Kinder für das Leben zu stärken und deren seelische Widerstandskraft (Resilienz) zu fördern ist Thema des vorliegenden Buches. Dazu werden Grundlagen der Resilienzforschung vorgestellt und konkrete Möglichkeiten aufgezeigt, wie alltagsintegrierte Förderung von Lebenskompetenzen und Resilienz in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege mit dem Schwerpunkt der Unter-Drei-Jährigen praxisnah gestaltet werden kann. Pädagogisch Tätige werden durch Beispiele und Reflexionsfragen angeregt, in der Interaktion mit den (jungen) Kindern passgenaues, praktikables und individuell umsetzbares pädagogisches Handeln zur Resilienzförderung umzusetzen. Materialien wie Kopiervorlagen runden das Buch ab.
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Wie Kindern ein seelisch gesundes Aufwachsen in Wohlbefinden von Anfang an ermöglicht werden kann, ist Thema dieses Buches. Angesichts zahlreicher Widrigkeiten, denen Kinder – auch in Deutschland – im Zuge des Aufwachsens möglicherweise begegnen, stellt sich die Frage, wie dies gelingen kann. Aktuell sieht sich die Menschheit konfrontiert mit einer Pandemie globalen Ausmaßes, die Menschen aus der ganzen Welt in ihren Bewältigungsfähigkeiten herausfordert – sowohl auf körperlicher als auch auf seelischer Ebene. So legt das Bundesministerium für Bildung und Forschung aktuell ein »Aktionsprogramm Aufholen nach Corona« auf, durch das die Folgen der Pandemie aufgefangen werden sollen. Es wird festgestellt, dass es zur »Bewältigung der Krisenfolgen … notwendig [ist], Kinder und Jugendliche in ihren sozialen Kompetenzen zu stärken« (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2021).
Wie können die sozial-emotionalen Kompetenzen von Kindern im pädagogischen Alltag gestärkt werden? Welche Faktoren können hilfreich sein? Wie kann – auch angesichts vielfältiger möglicherweise auftretender Krisen im Lebenslauf (Pandemie, Trennung, Scheidung, chronische Krankheit usw.) – darüber hinaus die seelische Widerstandskraft von Kindern – deren Resilienz – allgemein aufgebaut und gefördert werden? Diesen Fragen wird im vorliegenden Buch nachgegangen.
Grundlage ist eine Dissertation, in deren Rahmen (gefördert durch die Stiftung Kinderland Baden-Württemberg) ein Weiterbildungsprogramm für pädagogische Fachkräfte entwickelt wurde, um diese zu befähigen, alltagsintegriert die seelische Widerstandskraft (Resilienz) von Kleinkindern zu fördern. Das vorliegende Buch spricht nicht nur pädagogische Fachkräfte aus Kinderkrippen an, sondern ebenso Fachkräfte aus der Kindertagespflege. Auch in den bisweilen als Ein-Personen-Betrieb arbeitenden Kindertagespflegestellen kann die seelische Gesundheit der Kinder gut gefördert werden.
Seit August 2013 besteht ein Rechtsanspruch auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Aktuell werden in Deutschland 829.200 Kinder unter drei Jahren in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege gebildet, betreut und erzogen. Das ist mehr als ein Drittel der Unter-Dreijährigen (35,0 %), bei steigender Tendenz. Bei genauerer Betrachtung der Zahlen zeigt sich, dass die Unter-Einjährigen nur zu einem sehr geringen Teil vertreten sind (1,8 %), mehr als ein Drittel der Einjährigen (37,5 %) und mit 64,5 % fast zwei Drittel der zweijährigen Kinder (Statistisches Bundesamt, 2020).
Im Zuge der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern soll verstärkt die Gesundheit der Kinder gefördert werden: Auf nationaler Ebene weist das nationale Gesundheitsziel »Gesund aufwachsen« mit den Schwerpunkten Lebenskompetenz, Bewegung und Ernährung darauf hin. Dabei umfassen die »Lebenskompetenzen« die Aspekte Selbstwahrnehmung, Empathie, kritisches/kreatives Denken, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit, die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen, sowie Emotions- und Stressbewältigungsfähigkeiten. Diesem Konzept gesundheitsbezogener Lebenskompetenzen wird der Resilienzansatz zugeordnet.
Die Bildungspläne der Bundesländer verweisen – teilweise direkt, teilweise indirekt – auf die Notwendigkeit der Förderung grundlegender Basiskompetenzen der Krippen- und Kitakinder. So differenziert bspw. der Bildungs- und Erziehungsplan aus Bayern (Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, 2012) als Basiskompetenzen personale Kompetenzen wie Selbstwahrnehmung, motivationale, kognitive und physische Kompetenzen, Kompetenzen im sozialen Kontext wie Sozialkompetenz, Wertebildung und Verantwortungsübernahme sowie demokratische Teilhabe, Lernkompetenzen und den kompetenten Umgang mit Veränderungen und Belastungen (Resilienz).
Dabei sollte mit der Förderung seelischer Gesundheit von Kindern so früh wie möglich begonnen werden (Hohm et al., 2017; Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, 2015; Wustmann-Seiler, 2012). Die Kindertageseinrichtung bietet hierbei ein geeignetes Setting, um die seelische Gesundheit von Kindern zu fördern (Geene, Kliche & Borkowski, 2015). Allerdings existieren für Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen häufig erst Anregungen zur Resilienzförderung für die Arbeit mit Kindern ab drei Jahren. Zudem liegen diese fast immer in Programmform vor (z. B. Prävention und Resilienzförderung in Kindertageseinrichtungen – PRiK von Fröhlich-Gildhoff, Dörner & Rönnau-Böse, 2021). Im Hinblick auf Kinder unter drei Jahren ist es weniger ratsam, mittels Programmen vorzugehen. Denn der Entwicklungsstand von Kindern unter drei Jahren lässt häufig noch nicht zu, sich zu fest vorgegebenen Terminen in der Woche für eine längere Zeitspanne auf ein konkretes Thema einzulassen. So schwankt beispielsweise die Aufmerksamkeitsspanne bei Kindern unter drei Jahren beträchtlich: erst ab etwa zwei Jahren sind Kinder zu längeren Aufmerksamkeitsspannen in der Lage, wobei es hier große Unterschiede zwischen den einzelnen Kindern gibt (Pauen & Vonderlin, 2007). Stattdessen erweist sich für Kinder unter drei Jahren der Weg der Resilienzförderung im pädagogischen Alltag als geeigneter. Die Förderung von Resilienz im pädagogischen Alltag (»alltagsintegrierte Resilienzförderung«) bietet den Vorteil, dass nicht extra eine feste Zeit in der Wochenstruktur eingeplant werden muss wie beim programmatischen Vorgehen oder dass jeweils eine kleine Kindergruppe von einem eigens zur Verfügung stehenden Team an Pädagog*innen für die Resilienzförderung aus der Gruppe genommen werden muss. Die alltagsintegrierte Resilienzförderung setzt ganz konkret in allen alltäglich stattfindenden pädagogischen Situationen an. Somit geht es nicht darum, dass Pädagog*innen etwas zusätzlich oder etwas Besonderes machen, sondern das ohnehin stattfindende interaktionelle Geschehen unter dem Aspekt der Resilienzförderung gestalten. Wie dies unter Berücksichtigung der entwicklungspsychologischen Besonderheiten und basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen bei Unter-Dreijährigen geschehen kann, ist Gegenstand dieses Buches.
Die seit dem Frühjahr 2020 herrschende Corona-Pandemie stellte und stellt Kindertageseinrichtungen, Eltern und Kinder vor besondere Herausforderungen. Geschlossene Kindertageseinrichtungen, Eltern unter Doppelbelastung, Notgruppen, weniger Sozialkontakte der Kinder untereinander, Masken tragende Erwachsene, deren Mimik für die Kinder somit weniger zu erkennen war und ist, Sorgen und Ängste der Erwachsenen, die von den Kindern durchaus wahrgenommen werden, geschlossene Spielplätze und vieles mehr musste im vergangenen Jahr bewältigt werden. Solche unvorhergesehenen Veränderungen können als kritisches Lebensereignis psychische Probleme hervorrufen (Ravens-Sieberer et al., 2020). Besonders belastet waren dabei Kinder mit Migrationshintergrund, aus Elternhäusern mit niedrigerem Bildungsstand sowie aus beengten Wohnverhältnissen (ebd.).
In dem Bewusstsein, wie schwierig es unter heutigen Bedingungen für Fachkräfte ist, ihre Kraft einzuteilen trotz herausfordernder struktureller Bedingungen wie beispielsweise Fachkräftemangel, ungünstiger Fachkraft-Kind-Relation, ungünstiger Räumlichkeiten, hoher Anforderungen hinsichtlich Dokumentation wird die Notwendigkeit betont, auf eine gute Beziehung zu allen Kindern Wert zu legen und jedes einzelne Kind in der Entwicklung seiner Fähigkeiten und Potenziale sowie in seinen Lebens- und Bewältigungskompetenzen zu stärken, denn seelisch gesunde Kinder können selbstbestimmt(er) ihre Zukunft gestalten.
Das vorliegende Praxisbuch gibt in den ersten Kapiteln (
Kap. 2 bis
Kap. 6) einen theoretischen Überblick zu grundlegenden Konzepten, Theorien und Begrifflichkeiten von seelischer Gesundheit, entwicklungsförderlicher Interaktionsgestaltung und Resilienz. Im weiteren Verlauf werden Möglichkeiten alltagsintegrierter Resilienzförderung und praktische Beispiele sowie Reflexionsfragen vorgestellt (
Kap. 7 bis
Kap. 9). Schließlich werden Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Vernetzung im Sozialraum thematisiert (
Kap. 10). Am Ende des Buches finden sich Vorlagen mit Reflexionsfragen zur Anwendung in der Einrichtung und zur Selbstreflexion.
Die Autorin und der Autor freuen sich über Zuschriften, Anregungen, Erfahrungen mit dem Buch, auch Erfahrungen mit Reflexionsfragen und Vorlagen aus dem Anhang des Buches sowie über Beispiele aus Ihrer Praxis.
Dieses Buch soll pädagogische Fachkräfte in Kinderkrippen, Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege einladen, sich mit den Konzepten seelische Gesundheit und Resilienz sowie gelingender Gestaltung von Interaktionen auseinanderzusetzen und praktische Ideen liefern, wie Resilienz im pädagogischen Alltag gefördert werden kann. Dabei ist es natürlich hilfreich, sich im Team gemeinsam auf den Weg zu machen, sich gemeinsame Ziele zu setzen und deren Erreichung zu reflektieren. In der Kindertagespflege wäre es zu diesem Zweck denkbar, sich mit anderen Kindertagespflegestellen zusammenzuschließen, sich regelmäßig zu treffen und den Austausch zu suchen. Es ist aber auch möglich, sich als einzelne Fachkraft in der Kindertagespflege auf den Weg zu machen. Zum Gelingen der hier vorgestellten Ideen trägt bei, sich immer wieder in seinem Handeln zu reflektieren und einen stärkenorientierten und zugleich selbstkritischen Blick auf eigene Handlungen und Wissensbestände zu richten, um die eigene pädagogische Tätigkeit zum Wohl der Kinder und im Interesse der eigenen Fachlichkeit stetig weiter zu professionalisieren.
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Seelische Gesundheit und Lebenskompetenzen
Was wird unter Resilienz verstanden? Wie hängt diese zusammen mit seelischer Gesundheit und Lebenskompetenzen? Kann die Entwicklung von Resilienz unterstützt werden? Was ist dabei zu beachten? Warum sollte Resilienz so früh wie möglich gefördert werden?
Angesichts der Herausforderungen, mit denen sich Kinder in ihrem Prozess des Aufwachsens konfrontiert sehen können, sollte es ein zentrales Anliegen entwicklungsfördernder Pädagogik sein, die Gesundheit der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege zu fördern. Damit entspricht pädagogisches Handeln der aktuellen Forderung nach kontinuierlicher Gesundheitsförderung und Prävention, die auf bestmögliche Gesundheitskompetenz von Kindern zielt und die Chancengleichheit aller Kinder im Blick hat (Bundesministerium für Gesundheit, 2019). In der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Gesundheit (idealistisch formuliert) gleichgesetzt mit einem körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden auf umfassender Ebene. Als ein Teilbereich der Gesundheitsförderung wird die »Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten … sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fertigkeiten« gefordert (Weltgesundheitsorganisation, 1986). Diese lebenspraktischen Fertigkeiten werden auch als Lebenskompetenzen bezeichnet, worunter Fähigkeiten verstanden werden, durch anpassungsfähige und positive Verhaltensweisen effektiv mit den Anforderungen und Herausforderungen des täglichen Lebens umzugehen. Hierzu zählen Entscheidungsfähigkeiten, Problemlösefähigkeiten, die Fähigkeiten, kreativ und kritisch denken zu können, effektiv kommunizieren zu können, interpersonale Fähigkeiten, Empathie, Emotionsregulationsfähigkeiten und Stressbewältigungsfähigkeiten (Weltgesundheitsorganisation, 1994). Die Bundesrepublik Deutschland greift die Ansätze zur Gesundheitsförderung der WHO auf: Im Zuge der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern soll verstärkt die Gesundheit der Kinder gefördert werden. Auf nationaler Ebene zeigt dies das nationale Gesundheitsziel »Gesund aufwachsen« (Bundesgesundheitsministerium, 2010), das die Schwerpunkte auf die Aspekte Lebenskompetenz, Bewegung und Ernährung richtet, wobei die Lebenskompetenz auf dem Konzept der Salutogenese aufbaut und die oben genannten Aspekte der WHO aufgreift. Dem Konzept gesundheitsbezogener Lebenskompetenzen wird der Resilienzansatz zugeordnet. Seit 2016 bietet das Präventionsgesetz (»Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention«), das unter anderem den Setting-Ansatz – d. h. beispielsweise die Gesundheitsförderung von Kindern in der Kindertageseinrichtung – stärkt, als nationale Präventionsstrategie einen Rahmen für die vermehrte Förderung der Gesundheit von Kindern in ihrer Lebenswelt: Indem Kinder bereits in der Kindertageseinrichtung in ihrem gesunden Aufwachsen gestärkt und die Familien mit eingebunden werden, sollen sie die gewonnenen Kompetenzen auf ihr weiteres Leben übertragen und so gesünder durch ihr Leben gehen können, weshalb die Gesetzlichen Krankenkassen diese Gesundheitsförderung im Setting-Ansatz fördern sollen (Nationale Präventionskonferenz, 2018).
Es gibt inzwischen zahlreiche Literatur, in der Resilienz sowie die entsprechenden Studien beschrieben werden (für den deutschsprachigen Raum z. B. Opp & Fingerle, 2008; Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, 2020; Rönnau-Böse & Fröhlich-Gildhoff, 2015; Wustmann, 2004). Im Folgenden werden deshalb in verkürzter Form grundlegende Begrifflichkeiten erläutert, die zum Verständnis notwendig sind, ohne jedoch allzu sehr in die Tiefe zu gehen. Zuerst wird Resilienz allgemein umschrieben, bevor explizit Kinder unter drei Jahren und deren Resilienzentwicklung betrachtet werden.
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Resilienz – Definitionen
Resilienz bedeutet das Vermögen eines Kindes – bzw. Menschen allgemein –, sich trotz widriger Umstände, Krisen oder (lebens-)bedrohlicher Erfahrungen personaler oder sozialer Ursache (Vulnerabilitäts- und Risikofaktoren) seelisch gesund zu entwickeln, d. h. über ausreichende personale und soziale Schutz...
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Seelische Gesundheit und Lebenskompetenzen
3 Resilienz – Definitionen
4 Was brauchen Unter-Dreijährige für eine gesunde Entwicklung?
5 Gestaltung gelingender Interaktionen mit Kindern unter 3 Jahren zum Auf- und Ausbau positiver Beziehungen
6 Alltagsintegrierte Förderung der seelischen Gesundheit/Resilienz
7 Alltagsintegrierte Resilienzförderung auf individueller Ebene: Professionelles Handeln in einer konkreten Dilemmasituation anhand eines Fallbeispiels
8 Praxis konkret: Alltagsintegrierte Resilienzförderung auf Gruppenebene in Schlüsselsituationen anhand der Resilienzfaktoren
9 Kompetenzen der pädagogischen Fachkräfte im Hinblick auf Resilienzförderung
10 Rahmenbedingungen und Vernetzung im Sozialraum
11 Kinder stärken in Zeiten der Corona-Krise. Worauf es ankommt