1 Was ist unter jahrgangsübergreifendem Unterricht zu verstehen?
Jahrgangsübergreifender Unterricht hat sowohl national als auch international Konjunktur, wird aber gleichzeitig auch kritisch unter die Lupe genommen. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Begriffsverständnis im nationalen und internationalen Kontext, wodurch die Spezifik der Jahrgangsmischung aufgespannt werden soll.
1.1 Verständnis im deutschen Sprachraum
In Deutschland wird unter jahrgangsübergreifendem Unterricht schlicht das Unterrichten verschiedener Jahrgänge in einer Lerngruppe bzw. einer Schulkasse verstanden. Begriffe wie
jahrgangsgemischtes,
altersgemischtes,
altersheterogenes,
jahrgangsübergreifendes oder
jahrgangskombiniertes Lernen werden synonym verwendet. Häufig wird der Begriff der Jahrgangsmischung und nicht der Altersmischung verwendet, da üblicherweise auch in Jahrgangsklassen eine größere Altersspanne vorzufinden ist. Somit soll mit dem Begriff der Jahrgangsmischung deutlich gemacht werden, dass es sich um eine Mischung schulischer Jahrgänge handelt (vgl. Demmer-Dieckmann 2005, 9). Dabei ist eine immense Vielfalt an Organisationsformen auszumachen, die in folgender Übersicht nur angedeutet werden kann und nicht als trennscharf zu verstehen ist, da viele Überschneidungen möglich sind (vgl. Wagener 2020, 226f.,
Tab. 1).
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Die Darstellung zeigt zwar vielfältige Organisationsformen jahrgangsübergreifenden Unterrichts auf, gibt jedoch keine Hinweise darauf, wie der Unterricht konzeptionell gestaltet wird. Eine etwas differenziertere Sichtweise findet sich in der Schweiz, Österreich und im englischen Sprachraum.
In der Schweiz ist der Begriff des altersdurchmischten Lernens (AdL) gängig, aber auch altersgemischtes, altersheterogenes und jahrgangsübergreifendes Lernen werden synonym verwendet. Gemeint ist damit, dass Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrem Alter »gemeinsam und differenziert nach ihrem Entwicklungs- und Lernstand« (Achermann & Gehrig 2011, 18) lernen und Heterogenität als Ressource
Tab. 1: Organisationsformen von Jahrgangsübergreifendem Unterricht (eigene Darstellung)
Kombinationsformen verschiedener Jahrgänge in der Grundschule:Zeitlich und fachlich begrenzte Jahrgangsmischung in der Grundschule:
für das gemeinsame Lernen und Zusammenleben betrachtet wird (ebd.). Der Begriff des altersdurchmischten Lernens steht für ein pädagogisches Konzept, das im zweiten Kapitel genauer ausgeführt wird. Demgegenüber ist mit dem Begriff der Mehrklassenschule eine Unterrichtsgestaltung verbunden, in der zwar zwei, drei oder mehr Klassen in einem Raum von einer Lehrperson unterrichtet werden, aber jede Klassenstufe ihren eigenen Stoffplan hat, sodass die Lehrperson eine Art Abteilungsunterricht durchführt.
In Österreich existieren laut Nationalem Bildungsbericht jahrgangsgemischte Mehrstufenklassen, die aufgrund der hohen Anzahl kleiner Schulen (30 Prozent aller Volksschulen) zwangsläufig gebildet werden (Breit et al. 2019, 21). Demgegenüber wird im Modell der Wiener reformpädagogischen Mehrstufenklassen ein Konzept favorisiert, das »eine altersbezogene Heterogenität« (ebd.) bewusst in die pädagogische Arbeit einbindet, sodass der Beweggrund, Mehrstufenklassen zu bilden weniger ein organisatorischer als vielmehr ein pädagogischer ist.
1.2 Verständnis im englischen Sprachraum
Im englischen Sprachraum stellt sich das Verständnis der Jahrgangsmischung zwar differenziert dar, allerdings lassen sich auch hier viele verschiedene Terminologien finden, die teilweise synonym verwendet werden, was sich erschwerend sowohl in Diskussionen um Jahrgangsmischung als auch in der Forschung zeigt (vgl. Ronksley-Pavia, Barton & Pendergast 2019, 26). In Orientierung an Cornish (2010) und Lloyd (1999) lässt sich folgender Überblick zusammenstellen (
Tab. 2).
Tab. 2: Organisationsformen im englischen Sprachraum (eigene Darstellung)
1.3 Zusammenfassung
Trotz der Vielfalt der Begriffe und der Vielzahl an Realisierungsformen lassen sich im Wesentlichen zwei Hauptbegründungen ausmachen, die sowohl im nationalen als auch im internationalen Zusammenhang von Bedeutung sind: Jahrgangsmischung bzw. jahrgangsübergreifender Unterricht (in diesem Buch synonym verwendet) wird aus der Notwendigkeit (z. B. Mangel an Schülerinnen und Schülern, aber auch Mangel an Lehrkräften, Vermeidung von Schulschließungen) sowie aus pädagogischen Erwägungen (z. B. Förderung des individuellen und gemeinsamen Lernens, Entwicklung) heraus praktiziert. Beide Begründungen werden im folgenden Kapitel näher beleuchtet und im Rahmen der Entstehung und Entwicklung der Grundschule seit 1919 in ihrem Stellenwert nachvollzogen.
2 Jahrgangsübergreifender Unterricht im Wandel: Entwicklungen und Begründungen
Der jahrgangsübergreifende Unterricht war seit der Gründung der Grundschule immer wieder verschiedenen Strömungen und Wandlungen unterworfen, die im folgenden Kapitel anhand prägnanter Zeitabschnitte nachvollzogen werden. Die Zeit der Gründung der Grundschule bildet den historischen Ausgangspunkt (
Kap. 2.1), gefolgt von Überlegungen zur Frage, welche Bedeutung die Grundschule als Unterstufe der Volksschule für die Jahrgangsmischung hatte (
Kap. 2.2). Als wichtige Zäsur werden reformpädagogische Konzepte betrachtet, in denen Jahrgangsmischung pädagogisch begründet wurde (
Kap. 2.3). In der Zeit des Nationalsozialismus war die Jahrgangsmischung in Bezug auf das Erreichen staatskonformer Erziehungsziele bedeutend (
Kap. 2.4) und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Republik als auch später in der Bundesrepublik als rückständig betrachtet (
Kap. 2.5). Im Anschluss werden die aktuellen Entwicklungen dargelegt (
Kap. 2.6), bevor das Kapitel mit einem Zwischenfazit (
Kap. 2.7) abgeschlossen wird.
2.1 Die Gründungszeit der Grundschule als Ausgangspunkt für Jahrgangsmischung
Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit jahrgangsübergreifendem Unterricht in der Grundschule wird von ihrer Gründung im Jahr 1919 ausgegangen. Zunächst wurde die Grundschule nicht als eigenständige Institution gegründet, sondern umfasste die vier unteren Jahrgänge der Volksschule. Diese wiederum war eine Einrichtung aus der Kaiserzeit, die weitergeführt wurde. Die systemische Verbindung von Grundschule und Volksschule blieb bis 1964 bestehen, wie auch im Reichsgrundschulgesetz von 1920 ersichtlich wird: »Die Volksschule ist in den vier untersten Jahrgängen als die für alle gemeinsame Grundschule, auf der sich auch das mittlere und höhere Schulwesen aufbaut, einzurichten.«2 Erst 1964 wurde die Grundschule zur eigenständigen Institution, unabhängig von der Hauptschule (vgl. Götz 2019, 40).
Als »die für alle gemeinsame Grundschule« sollte sie Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft eine erfolgreiche Schullaufbahn gewähren. Allerdings wurde dieser Anspruch von Anfang an nur teilweise eingelöst. Aufgrund des Kriteriums der Schulfähigkeit, die sich nicht nur auf den Schulanfang bezieht, konnte und kann die Grundschule keine »für alle gemeinsame Schule« sein, als welche sie ursprünglich bezeichnet wurde. Denn die Selektion von nicht schulfähigen Kindern vor dem Eintritt in die Grundschule (im Reichsschulpflichtgesetz von 1938 gesetzlich verankert3) zeigt sich bis heute insbesondere in Form einer erheblichen Anzahl an Zurückstellungen vom Schulbesuch (vgl. Pape 2016, 104). Darüber hinaus erfuhr die Einrichtung von Hilfs- bzw. Sonderschulen in der Zeit der Weimarer Republik und insbesondere in der NS-Zeit einen erheblichen Gewinn durch ihren Ausbau im Rahmen eines eigenständigen Sonderschulwesens (vgl. Hänsel 2006). Diese Einschränkungen des Anspruchs der Grundschule als Einheitsschule wurden in der Erziehungswissenschaft bisher eher randständig thematisiert. Nach Herrlitz, Hopf und Titze (1998, 126) kann die Grundschule verstanden werden als Schule, in der »die strikte Segregation von höherer und niederer Bildung – allerdings nicht die von ›Normalschulen‹ und ›Hilfsschulen‹ für geistig und körperlich Behinderte – durchbrochen« wird. Diese Aussage ist bis heute zutreffend.
2.2 Jahrgangsmischung in der Grundschule als Unterstufe der Volksschule
Als Grundlage für die Auseinandersetzung mit der Jahrgangsmischung ist der schon erwähnte Zusammenhang von Grundschule und Volksschule zu betrachten. Die Grundschule wurde nicht als eigenständige Institution eingerichtet, sondern umfasste die vier unteren Jahrgänge der Volksschule. Somit war sie auch der standortabhängigen Gliederung unterworfen und damit sehr unterschiedlichen Bedingungen in der Stadt und auf dem Land. Die Mehrzahl der preußischen Volksschulen befand sich auf dem Land und war überwiegend jahrgangsübergreifend (ein- und zweiklassig) organisiert, während die städtischen Volksschulen mehrheitlich in Jahrgangsklassen gegliedert waren.
Die Unterrichtsbedingungen waren also sehr unterschiedlich, da insbesondere auf dem Land sehr ungünstige Rahmenbedingungen vorherrschten. Beklagt wurden vom Deutschen Lehrerverein in der Denkschrift »Die Landschule« von 1926 vor allem die unzureichende Ausstattung an Personal und Lehrmitteln an den Schulen sowie die zu hohe Schülerzahl pro Klasse. Die Beurteilung der Lernentwicklung der einzelnen Kinder fiel überwiegend negativ aus, da zu wenige Unterstützungsmaßnahmen auf dem Land vorhanden waren. Hinsichtlich der aus Ressourcenmangel begründeten jahrgangsübergreifenden Unterrichtsgestaltung wurd...