Movimenti
K
Anna Slawek | Wuppertal
geb. 1980, Dr. theol., Dipl.-Päd., Lehrerin an der Erzbischöflichen St.-Anna-Schule, Wuppertal
Gemeinschaften auf Abwegen?
Strukturelle und dogmatische Defizite der Movimenti
Im Zuge der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche kommt zunehmend eine weitere Form des strukturellen, systemischen Missbrauchs in den Blick, welcher sich maßgeblich auf Laienorganisationen bezieht: Die Rede ist von spirituellem Missbrauch1 im Zusammenhang mit den Movimenti, d.h. den Neuen Geistlichen Gemeinschaften (NGG). Das Phänomen hat vermehrt mediale Aufmerksamkeit2 – neu ist es nicht: Wolfgang Beinert3 stellte bereits 1991 die Frage nach häretischen Gruppen in der katholischen Kirche, deren Entstehen er im Zusammenhang des II. Vatikanums und seiner Vorlaufzeit verortet. Die traditionalistischen Gruppierungen4, welche auf die aufkommende, vermeintliche Unsicherheit konziliarer Neuerungen überwiegend durch Rückzug und Regression reagierten, ordnet W. Beinert als destruktiv und häretisch ein, insofern sowohl das Individuum in seiner persönlichen Entfaltung als auch die christliche Botschaft in ihrem Gehalt beschnitten werden.
Wie steht es daher mit den NGG, die im Windschatten des Konzils Fahrt aufnahmen und sich in ihrem Selbstbild gerade nicht als traditionalistische, sondern als charismatische, aufstrebende Erneuerungsbewegungen darstellen, die das Kirchenbild des II. Vatikanums rezipieren und sich als dessen Widerschein verstehen? Die meisten von ihnen erfreuen sich seit vielen Jahrzehnten der kirchlichen Anerkennung, was eine Überprüfung der Sachlage noch drängender macht. Lassen sich W. Beinerts Überlegungen und Kriterien zu fundamentalistischen und häretischen Gruppierungen auch hier anlegen?
Fehlende Freiheit: Indikator für Fundamentalismus
In seiner Analyse stellt W. Beinert vor allem „dogmatische Defizite“ fest, indem er – den Freiheitsbegriff als Dreh- und Angelpunkt der christlichen Botschaft akzentuierend – den fundamentalistischen Gruppen einen grundlegenden Mangel an Freiheit attestiert. Dieser sei der stärkste Indikator für deren fehlende Kirchlichkeit: Ein fundamentalistischer Katholizismus stellt gleichsam eine „strukturelle Häresie“ dar.
Das zentrale Entstehungsmoment des Fundamentalismus zeigt sich dabei als ein psychologisches: Abgeleitet von der subjektiven Seite des Glaubens (fides qua) weist W. Beinert auf, wie eine schwach entwickelte Ich-Identität des Individuums letztlich unfähig ist zu einem tragfähigen, vertrauensvollen Glauben und folglich zu einer Verschanzung in scheinbar stabilisierende Deutungssysteme und Strukturen tendiert.
Der Autor formuliert aus der Beobachtung, welche sich insbesondere auf Selbstberichte von Aussteiger(inne)n stützt, sechs Grundzüge des Fundamentalismus: die Intransigenz (1) als Verschanzung hinter bestimmten Überzeugungen, welche mit moralisierender Abwertung anderer Ansichten einhergeht. Diese führt unmittelbar zur Isolierung (2), wobei innerhalb der Gruppe ein starkes Wir-Gefühl bzw. „Familiengefühl“ dominiert, nicht selten gepaart mit einem elitären Selbstverständnis. Als „Garant der Geschlossenheit“ dient ein autoritärer Führungsstil (Autoritarimus) (3) einer Führungspersönlichkeit, um die nicht selten ein Personenkult betrieben wird, insbesondere, wenn es sich um die Gründergestalt handelt. Der Dualismus (4) bezieht sich auf eine vereinfachte Weltsicht, indem diese in gut/böse bzw. schwarz/weiß unterteilt wird, was sich zugleich auch als (5) Reduktionismus verstehen lässt (die eklektische Verwendung der Lehre und Tradition). Bei Konfrontation zeichnen sich diese Gruppierungen durch ihre (6) Diskursunfähigkeit aus. Mit Blick auf die Vermittlung von Glaubensinhalten (fides quae) diagnostiziert W. Beinert fünf dogmatische Defizite, die zum Teil bekannte Häresien darstellen:
1. Monistisches/dualistisches Gottesbild
2. Latenter Monophysitismus
3. Fehlende Pneumatologie
4. Monopolisierung des Heilsweges (defizitäre Gnadenlehre)
5. Mangelnde missionarische Ausrichtung
Beide Erkenntnisstränge, jene der strukturellen als auch der dogmatischen Defizite, gilt es nun dem Phänomen der NGG gegenüberzustellen.
Dérives sectaires – eine französische Studie
Bei der Aufarbeitung der Thematik häretischer Gruppen sowie des geistlichen Missbrauchs in denselbigen, ist die französische Ortskirche seit einigen Jahren Vorreiter. Als Referenz werden im Folgenden daher bereits erhobene und formulierte Kriterien der cellule pour les dérives sectaires dans des communautés catholiques5, der zuständigen Arbeitsgruppe des französischen Episkopates herangezogen, welche seit dem Jahr 2015 mit der Aufarbeitung der Thematik befasst ist und eine umfassende Studie durchführte. Eine vergleichbare Arbeitsgruppe auf deutscher Seite wurde im April 2021 von der DBK eingerichtet.
Die Handreichung der cellule, welche sich als Werkzeug der Unterscheidung für alle in der Kirche etablierten Gemeinschaften versteht, will vor allem breit aufklären: So sollen die Gemeinschaften darin eine Art Leitfaden zur Selbstreflexion finden, Mitarbeiter(innen) der Kirche und Interessent(inn)en sensibilisiert werden. Das Dokument spricht unumwunden vom Phänomen der dérives sectaires au sein de l‘église – eine prägnante Formulierung, die Beinerts Begriff „häretische Gruppen“ nicht näherstehen könnte. Die Deutlichkeit der Formulierung überrascht, unterstreicht aber zugleich die Notwendigkeit einer kompromisslosen Auseinandersetzung. Im Diskurs der deutschsprachigen Theologie bemerkte Ursula Nothelle-Wildfeuer vergleichbar eine „Versektung der Kirche“ durch besagte Gruppierungen. Im Folgenden ist daher zu prüfen, inwieweit die von W. Beinert formulierten Einwände sich auf die charismatisch geprägten NGG übertragen lassen. Wenngleich es sich hier um Ergebnisse und Einsichten der französischen Ortskirche handelt, so haben diese mit Blick auf die internationale Struktur der Gruppierungen uneingeschränkt universelle Gültigkeit. Deutschsprachige Selbstberichte von Betroffenen liegen vor, sind jedoch bislang nicht systematisch erfasst.6
Strukturelle Kriterien für Fundamentalismus
Mit Blick auf die von W. Beinert formulierten Grundannahmen zur Gestalt und Funktion der häretischen Gruppen lässt sich hinsichtlich der strukturellen Kriterien eine vollständige Übereinstimmung mit den jüngst erhobenen Beobachtungen in dysfunktionalen NGG finden:
1. Intransigenz: NGG vertreten eine eng umrissene Überzeugung und Spiritualität, die sich zumeist aus den Schriften der Gründer und ausgewählten Frömmigkeitsformen speist.7 Mitgliedern wird während ihrer Ausbildungszeit, aber auch darüber hinaus nahegelegt, die eigene Frömmigkeit ausschließlich aus diesen Quellen zu nähren. Nicht selten geht dies mit einer gruppeninternen Kontrolle der Mitglieder im Rahmen einer missbräuchlich angewandten geistlichen Begleitung einher.
2. Isolation: Der Bruch mit der Welt und der Rückzug in die eigene Gemeinschaft haben in missbräuchlichen Gruppierungen viele Implikationen.8 Mitgliedern wird geboten, Kontakt zu „alten“ Freunden und Verwandten dort abzubrechen, wo diese kritisch nachfragen oder im Urteil der Gruppierung eine „Gefahr“ für das geistliche Leben des Mitgliedes darstellen. Ehemalige Mitglieder beklagen auch eine gesellschaftliche Isolation im Sinne des Ablehnens/Verbotes von sozialen Medien und Medien jeglicher Art, bis hin zur Unterbindung von ärztlicher Hilfe und von Therapiemöglichkeiten. Die Absonderung zeigt sich an einem gemeinschaftsinternen Vokabular, das sich Außenstehenden nicht erschließt, da zahlreiche Worte dabei eine Umdeutung erfahren oder gar Neologismen sind.
3. Autoritarismus: Die missbräuchliche Machtanwendung durch Leiter(innen) von NGG ist ein zentrales Merkmal, das in verschiedenen Facetten die Strukturen der Gruppierungen prägen kann. Ob im Namen eines verspiritualisierten Gehorsamsbegriffs oder im Namen einer übersteigerten Theologie der Gotteskindschaft, die eine Infantilisierung der Mitglieder mit sich bringt. Die Leitungsperson figuriert als geistliche(r) Lehrer(in) mit nicht zu hinterfragendem Wissensvorsprung, nicht selten begründet mit geistlichen Offenbarungen oder Gaben der Seelenintrospektion. Viele Gruppen praktizieren einen überbordenden Leiter(in)kult, wobei die Leiter- bzw. Gründerfigur nicht selten über Sonderrechte und Freiheiten verfügt. Widerstand gegen oder Infragestellung der gruppeninternen Hierarchie hat offene Demütigungen und Drohungen (z.B. Abfall vom rechten Glauben, Erliegen einer Versuchung) zur Folge. Wie aktuell die Thematik ist, zeigen laufende Ermittlungen des Vatikans gegen zehn Gemeinschaftsgründer.9
4. Dualismus und 5. Reduktionismus: Parallel zum Phänomen der Isolation bedienen sich die NGG einer sehr simplen und daher auch reduzierten Weltdeutung. Es wird suggeriert, dass ein Leben außerhalb der Gruppe Gefahren für das „Seelenheil“ mit sich bringt und dass andere geistliche Wege nicht zielführend sind. Die konkrete Gemeinschaft wird zum Ort wahrer Lehre stilisiert, dementsprechend wird die Wirklichkeit außerhalb der Gemeinschaft – Kirche und Gesellschaft – schwarz gezeichnet. Für die Aus- und Fortbildung der Mitglieder müssen daher in der Regel ausschließlich eigene Inhalte oder akribisch „approbierte“ externe Inhalte herhalten. Ebenso wird die Lektüre bestimmter Inhalte mit Nachdruck beworben, während andere Literatur oder Medien als gefährlich gelten.
6. Diskursunfähigkeit: Die von W. Beinert festgestellte Unfähigkeit zur kritischkonstruktiven Auseinandersetzung zeigt sich in den NGG sowohl innerhalb der Gruppenstruktur – Kritik ist unerwünscht wird sanktioniert (im Extremfall mit Ausschluss) –, aber auch im Kontakt mit zuständigen kirchlichen Stellen. Der Dialog ist nicht selten ein Scheindialog, da die Informationen an befugte kirchliche Stellen zumeist gefiltert oder manipuliert werden; die cellule spricht gar von bewusster Täuschung und Lüge, um bestimmte Privilegien (z.B. kirchliche Anerkennung) zu sichern. Kritik von Seiten der Kirche, etwa im Prozess von Visitationen oder durch Mitglieder wird in der Regel als „Angriff auf das Werk Gottes“ gedeutet und bisweilen auf dem Rechtsweg, z.B. in Form von Verleumdungsklagen, abgewehrt. In offiziellen Stellungnahmen sind Reue und Versöhnungsbereitschaft selten, im Gegenteil: Aussteiger(innen) und aktive Mitglieder berichten vom Fehlen dieser Schritte, was die These der Dissimulation bestätigt.
Fazit: Alle von W. Beinert angeführten Merkmale sind uneingeschränkt auf den Kreis der dysfunktional agierenden NGG anzuwenden und attestieren diesen fundamentalistische Züge.
Umkehr oder thought-reform?
Insofern W. Beinert fundamentalistischen Entwicklungen eine subjektive, psychologische Wurzel nachweist, lassen sich seine Überlegungen abgleichen mit Ergebnissen der psychologischen Kult-Forschung (cult mind control) nach Robert J. Lifton oder Margaret Singer, die sich mit den manipulativen Mechanismen von religiösen Bewegungen befassten und deren unethische und ausbeutende Beziehungsstrukturen aufdeckten. Diese psychologische Dimension der Thematik wäre weiter zu vertiefen und vor allem für die Arbeit mit Aussteiger(inne)n unabdinglich. Ein neues, kompaktes Modell zur Einschätzung derartig agierender Gruppen bzw. Organisationen bietet Steven Hassans BITE-Modell (2018). Es bildet die Bereiche behavior, information, thought and emotional control in einem Kontinuum von „gesund“ bis „destruktiv“ ab.10 Kontrolle in diesen vier Bereichen führt zur sogenannten „thought-reform“, d.h. der psychologischen Veränderung von Identität: Durch Einfluss auf Denken und Wa...