Bobby – Rotes Theater
Nach acht, Bonn 1987
»Vielleicht das interessanteste und wohl auch das tragischste Schicksal meiner Brüder hatte Bobby, der jüngste. Sein Taufname war Ernst Robert Eugen. Meine Eltern konnten sich nicht einigen, darum bekam er so viele Namen. Mein Vater war gegen Robert, daher stand Ernst an erster Stelle. Aber beim Rufnamen setzte meine Mutter sich durch. Zu Hause wurde daraus dann Bobby – oder russisch Vovik, Bobka und dergleichen. Und schließlich änderte er selbst als Erwachsener seinen Namen in Jewgenij, in Anlehnung an seinen dritten Vornamen Eugen. Also man kann sagen, er hat im Leben guten Gebrauch gemacht von seinen vielen Vornamen!
Ich bleibe jetzt der Einfachheit halber bei Bobby. Er war neun Jahre älter als ich, 1894 geboren. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war er zwanzig. Er meldete sich als Freiwilliger und kam zunächst an die rumänische Front. Von dort gelangte er etwa 1916 nach Odessa, wo er Fredy traf. In Odessa tummelte sich damals die künstlerische Avantgarde Russlands. Das mag daran gelegen haben, dass die Stadt dieses südliche Flair hat, ganz anders als Moskau oder St. Petersburg. Und Odessa war durch den Freihafen75 stark international geprägt. Der Schriftsteller Isaak Babel hat das Odessa dieser Zeit wunderbar beschrieben.
Bobby war zwar als Soldat dort, aber nach dem Waffenstillstand 1917 hatte er eine Menge Zeit, sich in der Stadt umzusehen. Die Künstlerszene hat auf meinen sehr musisch veranlagten Bruder sicher großen Eindruck gemacht. Er begann, in einem Amateurtheater mitzuspielen und entwickelte dafür eine solche Leidenschaft, dass er sich daraufhin nichts sehnlicher wünschte, als Schauspieler zu werden. Sein Lehrer war Pawel Gaideburow76, ein später sehr bekannter Schauspieler und Regisseur.XXXIV
Als 1918 der Bürgerkrieg begann, kämpfte Bobby – im Gegensatz zu meinen anderen beiden Brüdern – nicht in der Weißen, sondern in der Roten Armee. Nach der Revolution blieb er in Russland. Ob und in welcher Weise er sich politisch als Kommunist definierte, kann ich nicht sagen – aber es reichte aus, um dort zu bleiben. In den ersten Jahren hatten Künstler noch viele Freiheiten. Sie konnten mit neuen Inhalten und Ausdrucksformen experimentieren. Das war reizvoll für Bobby.
Eine Zeitlang besuchte er in Moskau die Schauspielschule des ›Moskauer Künstlertheaters‹. Dieses Theater war schon vor der Revolution legendär. Der Direktor war Konstantin Stanislawski.77 Er entwickelte neuartige, sehr ausdrucksstarke Theatertechniken, die auch das einfache Volk erreichen sollten. So etwas passte den Bolschewiki gut ins Konzept.
Bobby wollte in Moskau die Ausbildung fortsetzen. Aus irgendeinem Grund klappte das nicht. 1922 entschloss er sich, stattdessen ein Studium in Petersburg aufzunehmen, beziehungsweise Leningrad. Als er die Universität abgeschlossen hatte, bekam er eine Stelle als Schauspieler beim ›Theater der jungen Zuschauer‹XXXV, auf Russisch oft als TJuS abgekürzt.78 Wsewolod Meyerhold war dort Regisseur.79
In den ersten Jahren nach der Revolution konnte Bobby noch nicht von der Schauspielerei leben, sodass er eine ganze Reihe anderer Jobs machen musste. Im Laufe der Jahre arbeitete er sich vom Schauspieler zum Regisseur empor. Von den Stücken, in denen er mitwirkte und Regie führte, schickte er uns später Fotos und Programmhefte nach Berlin.
In Leningrad heiratete er eine Schauspielerkollegin, Lisa Uvarova80 XXXVI. Die Ehe wurde Mitte der 30er-Jahre wieder geschieden81.
Nach unserer Flucht hatten wir ein paar Jahre keinerlei Nachricht von Bobby gehabt. Wir fürchteten, er sei tot. 1920 kam endlich ein Brief von ihm, in dem er berichtete, dass er Schauspieler geworden war. Meine Eltern hofften, Bobby würde zu uns nach Deutschland kommen. Ab und zu gab es Kontingente für Ausreisewillige.82 Doch er blieb in Russland, und mit der Zeit mussten meine Eltern sich damit abfinden, dass er offenbar nicht fortwollte – das war für sie keine leichte Erkenntnis. Auch das Verhältnis zu den beiden älteren Brüdern trug einige Schrammen davon, denn sie hatten im Bürgerkrieg auf gegnerischer Seite gekämpft. Keiner von ihnen war politisch verbohrt, aber dennoch spielte es eine gewisse Rolle zwischen ihnen.
Anfang der 20er-Jahre änderte Bobby seinen Vornamen in Jewgenij. Diese Umbenennung mag ihm einerseits künstlerisch gefallen haben. Aber andererseits denke ich, dass er bewusst einen russischen Namen aussuchte, denn auch nach dem Ersten Weltkrieg herrschte in Russland eine stark antideutsche Stimmung. Da war es besser, man hieß Jewgenij Gakkel als Robert Hackel.
Bobby und Paul, vermutlich vor der Villa Kottow in Heidelberg, 1928
Bobby schrieb meinen Eltern regelmäßig Briefe, kam aber nur ein einziges Mal nach Deutschland, im Sommer 1928, davon habe ich erzählt. Wir hatten ihn zwölf Jahre nicht gesehen. Er verbrachte die meiste Zeit in Mannheim bei Paul.
Er traf dort auch Fredy und meine Eltern. Bei mir in Berlin war er nur einen einzigen Abend. Wir dachten nicht, dass es das letzte Mal wäre, dass wir uns sehen würden. Man hoffte damals, das Reisen würde wieder einfacher, aber bekanntlich kam es nicht so. Meine Eltern mögen auch damals noch die leise Hoffnung gehabt haben, er werde in Deutschland bleiben. Aber Bobby hatte sich zu dieser Zeit in Russland schon einiges aufgebaut und seine Frau Lisa war dort, also fuhr er zurück. In den darauffolgenden Jahren – mit dem Aufstieg von Stalin und Hitler – kühlten die Beziehungen zwischen den Ländern wieder ab. Unser Kontakt zu Bobby beschränkte sich auf Briefe, die meist an meine Mutter adressiert waren und die sie an uns weitergab. Bobby machte eine erfolgreiche Theaterkarriere und wurde zum Leiter eines Theaters in einem Kulturhaus für Arbeiter. Dort machte er ›rotes Theater, Agitationstheater im Stil Majakowskis‹83.
Obwohl er ein erfolgreicher Theaterdirektor war, mussten wir ihm immer wieder Pakete mit Kleidung und Grundnahrungsmitteln schicken, weil es sie einfach nicht zu kaufen gab.
Seit den frühen 30er-Jahren machte er manchmal Andeutungen, dass seine Stücke politisch kritisiert worden seien. Er bekam die Auswirkungen von Stalins Kulturpolitik zu spüren, die wir aber noch nicht recht deuten konnten. Seine Ehe mit Lisa zerbrach in dieser Zeit, er muss sich in einer innerlichen Krise befunden haben.
Noch in Südafrika erreichten uns einzelne Briefe. Aber 1937 brach ganz plötzlich der Kontakt ab, wir hörten wir nichts mehr von ihm. Wir nahmen an, dass er mit den wachsenden internationalen Spannungen es für zu riskant hielt, an Verwandte ihm Ausland zu schreiben. In den Zeitungen bei uns lasen wir von den stalinistischen Schauprozessen gegen sogenannte ›Verräter an der revolutionären Sache‹. Stalin lieferte Tausende von Menschen, auch Kommunisten der ersten Stunde, erbarmungslos ans Messer. Vielen Künstlern wurden die absurdesten Vorwürfe gemacht: dass sie Spione, Saboteure oder heimliche Konterrevolutionäre seien.
Als solche Nachrichten zu uns drangen, begannen wir uns Sorgen um Bobby zu machen. Wir haben wieder und wieder versucht, zu ihm Kontakt aufzunehmen – absolut vergebens! Während des Krieges war sowieso Funkstille, man konnte keine Briefe in die Sowjetunion schicken. Nach dem Krieg haben wir aus Südafrika zahlreiche Suchanfragen über das Rote Kreuz gestellt. Man versprach uns alles Mögliche, aber es kam nie etwas dabei heraus. Wer weiß, was aus meinem Bruder geworden ist! Leningrad war im Krieg fast drei Jahre lang von der deutschen Wehrmacht belagert und wurde regelrecht ausgehungert. Möglich, dass er dabei umgekommen ist. Ich bin aber überzeugt, dass Bobby bereits dem stalinistischen Terror zum Opfer gefallen ist. Der berühmte Regisseur Meyerhold, unter dem Bobby gearbeitet hatte, wurde als ›Formalist‹ – das war einer dieser typischen abstrusen Vorwürfe – verhaftet und umgebracht. Wahrscheinlich ist so etwas Ähnliches auch meinem Bruder widerfahren. Es gab Kritik an seinen Inszenierungen, er stammte aus einem bürgerlichen Milieu, seine gesamte Familie war im ›feindlichen‹ Ausland, obendrein hatte er jüdische Vorfahren. Wenn er auch nur wegen einem dieser Faktoren in Ungnade gefallen war, dann reichte das für eine sofortige Hinrichtung oder zwanzig Jahre Lagerhaft … Was immer damals geschehen ist – wir haben nie wieder ein Lebenszeichen von ihm bekommen.«
Spurensuche, Berlin, 2017
Die Figur Bobby fasziniert mich vom ersten Augenblick an. Ernst Robert Hackel aus St. Petersburg wird zu Jewgenij Gakkel aus Leningrad. Ich versuche mir vorzustellen, wie sein Leben nach der Revolution verlaufen sein mag.
Wenn man sich der damaligen Situation von den äußeren Fakten her nähert, war diese Zeit extrem unruhig und chaotisch. Die alten Eliten waren geflohen oder verhaftet und ermordet worden. Das ganze Land befand sich in einer Umwälzung unvorstellbaren Ausmaßes. Die Bolschewiki konnten sich an der Macht halten, obwohl fast niemand das für möglich gehalten hatte. Der gesellschaftliche Anspruch der Sowjetmacht war die Schaffung des ›Neuen Menschen‹, der sich pragmatisch den Gegenwartsproblemen stellte, alle früheren Klassenunterschiede und Konflikte überwindend. Binnen einer Generation sollte aus einem rückständigen Agrarland eine moderne Industrienation geformt werden. An diesen kühnen Plänen sollten die Künstler mitwirken.
Das russische Theater war schon vor der Revolution international berühmt gewesen. Die neuen Machthaber entdeckten es als Instrument für ihre Ziele. Stanislawski und Meyerhold, die beiden Regisseure, die für Bobbys Karriere eine Rolle spielten, gehörten damals zu den prominentesten Vertretern des sowjetischen Theaters. Meyerhold prägte das Zitat: »Ich möchte im Zeitgeist brennen. Ich wünschte, alle Diener der Bühne wären sich ihrer hohen Mission bewusst. Ja, das Theater könnte eine riesige Rolle beim Umbau alles Bestehenden spielen!«XXXVII
Als Sonja mir damals von ihrem Bruder Bobby erzählte, sah ich ihn vor meinem inneren Auge als Vertreter der russischen Avantgarde, in einer Linie mit Malern wie Tatlin, Malewitsch, El Lissitzki, dem Fotografen Rodtschenko, dem Filmregisseur Eisenstein oder dem Theaterrevolutionär Majakowski, die im Russland der frühen 1920er-Jahre ein spannendes Experimentierfeld vorfanden.
Gehörte Bobby zu diesem Kreis, zu denen, die ›im Zeitgeist brannten‹? – oder stimmt dieses Bild nicht? Eigentlich war er Angehöriger einer Schicht, die von den Bolschewiki aus dem Land gejagt wurde. Wie geschah es, dass Bobby, aus dem jüdisch-assimilierten Bürgertum stammend, in diesen Jahren zum Leiter eines ›Roten Theaters‹ avancieren konnte? Eine Weile existierten noch gewisse Nischen, in denen die alten Milieus überlebten. Manchen Leuten gelang es, in der jungen Sowjetunion eine Art Boheme-Dasein zu führen und ihre bürgerlichen Lebensverhältnisse weitgehend beizubehalten. Trifft das eher auf Bobby zu? Wurde er später möglicherweise wegen ›bourgeoiser Tendenzen‹ angeklagt?
Mit Stalins Machtantritt war es mit der künstlerischen Avantgarde und den Experimenten vorbei. Der ›Sozialistische Realismus‹ wurde zur einzig geduldeten künstlerischen Stilrichtung. Kunst war nun ausschließlich dazu da, den Sieg des Kommunismus und die Errungenschaften der Sowjetunion zu ve...