Zusammen
Verschlafen schaue ich auf mein Handy. Sonst immer unten im Wohnzimmer platziert, liegt es seit vier Wochen auf meinem Nachtschrank, mit maximal eingestellter Lautstärke, damit ich es nicht überhören kann. Ich setze meine Brille auf und erkenne, dass der Anrufer Joni ist, der Mann meiner Freundin Kezia. Ich bin sofort hellwach und nehme ab. Joni erzählt, dass ich mich langsam auf den Weg machen könnte, die Wehen von Kezia seien nun regelmäßig.
Alles klar, ich mache mich sofort auf den Weg, antworte ich und bin kurze Zeit später angezogen. »Die Geburt geht los«, flüstere ich noch meinem Mann zu, bevor ich die Haustür leise hinter mir schließe. Zehn Minuten brauche ich mit dem Auto von uns zu Kezia, es ist zwei Uhr morgens, die Stadt schläft, kaum jemand ist unterwegs.
Kezia hatte mich schon am Anfang ihrer Schwangerschaft gefragt, ob ich auf den vierjährigen Edo aufpassen könnte, wenn die Geburt losgeht. Selbstverständlich, habe ich zugesagt. Als der Geburtstermin näherrückte, wurde ich zunehmend nervöser, weil ich befürchtete, mein Handy nicht zu hören. Immer angeschaltet hatte ich es bei mir. Jetzt, wo ich den wichtigen Anruf nicht verpasst habe, fühle ich mich richtig leichtfüßig und bin stolz darauf, bei einer Geburt einen kleinen Part spielen zu dürfen.
Joni erwartet mich an der Haustür und bittet mich rein. Schon im Flur höre ich Kezia tönen. Ich halte kurz inne – irre ich mich oder klang das so, als hätte sie schon starke Wehen? Joni ging die Treppe hoch, um noch ein paar Sachen zu packen. Unschlüssig, was ich machen sollte, stehe ich noch ein wenig im Flur rum.
Kezia kenne ich schon sehr lange. Als ich sie das erste Mal traf und mich sofort in ihr besonderes Wesen verliebte, war sie zwölf und ich vierzehn Jahre alt. Ich war fasziniert von ihr. Sie wirkte in ihrem kindlichen Körper schon so weise und wissend. Wir wohnten zwanzig Kilometer auseinander und telefonierten unzählige Stunden. Es gab Tage, die verbrachte ich komplett mit ihr zusammen, am Telefon. Meine Eltern waren von den Telefonrechnungen in dieser Zeit nicht begeistert.
Mit Kezia war ich das erste Mal richtig betrunken, ich war dabei, als sie den ersten Kuss bekam, und wir trösteten uns gegenseitig bei großem Herzschmerz und verfluchten denjenigen, der ihn ausgelöst hat. Wir reisten zusammen mit kaum Geld in der Tasche und entschieden gemeinsam, nach Berlin zu ziehen. Als ich die Zusage für die Uni bekam, tanzten wir auf dem Tisch in der Küche unserer winzigen Wohnung. Wir zogen durch das nächtliche Berlin und sogen alles auf. Einmal gingen wir, als wir nach Hause kamen, an unserer Wohnungstür vorbei einen Stock höher; dort tobte eine Party. Wir klingelten und taten so, als wären wir langersehnte Gäste. Kichernd gingen wir ins Bad, wo die Wanne voller Bierflaschen gefüllt war, nahmen uns eins und feierten mit, obwohl wir niemanden dort kannten. Das Tor der Welt stand uns offen. Viele erste Male und große Schritte erlebten wir Seite an Seite.
Doch als ich dort im Flur stehe, wächst die Ehrfurcht. Ein Baby, das sich auf den Weg gemacht hat, um geboren zu werden, ich bin mir der besonderen Situation bewusst.
Als die nächste Wehe kommt, gebe ich mir einen Ruck und gehe ins Wohnzimmer, das in ein warmes Licht getaucht ist. Auf dem Sofa kniet Kezia, ganz bei sich. In ihre Atmung vertieft wiegt sie ihr Becken hin und her.
Es fühlt sich nahezu heilig an, so nah neben einer Gebärenden zu stehen. Bis jetzt habe ich nur meine eigenen Geburten erlebt. Danebenzustehen ist etwas völlig anderes, und während ich Kezia die Wehe veratmen höre, erahnt mich das Gefühl, dass sie es nicht ins Geburtshaus schaffen wird. In dem Moment kommt Joni rein, er telefoniert mit der Hebamme, kurz und knapp antwortet er und gibt den Zustand von Kezia durch.
Kezia veratmet die nächste Wehe, ihr Tönen wird lauter, erreicht den Höhepunkt und nimmt wieder ab.
Joni legt auf und schaut mich an, sein Blick verrät mir, was er gleich sagen wird: »Die Hebamme sagt, sie wird nicht rechtzeitig hier sein, wir sollen das Baby auffangen.«
Ich erstarre. »Das Baby auffangen?« Ich schaue zu Kezia, meiner Freundin, die seit Jahrzehnten für mich da ist. Für einen Moment scheine ich unfähig mich zu rühren.
Im Herbst vor zwei Jahren waren Kezia und ich zusammen schwanger. Sie mit ihrem zweiten, ich mit meinem dritten Kind. Wir waren verzückt, das gab es bis jetzt noch nicht. Wir stellten uns vor, wie wir gemeinsam unsere Tragetücher binden, auslaufende Brüste haben und uns gegenseitig mit Windeln versorgten. Im fünften Monat bekam Kezia starke Schmerzen im Unterleib. Sie fuhren ins Krankenhaus, und Kezia wurde durchgecheckt, aber sie fanden nichts. Die Schmerzen blieben und eine Woche später wurden sie wieder sehr stark, kaum auszuhalten. Wieder fuhren sie ins Krankenhaus und wieder war nicht klar, was die Schmerzen verursachte. Es sah nicht gut aus. Und dennoch blieb die Hoffnung, dass das Baby keinen Schaden nehmen würde. Abends telefonierten wir, sie erzählte mir, dass es ihr besser ging.
Morgens, die Blätter fielen von den Bäumen, überall war es feucht, Nebel lag auf den Feldern, rief Kezia mich wieder an. Ich hörte, wie ihr die Tränen liefen. Sie hatte das Baby am späten Abend verloren. Wieder hatten starke Schmerzen, begleitet von Blutungen eingesetzt, und diesmal hat sie das Baby geboren. Es gab die Möglichkeit es zu sehen, es war ein Junge.
Ich bekam kaum ein Wort raus. »Oh Kezia, was für eine Scheiße. Es tut mir so leid«, stammelte ich. »Dein Herz muss heute Nacht rausgerissen worden sein.« Ich fragte sie, ob ich vorbeikommen dürfte, trotz meines Babybauches.
»Ja, komm!« sagte sie tonlos.
Ich saß an ihrem Krankenhausbett und wir hielten uns die Hände und verstanden die Welt nicht mehr. Schweigend flossen die Tränen über unsere Wangen, wir machten uns nicht die Mühe sie abzuwischen, ließen den Fluss laufen.
Nach dem Verlust des Babys fuhr Kezia mit ihrem Mann betäubt nach Hause, um kurze Zeit später wieder in die Klinik aufzubrechen. Die starken Schmerzen im Unterleib hatten nicht nachgelassen. Bei dem dritten Krankenhausaufenthalt wurde festgestellt, dass der eine Eierstock auffällig aussah. Sie kam in den OP. Als sie aus der Narkose erwachte, wurde ihr mitgeteilt, dass der betroffene Eierstock sich verdreht hatte und entfernt werden musste.
Wieder brach für Kezia eine Welt zusammen.
Sie erholte sich von dem medizinischen Eingriff, doch der Verlust schwebte über ihr.
Wie könnte es auch anders sein? Das war ihr Baby, ihr Junge, der nicht mehr da war. Es kamen Fragen auf; die sich spitz in ihre Gedanken bohrten. Würde das Baby noch leben, wenn man früher herausgefunden hätte, was die Schmerzen verursachte? Hätte früher gehandelt werden können?
Nur wenige Tage nachdem Kezias Junge gestorben ist, bekam ich unseren Sohn Sashi. Es brauchte zwischen Kezia und mir viel Sensibilität, ein Hören zwischen den Tönen, aber auch ausgesprochene Worte, damit wir einander nicht verletzten. Die Gefahr bestand, dass der Schmerz jede ihren eigenen Weg gehen ließ.
Es half mir, dass es noch nicht lange her war, dass ich um Phillis Leben gebangt habe, mich in Kezia hineinzuversetzen. Ich verstand, dass es leer in ihr war. Ich konnte gut nachvollziehen, dass in ihr die Stille wohnte, dass sie manche Worte von außen nicht erreichten, weil sie ihre Kraft in sich bündeln musste und es für ein Draußen kaum ausreichte. Das was da war, bekam Edo.
Bei einem Zustand, der das eigene Leben so erschüttert, dass nichts mehr am selben Fleck ist, vergisst man, wie die Sätze geformt werden, die man in einem ganz normalen Alltag sagt. Man vergisst, worüber sonst geredet wurde, früher, bevor es so leer innen war. Die Worte der anderen sind einem fremd, es scheint, als könnte das Gehirn sie nicht mehr übersetzen. Es ist einem rätselhaft, wie bei all dem Schmerz Menschen weiter einkaufen gehen und sich gegenseitig im Auto anhupen können. Müsste die Welt nicht stillstehen? Wenigstens einen Moment.
Ein halbes Jahr später wurde Kezia, entgegen allen Prognosen, mit nur einem Eierstock wieder schwanger. Dieses Baby ersetzt nicht den verstorbenen Jungen, der Schmerz lässt sich nicht übermalen oder aus dem Inneren verjagen. Mit dem positiven Schwangerschaftstest gab es wieder einen Wegweiser, die Möglichkeit, wo der nächste Schritt hingeht, obwohl alles so zerbrechlich war.
Und nun befinde ich mich bei der Geburt dieses Regenbogenkindes, mache mich gerade, gucke Joni an. »Ja«, sage ich mit leiser, aber klarer Stimme, »wir werden das Baby nun gemeinsam auf die Welt holen.«
Joni gibt mir Anweisungen, wo ich Handtücher finden kann. Ich stürze die Treppe hoch, versuche klar zu denken. Oben angekommen greife mir den Stapel Handtücher und laufe wieder runter. Joni ist ruhig, fa...