchliebergott. Heute brauchen wir einen neuen. Weißt du, einen für unsere Angst und Not. Einen ganz neuen. Oh, wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht. Wir haben dich gerufen. Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott? Wo bist du heute Abend? Hast du dich von uns gewandt? Hast du dich ganz in deine schönen alten Kirchen eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du?
Gott: Meine Kinder haben sich von mir gewandt, nicht ich von ihnen. Ihr von mir, ihr von mir. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Ihr habt euch von mir gewandt.
Beckmann: Geh weg, alter Mann. Du verdirbst mir meinen Tod. Geh weg, ich sehe, du bist nur ein weinerlicher Theologe. Du drehst die Sätze um: Wer kümmert sich um wen? Wer hat sich von wem gewandt? Ihr von mir? Wir von dir? Du bist tot, Gott.“
Schließlich muss Gott zugeben: „Mein Junge, mein armer Junge! Ich kann es nicht ändern! Ich kann es doch nicht ändern!“, und Beckmann bestätigt: „Ja, das ist es, Gott. Du kannst es nicht ändern.“
Wenn Gott es wirklich nicht ändern kann, dann ist damit seine Haupteigenschaft in Abrede gestellt, die ihn von allem anderen, was ist, unterscheidet: seine Allmacht! Doch das Apostolische Glaubensbekenntnis spricht sie ihm unmittelbar zu: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“. Muss aber das Vertrauen auf Gott unmittelbar mit dem Glauben, Gott sei allmächtig, einhergehen? Ein tief spiritueller Priester bekannte mir, wenn im Messbuch die Orationen mit „Allmächtiger Gott“ begönnen, würde er das Attribut stets ersetzen, durch Barmherziger, Guter, Großer oder Liebender Gott. Ich selbst halte es ebenso mit den Gebeten im Evangelischen Gottesdienstbuch.
Gottes Allmacht ist suspekt geworden. Wenn Gott sie besäße, dann müsste die Welt anders aussehen. Ich bin nach nüchternem Überlegen geneigt, die Allmacht Gottes zu begraben – spüre allerdings ein Zögern in mir. Ist ein schwacher Gott noch interessant? Warum fällt es so schwer, das Bild vom allmächtigen Gott hinter sich zu lassen?
Macht macht sexy – sie zieht an und fasziniert. Personen, die über politische, gesellschaftliche oder finanzielle Macht verfügen, und seien es nur Leute mit einer gewissen Prominenz wie eine Schauspielerin oder ein Bischof, sie wirken auf andere. Es gibt Leute, die suchen ihre Nähe, damit etwas vom Glanz der Großen auf sie herabfällt. Und wer würde nicht genussvoll bemerken, dass letzte Woche im Restaurant die berühmte Sängerin am Nebentisch saß oder der Minister an der gleichen Veranstaltung teilnahm, die man selbst besuchte? Um selbst Macht zu erlangen, sind Menschen bereit, viele ihrer grundlegenden Bedürfnisse zu vernachlässigen, ihre moralischen Grundsätze über Bord zu werfen und sogar ihre Nächsten zu verraten. Mächtig zu sein gibt ein gutes Gefühl. Macht fasziniert. Macht macht interessant.
Allmacht macht Gott attraktiv. Die Vorstellung, Gott könne auf Erden tun und lassen, was er / sie wolle, korrespondiert mit unserer menschlichen Erfahrung der begrenzten Möglichkeiten. Wie schon der Religionskritiker Ludwig Feuerbach geistreich anmerkte: Der Mensch schuf sich Gott nach seinem Bilde. Wenn wir ohnmächtig sind, so soll doch immerhin Gott allmächtig sein.
Die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbildes vor rund 500 Jahren, in dem nicht die Erde im Mittelpunkt steht, sondern die Sonne, war eine religiöse Demütigung. Unsereins ist nicht mehr Krone der Schöpfung, sondern ein aus Zufälligkeiten entstandenes Lebewesen. Mit dem Bewusstsein seiner eigenen Mickrigkeit müht sich das aufgeklärte Menschengeschlecht seither ab. Wo soll da Platz für einen allmächtigen Gott sein?
Ihn zu retten haben sich viele aufgeschwungen, nicht nur Theologen. Der italienische Philosoph Giacomo Leopardi notierte am 7. September 1821: „Daraus, daß keine Wahrheit oder Unwahrheit, Verneinung oder Bejahung absolut ist – wie ich nachweise –, folgt, daß alle Dinge möglich sind, und daher ist die unendliche Möglichkeit notwendig und geht allem vorauf. Aber die Möglichkeit kann nicht ohne eine Macht existieren, die bewirken kann, daß die Dinge sind und in wie immer möglicher Weise sind. Wenn es die unendliche Möglichkeit gibt, so gibt es auch die unendliche Allmacht; wenn diese nicht ist, so ist jene nicht wahr.“
Was Leopardi behauptet, klingt logisch, ist es aber nicht. Dieses abstrakte Denken wurde schon im Altertum ad absurdum geführt mit der Frage, ob Gott in der Lage sei, einen Stein zu erschaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht mehr aufheben kann. Was mir allerdings bemerkenswert erscheint: Wir wünschen uns einen allmächtigen Gott, aber verfügen wir auch über die Fähigkeit, uns einen solchen vorzustellen?
Im Roman „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ der amerikanischen Schriftstellerin Carson McCullers fand ich eine schöne Stelle, in der ganz nebenbei vom Tod der alten Gottesidee gesprochen wird. Mick, ein junges Mädchen, hörte eben noch spätabends im Garten der Nachbarn Musik aus deren Haus schallen. Nun wurde das Radio abgedreht. Unvermittelt verletzt sie sich selbst, erst mit Fäusten, dann mit Steinen, bis es blutet. Sie schaut in den Nachthimmel hinauf, der Schmerz tut ihr wohl, und es riecht nach warmen Zedern. Mick „flüsterte ein paar Worte vor sich hin: ‚Herr, vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich tue.‘ Warum dachte sie daran? Seit ein paar Jahren wusste jeder Mensch, daß es in Wirklichkeit keinen Gott gab. Wenn sie sich überlegte, was sie sich gewöhnlich unter Gott vorstellte, dann sah sie nur Mister Singer in einem langen, weißen Laken vor sich. Gott war stumm – vielleicht erinnerte Mister Singer sie deshalb an ihn. Sie sagte den Satz noch einmal so, wie sie ihn zu Mister Singer sagen würde: ‚Herr, vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich tue.‘“
Mister Singer, ein taubstummer Zimmer-Mieter in ihrem Elternhaus, wird zum Symbol ihres Glaubens. Ein netter Mann ist das, freundlich, wohlwollend, das Mädchen vertraut ihm. Mister Singer ist besonders, er hört ihr zu, aber wirklich helfen kann er nicht.
Micks Feststellung, dass „es in Wirklichkeit keinen Gott“ gibt, scheint eine Nummer zu groß gesagt. Doch den Gott, der „alles so herrlich regieret“, gibt es wirklich nicht. Oder aber niemand ist in der...