Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren Erledigung
Mitten in unserem schönen Europa mit seiner wunderbaren Friedensordnung auf einmal wieder Krieg? Wie konnte es bloß dazu kommen? Ja, wie nur? Auf einmal, mitten im schönsten Frieden, ist da jedenfalls nicht ein Krieg ausgebrochen. Er ist auch nicht aus unerfindlichen Gründen von irgendeinem durchgeknallten russischen Autokraten vom Zaun gebrochen worden. Auch in dem Fall gilt: Die Gründe für den Krieg werden im Frieden geschaffen. Von Staaten, die es in ihrem Verkehr untereinander wieder einmal so weit gebracht haben, dass sie meinen, sich wechselseitig eine vernichtende Niederlage beibringen zu müssen. Im vorliegenden Fall sind die Gründe lange herangereift. Und dass es nun in der Ukraine losgeht, ist auch kein Zufall.
Es ist mittlerweile fast schon ein Vierteljahrhundert her, dass ein weitblickender strategischer Denker und Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten seine Einschätzung abgegeben hat, dass sich das Schicksal Russlands, sein Status und seine Rolle in der Welt, an der Ukraine entscheidet:
„Man kann gar nicht genug betonen, dass Russland ohne die Ukraine aufhört, ein Imperium zu sein, mit einer ihm untergeordneten und schließlich unterworfenen Ukraine aber automatisch ein Imperium wird.“ (Brzeziński, NZZ, 29.10.99)
Der amerikanische Stratege weiß, dass es für Russland von entscheidender strategischer Bedeutung ist, diesen großen Nachbarstaat politisch an seiner Seite zu behalten. Und selbstverständlich ist seine Einschätzung nicht so gemeint, dass hier vitale Interessen Russlands im Spiel sind, die im Umgang mit diesem Staat zu berücksichtigen sind. Genau umgekehrt ist es gemeint: Mit dem Zugriff auf die Ukraine kommt die amerikanische Weltmacht ihrem strategischen Ziel, den Rivalen Russland als militärische Größe irrelevant zu machen, einen entscheidenden Schritt näher.
Amerika und seine Verbündeten in der NATO und in der EU haben mit dieser Zielsetzung die aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen souveränen Staaten in der westlichen Nachbarschaft Russlands systematisch in eine von den NATO-Staaten beherrschte und politisch und ökonomisch an die EU assoziierte Zone verwandelt. Die Kennzeichnung als ‚Einflusssphäre‘ reicht dafür längst nicht hin, nachdem diese Staatenwelt fest in den westlichen Bündnissen verankert ist und – dasselbe anders gefasst – russischer Einfluss und russische Interessen ebenso grundsätzlich ausgeschlossen worden sind. Zu diesem Zweck hat man sich der ökonomischen Notlage der ehemaligen sowjetischen Bündnispartner bzw. Sowjetrepubliken bedient und ihnen die Perspektive eines Anschlusses an den potenten gemeinsamen Markt eröffnet. Dem freien Willen der Völker hat man die Entscheidung darüber auch nicht ganz überlassen. Die EU hat ihre Erweiterung gemeinsam mit den USA politisch flankiert und den dort freigesetzten Nationalismus, soweit er sich gegen die frühere Bündnisvormacht bzw. den Gesamtstaat Sowjetunion richtete, mit allen Mitteln in Gestalt von unzähligen sogenannten NGOs und ‚Beratern‘ gefördert, um ihn als Staatsräson zu etablieren. Und dieser Zugriff ist Zug um Zug auch militärisch abgesichert, diese Staatenwelt weitestgehend in der NATO verstaut und zum Standort von NATO-Kräften hergerichtet worden.
Und schon gleich nicht hat man im Fall der Ukraine lockergelassen. In einem ersten Anlauf wird 2004 vermittels einer ‚Farbrevolution‘ der ‚prowestliche‘ Juschtschenko an die Macht gebracht, und 2008 stellen die USA der Ukraine und Georgien den Eintritt in ihr Kriegsbündnis in Aussicht. Nach Juschtschenkos Ablösung durch Janukowitsch erfolgt der zweite Anlauf: 2014 wird letzterer, nachdem er das Assoziationsabkommen mit der EU abgelehnt hatte, durch einen mit amerikanischer Hilfe organisierten Aufstand auf dem Maidan gestürzt; das nationalistische russlandfeindliche Lager übernimmt die Macht und erklärt die Ukraine umgehend zum Schutzobjekt von EU und USA. Dass genau das der höhere Sinn und Zweck der EU-Osterweiterung war, hat die EU auch ausdrücklich zu Protokoll gegeben: Die geplante Assoziation der Ukraine mit der EU gehe Russland nichts an, hieß es damals, keineswegs werde man mit Russland darüber verhandeln. 1)
Damit hatte Europa seine Methode der friedlichen Eroberung allerdings auch ausgeschöpft. Russland hat in dem Fall nicht mehr einfach unter Protest hingenommen, dass seine strategischen und sonstigen Interessen übergangen werden. Es schaffte seinerseits Fakten, annektierte die Krim, unterstützte tatkräftig den Aufstand im Osten der Ukraine, wo große Teile der Bevölkerung die von Kiew verfolgte russlandfeindliche Linie ablehnten, und stellte damit praktisch klar, dass hier eine rote Linie überschritten worden war. 2) Die andere Seite hat daraufhin den Übergang zur Ächtung und Sanktionierung Russlands vollzogen, den Rest der Staatenwelt in diesem Sinn in Stellung gebracht und damit klargestellt, dass Russland nachzugeben und seine Einkreisung und deren Fortschritte zu akzeptieren hat.
Es hat die ganze Zeit niemand übersehen können, worum es hier geht: um einen Machtkampf auf höchster Ebene, in dem es der einen Seite um ihre Selbstbehauptung als eine Macht geht, die in der Welt ihren Interessen Geltung verschafft, um ihren Einfluss auf fremde Souveräne kämpft, einen entsprechenden Status beansprucht und in ihrer Bewaffnung auch über die nötigen Mittel verfügt, um diesen Anspruch anzumelden – und der anderen darum, ihre Weltordnung durchzusetzen, in der ein solches Russland genau deswegen keinen Platz hat, weil ihr Anspruch auf Weltherrschaft unteilbar ist.
I. Russland vollzieht eine Wende
1. Der Kreml zieht Bilanz
Die russische Regierung präsentiert die Resultate der gesamten postsowjetischen Etappe der schönen neuen Weltordnung und erhebt schwere Vorwürfe: In 30 Jahren sind mit dem Vorrücken der NATO alle diesbezüglichen Zusicherungen im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gebrochen worden.
„Es ist allgemein bekannt, dass uns versprochen wurde, dass sich die Infrastruktur des NATO-Blocks nicht einen Zentimeter nach Osten ausdehnen würde. Jeder weiß das. Heute sehen wir, wo die NATO steht: in Polen, in Rumänien und in den baltischen Staaten. Sie haben das eine gesagt, aber das andere getan. Sie haben uns einfach betrogen.“ (Wladimir Putin, 1.2.22) 3)
Ob das Versprechen überhaupt vorgelegen hat, ob schriftlich, mündlich oder gar nicht, der Streit, für den man in die Archive abtaucht und Protokollnotizen sowie das Erinnerungsvermögen der damals Beteiligten mobilisiert, mag für die völkerrechtlichen Rechtfertigungsarien der NATO-Staaten erheblich sein – was die unübersehbare strategische Sachlage betrifft, erfüllen die westlichen Widerlegungen den Tatbestand eines Ablenkungsmanövers. Tatsache ist jedenfalls, dass sich das westliche Kriegsbündnis nicht nur mit den Staaten des Warschauer Pakts das komplette ehemalige Glacis der Sowjetunion inkorporiert hat, sondern diese sowie ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien und die Ukraine inzwischen auch als integrale Bestandteile seiner Front gegen den Kreml behandelt und mit seiner militärischen Infrastruktur unmittelbar an die russischen Grenzen heranrückt.
„Früher hat die NATO mit Begriffen wie ‚vorübergehende Stationierung‘ gespielt. Jetzt spricht sie von einer vollständig nachhaltigen und turnusmäßigen Präsenz. Das bedeutet in Wirklichkeit eine ständige Präsenz... Liest man die Berichte der führenden westlichen politikwissenschaftlichen Zentren, so geben sie freimütig zu, dass sich die NATO durch die Verlegung ihrer Grenzen in die Vororte von St. Petersburg eigene Schwachstellen geschaffen hat. Gleichzeitig kann die Strecke von Tallinn nach St. Petersburg mit dem Fahrrad zurückgelegt werden; NATO-Kampfflugzeuge können St. Petersburg in weniger als zehn Minuten erreichen.“ (Vize-Außenminister Alexander Gruschko, Rossijskaja Gaseta, 20.12.21)
Die russische Bilanz im Einzelnen:
a) Insbesondere die Verwandlung der Ukraine in einen dezidiert antirussischen Frontstaat verleiht der militärischen Bedrohung für Russland eine neue, kriegsentscheidende Qualität.
„Was sie in der Ukraine tun, versuchen oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern von unserer Landesgrenze entfernt statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür. Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwo mehr hin zurückziehen können.“ (Wladimir Putin, 21.12.21)
– Das ukrainische Heer, seit 2016 im Rahmen des „Comprehensive Assistance Package for Ukraine“ in allen seinen Abteilungen von verschiedensten NATO-Staaten mit Hundertschaften von Ausbildern arbeitsteilig gedrillt, in mehr oder minder ununterbrochenem Manöverbetrieb an NATO-Standards in Sachen Bewaffnung, Organisation, Kampftechnik herangeführt, hat enorm an Schlagkraft gewonnen. Aus einer depravierten Truppe mit ein paar Tausend noch einsatzfähigen Soldaten, im Donbass-Krieg vernichtend geschlagen, ist ein ernstzunehmender Kriegsgegner mit eigenen militärischen Fähigkeiten geworden. 4) Etwa die Hälfte der ukrainischen Armee steht an der Kontaktlinie im Osten; dazu kommen die bewaffneten Formationen der ukrainischen Rechten. Die Truppe ist ausgestattet mit gebrauchten Waffen in größeren Mengen und zunehmend auch modernem US-Gerät, das inzwischen nicht mehr frontfern gelagert – wie noch von der Trump-Administration gefordert –, sondern eingesetzt wird, ebenso wie neuerdings türkische Kampfdrohnen – so viel zur Einhaltung des sogenannten Waffenstillstands vonseiten der Ukraine. Die amerikanische Luftwaffe liefert die für eine Invasion in die Separatistenrepubliken nötigen Daten. 5)
Die Kriegsfähigkeit der Ukraine hat entsprechend zugenommen, und an ihrem Kriegswillen lässt die aktuelle Regierung auch keine Zweifel aufkommen, abzulesen an ihrem Aufmarsch im Frühjahr 2021 und den einschlägigen strategischen Planungen, auf die Russland verweist:
„Im März 2021 wurde in der Ukraine eine neue Militärstrategie verabschiedet. Dieses Dokument ist fast ausschließlich der Konfrontation mit Russland gewidmet und hat zum Ziel, ausländische Staaten in einen Konflikt mit unserem Land zu verwickeln. Die Strategie sieht die Organisation einer sogenannten terroristischen Untergrundbewegung auf der russischen Krim und im Donbass vor. Außerdem werden die Konturen eines möglichen Krieges skizziert, der nach Ansicht der Kiewer Strategen ‚mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu günstigen Bedingungen für die Ukraine‘ sowie – hören Sie bitte gut zu – ‚mit ausländischer militärischer Unterstützung in der geopolitischen Konfrontation mit der Russischen Föderation‘ enden soll.“ (Wladimir Putin, 21.2.22) 6)
Im Frühjahr ist die Ukraine zwar noch von ihren Schutzmächten ausgebremst worden, 7) davon verblieben ist aber eine dauerhafte Kriegsdrohung für die zwei ‚Volksrepubliken‘ und deren Schutzmacht Russland.
– Mit der Inbesitznahme der Ukraine durch das Bündnis verliert Russland sein wichtigstes strategisches Vorfeld in Europa; oder, dasselbe umgekehrt ausgedrückt, die NATO steht unmittelbar an der mehr als 2000 km langen Grenze zu Russland; sie beherrscht das einstige russische Vorfeld fast lückenlos, bestückt es zügig mit immer mehr Kriegsmitteln (Ausbau von Flughäfen, Radarstationen, Marinebasen), darunter schweres Gerät wie Raketen-Artillerie mit einer Reichweite von um die 1000 Kilometer. Die für Russland bedrohlichste Aufrüstung in der Ukraine ist freilich die nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag wieder erlaubte Dislozierung von nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen. 8)
– Die derzeit noch bescheidenen Fähigkeiten der ukrainischen Kriegsmarine, die genutzt werden, um im Verbund mit NATO-Kräften die Manövrierfähigkeit der russischen Schwarzmeerflotte, deren Zugang zum Mittelmeer zu beschränken, werden vor allem mit britischer Hilfe zügig ausgebaut. Es entsteht eine moderne, an NATO-Standards orientierte militärische Infrastruktur am Schwarzen Meer, die Ukraine erhält neue Fregatten und Landungsschiffe – eine wertvolle Ergänzung der regelmäßig im Schwarzen Meer kreuzenden und übenden NATO-Zerstörer und -Fregatten (mit je ein paar Dutzend Marschflugkörpern und/oder mit Atomsprengköpfen bestückbaren Raketen an Bord), die Russland jetzt schon eine ständig bedrohlichere, eigenständige strategische Front an der südrussischen Peripherie eröffnen. 9)
– Die NATO übt am Standort Ukraine den Krieg in Dauermanövern 10) in so gut wie jedem Format und jeder Aufgabenstellung, von der nächtlichen Landungsoperation bis zum Raketenabschuss auf die russischen Machtzentren und Übungen zur Abschreckung auch mit Atomwaffen, alles ganz ohne formellen Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Der Umfang dieser Manöver mit den Teilnehmern Georgien und Ukraine und zuweilen auch mit Provokationen, die einem Übergang zum offenen Krieg nahekommen – im letzten Frühjahr nimmt ein britischer Zerstörer in voller Gefechtsbereitschaft Kurs auf den Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte und lässt sich erst durch Bombenabwürfe der russischen Luftwaffe stoppen –, verlangt dem Gegner permanente Kriegsbereitschaft ab. Und das nicht nur in der Ukraine; an allen russischen Grenzen finden rund ums Jahr NATO-Manöver mit schweren Waffen statt, die eine dauerhafte Invasionsgefahr darstellen und das auch sollen. Angekündigt ist die nächste Übung in der Arktis, wobei mit der größten Selbstverständlichkeit auch ‚neutrale‘ Staaten wie Finnland und Schweden mit einbezogen und nachdrücklichst darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihre Sicherheit letztlich nur in der NATO zu garantieren ist. 11)
Dies alles summiert sich zu einem militärischen Aufbau, der zur Eröffnung von für den Kreml mit konventionellen Mitteln nicht mehr beherrschbaren Kriegsszenarien an mehreren Frontabschnitten aus dem Stand heraus taugt:
„Wenn die Ukraine in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommt, wird sich die Lage in der Welt und in Europa drastisch verändern, insbesondere für uns, für Russland. Wir können nicht anders, als auf diese reale Gefahr zu reagieren, zumal, ich wiederhole es, die westlichen Schirmherren der Ukraine ihr helfen könnten, diese Waffen zu erwerben, ...
