Die internationale Stadt Tanger
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Die internationale Stadt Tanger

Infrastrukturen des geteilten Kolonialismus, 1840–1956

  1. 401 Seiten
  2. German
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Die internationale Stadt Tanger

Infrastrukturen des geteilten Kolonialismus, 1840–1956

Über dieses Buch

Die marokkanische Stadt Tanger liegt an der Straße von Gibraltar, auf der Schwelle von Europa und Afrika, Orient und Okzident. Hier gründeten Diplomaten aus bis zu 13 verschiedenen Staaten ab Mitte des 19. Jahrhunderts internationale Organisationen, die die Basis für eine von 1923 bis 1956 bestehende Sonderverwaltungszone bildeten. Die Internationalisierung der Stadt wird von der Autorin nicht nur in die Kolonialgeschichte Marokkos eingeordnet, sondern selbst als eine spezifische Form der kolonialen Herrschaft, als "geteilter Kolonialismus", konzeptualisiert. Diesen untersucht sie über einen Zeitraum von rund 100 Jahren und anhand stadtplanerischer Infrastrukturprojekte wie dem Bau von Kanalisation und Schlachthaus. Auf diese Weise wird am Beispiel der Stadt Tanger sichtbar, wie sich globale und lokale Entwicklungsprozesse gegenseitig bedingten und einen klar definierten Raum nachhaltig prägten. Erstmals konnte die Autorin für diese Studie weit verstreute Akten aus den Archiven internationaler Organisationen zusammentragen und mit dem Ansatz der transnationalen Geschichte auswerten.

Daniela Hettstedt erhielt 2020 für ihre Studie den Dissertationspreis der "Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung".

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1 Einleitung

Von der Terrasse des luxuriösen Hotels El Minzah im Stadtzentrum von Tanger kann ein Gast bei klarem Wetter die Straße von Gibraltar bis zur spanischen Küste überblicken. Tanger liegt am westlichen Eingang der Meerenge, wo der Atlantische Ozean und das Mittelmeer ineinanderfließen. Hier beträgt die Entfernung zwischen dem afrikanischen und dem europäischen Kontinent nur 40 Kilometer Luftlinie. In direkter Nachbarschaft des französischen Konsulats, des Theaters Cervantes, des zentralen Marktplatzes Grand Sokko, der anglikanischen Kirche Saint Andrew und des südlichen Eingangs zur Altstadt mit dem amerikanischen Konsulat gelegen, war das im Jahr 1930 gegründete Hotel zur Zeit der internationalen Zone von Tanger (1923 – 1956) bei Berühmtheiten wie dem britischen Premierminister Winston Churchill (1908 – 1965) oder der Woolworth-Erbin Barbara Hutton (1912 – 1979) beliebt.1 Der Mythos des „internationalen Tangers“ ist heute aber nicht nur vom Luxus des El Minzah geprägt. Vielmehr ist die Stadt durch die Werke des Schriftstellers William S. Burroughs (1914 – 1997) als kosmopolitische „interzone“2 zwischen Europa und Afrika, Orient und Okzident in die Populärkultur eingegangen.
In der vorliegenden Untersuchung wird hingegen gezeigt, dass das internationale Tanger das Ergebnis eines langen Prozesses war, während dessen Vertreter internationaler Organisationen neue Freiräume für nur wenige europäische und amerikanische Anwohner und Reisende schufen. Im Jahr 1935 zählte die Stadt eine registrierte Gesamtbevölkerung von 54.000 Personen. Diese setzte sich aus 30.000 Muslimen, 6.480 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde und 17.520 Ausländern, mehrheitlich Europäern, zusammen. Berechnet man das Umland der Hafenstadt mit ein, lebten insgesamt geschätzte 70.000 Menschen in der 373 Quadratkilometer großen internationalen Zone – auf einer Fläche, die etwa der Ausdehnung des Gardasees oder des deutschen Teils der Ostseeinsel Usedom entspricht.3 Es handelt sich also um ein flächenmäßig sehr kleines Gebiet, dessen politische Bedeutung sich aus seiner geographischen Lage ergab. So war die Straße von Gibraltar für die britische Regierung aufgrund der dort gelegenen gleichnamigen Kronkolonie und seit der Eröffnung des Suezkanals im Jahr 1869 als Seeweg zwischen Europa und Asien von höchster Bedeutung. Frankreich forcierte ab 1830 von Algerien aus die Kolonisierung Nord- und Nordwestafrikas und die spanische Regierung verfolgte in den 1850er Jahren mit der Eroberung Tétouans koloniale Ambitionen in Marokko, welche sie insbesondere nach dem Verlust der amerikanischen Überseeterritorien im Jahr 1898 forcierte.4
Doch nicht nur für diese drei Imperialmächte war Tanger von geostrategischer Relevanz. Im Kontext des sogenannten „Wettlaufs um Afrika“ hatte die Konkurrenz um politischen und wirtschaftlichen Einfluss vor allem zwischen Frankreich, Spanien und Deutschland in den Jahren 1905 und 1911 zu zwei schweren internationalen Krisen geführt.5 Auch nachdem die deutsche Regierung mit dem Marokko-Kongo-Vertrag vom 4. November 1911 ihre Ansprüche in Marokko aufgegeben hatte, zählte die sogenannte „Marokko-Frage“ weiterhin zu den dominierenden Kolonialdiskursen vor dem Ersten Weltkrieg.6 Im Jahr 1912 wurde das Sultanat schließlich in ein französisches Protektorat, das den Großteil des Staatsgebiets einnahm, und ein spanisches Protektoratsgebiet in Nordmarokko aufgeteilt, in welchem die Sonderverwaltungszone eine Enklave bildete. Laut Jürgen Osterhammel und Jan C. Jansen stellt diese „imperiale Machtergreifung“ in dem nordafrikanischen Land „den letzten Schritt in einem langen Prozess informeller Durchdringung“ dar. Der eigentliche Durchdringungsprozess „durch exogene politische und wirtschaftliche Mächte“ habe bereits mit der Eroberung Algiers durch französische Truppen im Jahr 1830 begonnen.7 In dieser Studie wird von der These ausgegangen, dass diese „informelle Durchdringung“ nicht ausschließlich auf der Basis „ungleicher Verträge“8 stattfand, sondern sich auch in der Institutionalisierung jener „exogenen Mächte“ in internationalen Kommissionen äußerte.
Tanger hatte schon seit dem 18. Jahrhundert eine Sonderstellung als „diplomatische Hauptstadt“ eingenommen, weil es ausländischen Gesandten auf Geheiß Sultans Sidi Mohamed ben Abdallah (1710 – 1790, reg. ab 1757/59) bis Mitte des 19. Jahrhunderts verboten blieb, sich außerhalb der Hafenstadt niederzulassen.9 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zum Sitz wichtiger internationaler Kommissionen: dem Conseil Sanitaire du Maroc (1840), der Commission d’Hygiène et de la Voirie (1892) und der internationalen Organisation des Leuchtturms am Kap Spartel (1865). Diese unterschieden sich zwar hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Mitglieder und in ihrem Wirkungskreis teilweise stark voneinander, aber sie verfolgten mindestens zwei gemeinsame Ziele: den Ausbau grundlegender Infrastrukturen und die Sicherung der Seewege.10 Die Quarantänemaßnahmen, die der Conseil über die Schiffe der aus Mekka zurückkehrenden Pilgerreisenden verhängte, gelten heute als Zeichen für die kolonialpolitische Ausrichtung jenes Gremiums.11 Doch nicht nur anhand von Quarantänen, sondern auch durch eine Vielzahl von Infrastrukturprojekten, welche die genannten Institutionen in der Stadt und ihrem Umland durchführten, gelang es den europäischen Regierungen, koloniale Hierarchien zu etablieren, die lange Zeit auch als Zeichen der Modernisierung galten.12 Diese Projekte werden in diesem Buch somit als „Infrastrukturen des geteilten Kolonialismus“ diskutiert. Der Untersuchungszeitraum ist daher nicht auf die Jahre der internationalen Zone beschränkt, sondern reicht von der Gründung des Conseil Sanitaire als einer ersten internationalen Organisation im Jahr 1840 bis zur Unabhängigkeit des Königreichs Marokko im Jahr 1956.
Nicht erst zur Zeit der internationalen Zone, die mit der Unterzeichnung des Vertrags von Paris am 18. Dezember 1923 gegründet und am 31. Dezember 1956 aufgelöst wurde, sondern über einen Zeitraum von rund 100 Jahren kooperierten die Regierungen von bis zu zwölf Staaten in den in Tanger ansässigen internationalen Institutionen. So bildeten Delegierte aus Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Belgien, den Niederlanden, Schweden und den USA die Regierung der internationalen Zone. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zählten überdies Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn zu den Mitgliedsstaaten der im Jahr 1865 gegründeten internationalen Organisation des Leuchtturms am Kap Spartel und zu den Unterzeichnern der Schlussakte der Algeciras-Konferenz von 1906. Mit diesem internationalen Vertrag war zudem die Schweiz im Rahmen ihrer „Guten Dienste“13 mit der Inspektion von Polizeitruppen in Marokko beauftragt worden. Diese Staaten verfolgten ihre jeweils eigenen politischen und ökonomischen Ziele und standen daher in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. Gleichzeitig verfolgten sie aber das gemeinsame Interesse an einer kolonialpolitischen „Öffnung“ des Landes, welches sich gegen die marokkanische Regierung, den Makhzen, richtete.
Wie im Osmanischen Reich und in weiten Teilen Nordafrikas gestand der Makhzen ausländischen Staaten erstmals seit Mitte des 19. Jahrhunderts exterritoriale Privilegien zu. Ausländische Staatsbürger waren aus der marokkanischen Jurisdiktion ausgenommen, unterstanden der Rechtsprechung ihres Herkunftslandes und damit der Zuständigkeit von Konsulargerichten.14 Zudem konnten die oben genannten Regierungen beziehungsweise ihre Konsulate in Tanger marokkanische Staatsbürger unter ihren Schutz stellen. Diese sogenannten Protegés waren damit ebenfalls aus der lokalen Rechtsprechung ausgenommen und fielen unter die Jurisdiktion der jeweiligen „Schutzmacht“. In Marokko und insbesondere in Tanger gelang einigen jüdischen Familien nach der Eröffnung diplomatischer Vertretungen auf diese Weise innerhalb weniger Jahrzehnte ein sozialer Aufstieg. Der typische Karriereweg eines jungen männlichen Mitglieds einer jüdischen Familie begann laut Susan Gilson Miller mit einer Anstellung als Übersetzer, führte dann über die Berufe des Geldwechslers oder Händlers zur Etablierung als internationaler Bankier und Geschäftsmann. Wohlhabende jüdische Familien bildeten auf diese Weise den Kern einer westlich orientierten Elite, der mittels des Immobilien- und Grundstücksmarkts ein großer Einfluss auf die Stadtentwicklung zukam.15 Die Protegés können somit als Intermediäre, ein Terminus aus der Kolonialgeschichte, verstanden werden, die innerhalb kolonialer Gesellschaften eine wichtige Funktion für die Herrschaftsausübung spielten.16 Insofern bildeten exterritoriale Privilegien die Basis für eine spezifische Form des Kolonialismus in Marokko, welcher sich in der Gründung internationaler Kommissionen und Verwaltungsinstitutionen ausdrückte.
Die heterogene Stadtgesellschaft von Tanger war während des 19. Jahrhunderts und zur Zeit der internationalen Zone durch starke Hierarchien zwischen Europäern und Marokkanern geprägt. Nach 1923 existierten in Tanger koloniale Gesellschaftsstrukturen. Die muslimischen Einwohner stellten zwar die Bevölkerungsmehrheit dar, verfügten aber nur über einen sehr geringen politischen Einfluss in der internationalen Verwaltung. Das Hotel El Minzah, die konsularischen Niederlassungen, christliche Kirchen und Kultureinrichtungen wie das Theater Cervantes können als Landmarken einer Kolonialstadt gelten, die nicht von einer, sondern von vielen „Metropolen“ geprägt war.17 Wie wichtig diese kolonialen Landmarken auch für die marokkanische Obrigkeit waren, zeigt sich darin, dass der Marktplatz Grand Sokko nach der Unabhängigkeit des Königreichs Marokko im Jahr 1956 und der Auflösung der internationalen Zone in „Place du 9 Avril 1947“ umbenannt wurde. An diesem Datum hatte Sultan Mohammed V. (1909 – 1961, reg. 1927 – 1953 und ab 1957) am selben Ort die Unabhängigkeit von den Imperialmächten gefordert.18 Die zentrale These dieser Studie lautet daher, dass die internationalen Organisationen und Verwaltungsinstitutionen den Rahmen für eine spezifische Form der kolonialen Herrschaft bildeten, welche als „geteilter Kolonialismus“ bezeichnet und konzeptualisiert werden soll.

1.1 Forschungsfragen und Thesen

Als „diplomatische Hauptstadt Marokkos“ und internationale Zone stand Tanger von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahr...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Danksagung
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Die Straßen: die Aneignung öffentlicher Infrastrukturen
  7. 3 Das Meer: die Einbindung Tangers in transnationale Netzwerke
  8. 4 Die internationale Zone: die Institutionalisierung des geteilten Kolonialismus
  9. 5 Die Stadt: der Umbau Tangers zur Kolonialstadt
  10. 6 Fazit
  11. Ortsregister
  12. Personenregister
  13. Sachregister