1.1 HinfĂŒhrung und Erkenntnisinteressen
Ein Appell war es, den der Rostocker Dominikaner Joachim Ratstein (â 1526) wohl im Jahr 1517 in der Offizin des hiesigen Druckers Ludwig Dietz (â 1559) auf ein Flugblatt in der GröĂe eines halben Papierbogens aufbringen lieĂ.1 Adressiert war sein Aufruf an alle christglĂ€ubigen Menschen. Der Kern der Botschaft lautete: Tretet um des groĂen Nutzens willen sowie in Anbetracht des groĂen, zur VerfĂŒgung stehenden Ablasses in die Bruderschaft des Rosenkranzes der allerheiligsten Jungfrau Maria ein.2 Einige Zeilen weiter konkretisierte Ratstein noch einmal, welche GrĂŒnde genau fĂŒr eine Mitgliedschaft in der Rosenkranzbruderschaft sprĂ€chen. Sein vierter und letzter Punkt ist zweifelsohne am aussagekrĂ€ftigsten:
To deme veerden male kamet und gaet yn desse broederschop, alle gy boetsamige mynschen, de gy begeren uthloesschynge der pyne yuwer sunde, de gy beruwet und bychtet hebben, maket yw deelafftich der groten gnade und aflaetes, dath hir to gegeven ys van so velen bysschoppen, dat se untellelick synt.3
In der Rosenkranzbruderschaft seien demzufolge aufgrund der groĂen Gnade und des unzĂ€hlbaren Ablasses all diejenigen buĂfertigen Menschen richtig aufgehoben, die nach der Auslöschung der Pein ihrer SĂŒnden strebten. Wenngleich die Datierung des Appells in oder um das Jahr 1517 bereits Martin Luther (â 1546) und dessen Ablasskritik, spĂ€ter auch seine Verurteilung der Bruderschaften, ins GedĂ€chtnis rufen mag, ist es in erster Linie eine der dringlichsten Herausforderungen fĂŒr die GlĂ€ubigen dieser Zeit, die hinter den Aussagen des Dominikaners steht: Die Ăberwindung des purgatorium â jene uthloesschynge der pyne yuwer sunde.4
Mannigfach waren allein die bildlichen Darstellungen, die den Zeitgenossen unter anderem im Kirchenraum auf Retabeln oder Epitaphen sinnfĂ€llig vor Augen zu fĂŒhren wussten, dass ihren Seelen nach dem Tod â insofern sie nicht unmittelbar in die ewige Verdammnis einfuhren â eine (un)gewisse Verweildauer im Fegefeuer bevorstand.5 In dieser transzendenten LĂ€uterungsinstanz mussten die sogenannten armen Seelen fĂŒr ihre zu Lebzeiten noch nicht verbĂŒĂten SĂŒndenstrafen leiden, bevor sie âgereinigtâ in das Himmelreich einziehen konnten. Folglich war ihr Aufenthalt im purgatorium zwar zeitlich limitiert, jedoch konnte kein Einziger auch nur annĂ€hernd abschĂ€tzen, fĂŒr wie viele SĂŒnden er noch BuĂe zu leisten hatte.6 Die generelle OmniprĂ€senz und Expansion der AblĂ€sse in der Lebenswelt um 1500 vermittelt allerdings schon einen ersten Eindruck davon, mit welch ausgedehnten Fegefeuerzeiten am Ausgang des Mittelalters kalkuliert wurde.7 Nicht grundlos ist daher auf dem Flugblatt von der UnzĂ€hlbarkeit der Indulgenzen beziehungsweise der sie ausstellenden Bischöfe geschrieben worden.
Weitaus sicherer hingegen schien das Wissen um das zu sein, was die âarmen Seelenâ im purgatorium erwarten wĂŒrde: Unermessliche Qualen, die denen der Hölle durchaus vergleichbar waren.8 Ein Akzent, der die Angst um die Todesstunde und das Begehren der Menschen nach Möglichkeiten, fĂŒr ihr Seelenheil vorzusorgen, immer weiter zu steigern vermochte. Der oben zitierte Aufruf spiegelt diese Sehnsucht, dieses begeren in aller Deutlichkeit wider.
Vor diesem Hintergrund prĂ€sentierte Joachim Ratstein seinen Mitmenschen die Rosenkranzbruderschaft als klare Lösungsoption im Streben nach der Ăberwindung des Fegefeuers. Am Ende des Textes resĂŒmiert er: Gaet denne alle to my, spreckt de broderschop Marien unde entfanget desse vorschrevenen fruchte unde nutticheyten yn dessem levende unde na dessem levende dat ewyge levent.9 Das Auffallende an diesem Satz ist, dass von einer LĂ€uterung im purgatorium gar keine Rede mehr ist. Infolge der von ihm angefĂŒhrten âFrĂŒchte und NĂŒtzlichkeitenâ der Rosenkranzbruderschaft könne nach dem irdischen unmittelbar das ewige Leben folgen.
In Ratsteins Worten deutet sich bereits an, dass die Rosenkranzbruderschaft keineswegs als e i n e Variante in der Jenseitsvorsorge unter vielen anzusehen sei. In dem von dem Leipziger Dominikaner Marcus von Weida (â 1516) einige Jahre frĂŒher, nĂ€mlich Ende 1514 verfassten und im MĂ€rz 1515 von Melchior Lotter dem Ălteren (â 1549) in Leipzig gedruckten Der Spiegel hochloblicher Bruderschafft des Rosenkrantz Marie / der allerreinsten Jungfrawen wird dieses SelbstverstĂ€ndnis explizit benannt:
Wer in diser loblichen bruderschafft ist, die treulich helt biĂ an sein ende, dem kompt do von unseglicher nutz und frommen am leben, am letzten ende unnd noch dem tode. Derhalben ich auch wol mit warheit sagen mag, dz dise bruderschafft einem menschen, der in der gnade gots und die treulich heldt biĂ an sein ende, die aller nutzlichste bruderschafft ist noch etzlichen umbstenden, als er uff erden haben mag. Am leben ist dise bruderschafft die nutzlichste tzu des leibes und tzu der selen selickeit.10
Die Rosenkranzbruderschaft sei mithin d i e Wahl in der Jenseitsvorsorge. Diese Aussage steht am Beginn des zehnten Kapitels des Bruderschaftsspiegels, in dem es um den Nutzen der Rosenkranzbruderschaft geht. Der Leser oder die Leserin blickt dabei gleichzeitig auf einen neben den Text platzierten groĂformatigen Holzschnitt, der veranschaulichen soll, worin der Nutzen dieser Korporation lag (siehe Abb. 1): Abgebildet sind im linken unteren Bereich die lebenden Mitglieder der Rosenkranzbruderschaft. In vorderster Reihe â von links nach rechts â ein Dominikaner (zu identifizieren an der Tonsur, dem weiĂen Habit und der schwarzen Cappa), ein Kaiser (unverwechselbar an der Krone), ein Kardinal (charakteristisch ist besonders der rote Galero) und ein Papst (signifikant ist hier vor allem die Tiara). Alle knien, Kaiser und Papst halten sichtbar jeweils einen Rosenkranz in ihren zum Gebet gefalteten HĂ€nden. Dass sich diese vier Personen konkret benennen lassen, es sich zum Beispiel bei dem Kaiser um Friedrich III. (â 1493) handelt, der als eines der âprominentestenâ Mitglieder der Vereinigung immer wieder in Drucken oder auf Retabeln abgebildet worden ist, wird im Verlauf der Studie noch einmal Thema sein. Im unteren rechten Bereich sind die âarmen Seelenâ der verstorbenen Bruderschaftsmitglieder in den Banden des Fegefeuers zu sehen. Ein vom Himmel herabfliegender Engel ergreift in dem Moment, den das Bild eingefangen hat, die ausgestreckten HĂ€nde einer Seele, ein mittig positionierter Engel trĂ€gt eine erlöste, âgereinigteâ Seele â in zeittypischer Ikonographie als SĂ€ugling dargestellt â zu Gottvater ins Himmelreich.
Der Holzschnitt kommuniziert somit zuallererst das Funktionieren und die Wirksamkeit der bruderschaftlichen praxis pietatis. DarĂŒber hinaus weist er zugleich auf die enge Verbindung zwischen der Rosenkranzbruderschaft und der Mutter Gottes hin, denn der links oberhalb der Betenden abgebildete Engel bringt den Mitgliedern der Korporation einen Rosenkranz. Die Gottesmutter Maria ist exakt auf dieser horizontalen Bildachse ĂŒber den Bruderschaftsmitgliedern und dem Engel platziert, ihr Blick scheint nach unten auf die Gemeinschaft gerichtet. Insofern sind alle drei SphĂ€ren, die himmlische, die irdische und die des Fegefeuers durch die Engel miteinander verwoben.
Allerdings fallen das Flugblatt und der Bruderschaftsspiegel in eine Zeitspanne, die als BlĂŒtezeit der Bruderschaften charakterisiert werden kann. Genau genommen stehen sie sogar an deren Ende. In Köln bildeten sich beispielsweise die meisten der insgesamt 130 nachweisbaren Laienbruderschaften im 15. (immerhin 64) sowie in der ersten HĂ€lfte des 16. Jahrhunderts (noch 32).11 Ăhnliche Befunde zeigen sich ebenso in anderen StĂ€dten oder Regionen des Reiches. Exemplarisch seien die BruderschaftsgrĂŒndungen im linkselbischen Dresden, in Braunschweig, Hamburg oder jene im lĂ€ndlichen Raum des Bistums Merseburg genannt.12 Das BemĂŒhen, fĂŒr das Seelenheil der Mitglieder zu sorgen, ist in dem Zusammenhang bei Weitem kein Alleinstellungsmerkmal der Rosenkranzbruderschaft. Die Schrift- und Bildzeugnisse der anderen spĂ€tmittelalterlichen Bruderschaften bieten vergleichbare Inhalte: Der dritte Ertrag ist die Förderung des Seelenheils, heiĂt es etwa in den 1503 niedergeschriebenen Statuten der Dresdner Bruderschaft der Heiligen Dreifaltigkeit.13 Ein zweites Beispiel ist der Holzschnitt, der die Bruderschaft der heiligen Ursula metaphorisch als Schiff zeigt, das unter dem Mastbaum des gekreuzigten Christus in Richtung Erlösung segelt (siehe Abb. 2). In der oberen rechten Bildecke ist â Ă€hnlich zu der Abbildung bei Marcus von Weida â die Befreiung einer Seele aus dem Fegefeuer abgebildet, hier aber nicht durch die Gebete dieser Bruderschaft, sondern durch die Messfeier.14
Die Ursache fĂŒr diese Ăhnlichkeiten ist, dass die Memoria, also all diejenigen MaĂnahmen, die darauf ausgerichtet waren, die Leidenszeit der âarmen Seelenâ im purgatorium zu reduzieren und, nicht zuletzt, sie aus selbigem â im Wortsinn â zu entheben, als Kernanliegen der Bruderschaften bezeichnet werden muss.15
Weshalb soll nun ausgerechnet die verhĂ€ltnismĂ€Ăig spĂ€t, nĂ€mlich â offiziell â erst am 8. September 1475 in Köln gegrĂŒndete Rosenkranzbruderschaft ânĂŒtzlicherâ sein als alle anderen Bruderschaften? Joachim Ratstein hat die groĂe Gnade und die unzĂ€hlbaren AblĂ€sse genannt. Marcus von Weida kommt in diesem Zusammenhang unter anderem auf die Mitgliederzahl sowie die praxis pietatis der Vereinigung zu sprechen. Allein in Leipzig fĂ€nden sich 55.000 Namen in die Matrikel der Rosenkranzbruderschaft eingeschrieben. Doch sei Leipzig damit kein Sonderfall: Es ist oben gesagt, das in diser bruderschafft untzellich vil tausent menschen hin unnd wider in der heilgen cristenheit uffgenommen und...