Walther Ziegler
Foucault
in 60 Minuten
Foucaults große Entdeckung
Michel Foucault (1926-1984) ist der wohl schillerndste Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er gilt als einer der ganz großen Poststrukturalisten, lehnt selbst aber jede Zuordnung ab. Sein Denken, so Foucault, passe letztlich in keine philosophische Tradition:
Wenn er ein Thema bearbeite, dann habe er im Unterschied zu anderen Philosophen keine Theorie, die er immer wieder anwenden könne:
Foucault war in der Tat ein sehr eigenwilliger Denker, was bereits seine Buchtitel bezeugen: Wahnsinn und Gesellschaft, Überwachen und Strafen, Die Ordnung der Dinge, Der Gebrauch der Lüste oder Die Sorge um sich. Kaum ein anderer Philosoph hat die Diskussion der letzten Jahrzehnte intellektuell so beflügelt wie Foucault. Zwar hat er keine eigene Denkrichtung oder Schule gegründet, dafür aber gehört er zu jenen Philosophen, deren Bedeutung nach ihrem Tod nicht nachgelassen hat. Im Gegenteil – je weiter wir uns zeitlich von ihm entfernen, umso größer wird die Brisanz seiner Philosophie. Dieser Umstand ist erfreulich und bedenklich zugleich. Erfreulich, weil Foucaults zentraler Gedanke ganz offensichtlich bis zum heutigen Tag lebendig geblieben ist, bedenklich, weil eben dieser Kerngedanke etwas Beunruhigendes und Alarmierendes hat:
Der Mensch, so Foucaults dunkle Prognose, wird langsam und unaufhaltsam verschwinden. In den völlig überfüllten Hörsälen am Collège de France, der Elite-Universität von Paris, verkündet er als junger Professor mit gerade mal vierzig Jahren seinen staunenden Studenten
Foucault meint damit allerdings nicht, wie man zunächst vermuten könnte, dass die menschliche Gattung ausstirbt, etwa durch einen Atomkrieg oder die Folgen der Klimaerwärmung. Nein – der Tod des Menschen vollzieht sich gemäß Foucault keineswegs mit einem Paukenschlag, sondern lautlos, geradezu unmerklich und von innen heraus. Es ist kein physischer, sondern ein psychischer Tod. Foucault will uns zu verstehen geben, dass der Mensch, so wie wir ihn kennen, nämlich als freies, selbstbestimmtes und spontan lustvolles Wesen langsam verschwinden wird. Er löst sich auf in den Diskursen und Strukturen unserer Zwangsgesellschaft – und zwar auf dieselbe unspektakuläre Art, wie ein in den Sand gezeichnetes Gesicht. Mit jeder Welle verliert es an Kontur.
Damit widerspricht Foucault radikal der üblichen Einschätzung, dass der moderne Mensch im Gefolge der Aufklärung immer mehr zu sich selbst findet und immer größere individuelle Freiheiten genießt. Unsere Welt, so Foucault, würde keineswegs durch den wissenschaftlichen Fortschritt und den Humanismus kontinuierlich besser werden. Das Gegenteil sei der Fall. Zwar sei der Mensch in der Epoche der Aufklärung angetreten, um sich selbst mit Hilfe der Wissenschaft und der Kraft des erkennenden Subjekts von allen Zwängen der Natur und der Religion zu befreien, doch am Ende hätte sein angehäuftes Wissen das genaue Gegenteil bewirkt:
Das entfesselte Wissenwollen des Menschen führt zwar gemäß Foucault seit der Aufklärung zu großen technischen Fortschritten. Auch befreit es uns von den mittelalterlichen Illusionen und vom Aberglauben, gleichzeitig aber erzeugt es anstelle des alten Irrationalismus neue, rationale Strukturen, die gerade, weil sie rational begründet sind, die Freiheit des Menschen unerbittlicher beschränken, als jemals zuvor. Die neuen rationalen Erkenntnisse der Wissenschaft und der damit einhergehende Humanismus bringen nur scheinbar eine Verbesserung, in Wirklichkeit sind sie Macht gewordenes Wissen, ein stählernes Korsett, das die Gesellschaft als Ganzes erfasst und diszipliniert.
Der Mensch steuert also mit der Entfesselung seiner Vernunft, ohne es zu wollen, planmäßig auf seine eigene Selbstauflösung hin. Für Foucault ist das 17. und 18. Jahrhundert das eigentlich verhängnisvolle Zeitalter. Hier beginnt die „Abschaffung des Menschen“. Die Wissenschaftler machen nämlich jetzt den Menschen selbst zum Forschungsobjekt. Es entstehen die sogenannten Humanwissenschaften, unter anderem Biologie, Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie, die ein ganz neuartiges und systematisches Wissen vom Menschen hervorbringen. Die Wissenschaft liefert erstmals exakte Definitionen über normales und abweichendes, gesundes und krankes, natürliches und perverses Verhalten. In ganz Europa entstehen jetzt Anstalten, um die Wahnsinnigen aus der Mitte der Gesellschaft zu entfernen:
In seiner, Aufsehen erregenden, Doktorarbeit Wahnsinn und Gesellschaft zeigt Foucault, dass Menschen mit abweichendem Verhalten im Mittelalter und der frühen Neuzeit über Jahrhunderte hinweg toleriert wurden. Zwar hat man sie auch schon früher in den Dorfgemeinschaften als Faktotum, Dorftrottel oder obskure Gestalten verspottet und ausgelacht, aber gleichzeitig geduldet. Im 17. und 18. Jahrhundert werden sie nun aber von einem Heer von Wissenschaftlern in medizinischen Nachschlagewerken als Wahnsinnige definiert und in Irrenhäusern konzentriert. Ab diesem Zeitpunkt beginnt, so Foucault wörtlich, die „große Gefangenschaft“ des Wahns.8 Der Wahnsinn wird jetzt von der Vernunft abgespalten und als gefährliche Unvernunft definiert. Erst durch diese wissenschaftliche Festlegung wird der Irre unwiderruflich zum Irren:
Doch dabei bleibt es nicht. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse werden im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur psychiatrische Anstalten errichtet, sondern erstmals auch gigantische Massengefängnisse. Überall herrscht jetzt der Strafvollzug. Zwar gab es auch in den Jahrhunderten zuvor schon Burgverliese und Kerker, in denen Missetäter und Feinde eingesperrt wurden. Auch hat man einzelne Täter gerne in Käfigen oder am sogenannten Pranger, einem Schandpfahl zur Schau gestellt. Aber die massenhafte Internierung zehntausender Straftäter in sogenannten Zuchthäusern, ist, so Foucault, eine sehr moderne Errungenschaft.
In seinem meistgelesenen und berühmtesten Werk mit dem bezeichnenden Titel Überwachen und Strafen beschreibt Foucault die Einführung eines neuartigen, rational perfektionierten Gefängnismodells durch den Juristen und Sozialphilosophen Jeremy Bentham. Dieser hat 1756 das sogenannte „panoptische“ Gefängnis entworfen, in dem alle Zellen konzentrisch um einen Mittelturm angeordnet sind. Der Wärter kann um sich herum alle Straftäter durch einen engen Schlitz sehen, diese umgekehrt aber nicht den Wärter:
Zwar kann auch der Wärter niemals alle Zellen gleichzeitig im Auge behalten, es genügt aber, so Foucault unter Verweis auf Bentham, dass die Gefangenen wissen, dass sie theoretisch jederzeit von ihm gesehen werden könnten. Sie verhalten sich dann von ganz alleine so, als wären sie unter ständiger Beobachtung. An die Stelle der Disziplinierung tritt die Selbstdisziplinierung. Zur Dauerüberwachung kommt im modernen Strafvollzug noch die totale Kontrolle über Körper und Psyche durch strenge Zeit- und Ablaufvorgaben. Getaktete Klingelsignale geben vor, wann aufgestanden, gearbeitet, gegessen, geschlafen oder Körperertüchtigung durchgeführt wird – alles unter ständiger Lokalisierung der Gefangenen im panoptischen Raum. An dieser Stelle formuliert Foucault seine wohl provokativste und bekannteste These:
Das Gefängnis mit seinen Disziplinierungstechniken des Sehens und Gesehenwerdens wird also gemäß Foucault zum Vorbild und Kern unserer gesamten Zivilisation. Der Lehrer blickt vom erhöhten Pult auf die Schüler, die Chefs vom erhöhten Glaskasten auf die Fabrikarbeiter. Das System des panoptischen Gefängnisses breitet sich in alle Lebensbereiche des gesellschaftlichen Körpers aus:
Der moderne Mensch wird in der Schule, der Kaserne, den Behörden, den Anstalten für Geisteskranke, am Arbeitsplatz und selbst als Arbeitslos...