1.1 Einleitung: Die Entdeckung der Neuen Welt im Rahmen des DFG-Projekts ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’
Ein Lineal muss gerade und nicht hübsch verziert sein, um seinen Zweck zu erfüllen. Und doch greifen wir spontan nach dem optisch ansehnlicheren. Die Hülle, in der ein Schwert steckt, kann noch so beeindruckend sein, sie verrät noch lange nichts über die Qualität der Klinge. Beim Menschen lassen wir uns durch Besitz und Kleidung blenden und verkennen die inneren Werte als entscheidende Gütekriterien. Wenn Seneca in seinen Epistulae morales1 solcherlei Thesen immer und immer wieder repetitiv formuliert, tut er dies mit einer klaren Absicht: Nur ein stetes Monieren dieses typisch menschlichen Fehlverhaltens kann es auch ausmerzen. Seine LeserInnen sollen dafür sensibilisiert werden, dass wir auf Äußerlichkeiten ein zu großes Augenmerk legen und umgekehrt oftmals das verkennen, was das jeweilige Ding oder Lebewesen genuin ausmacht.2
Eben diesen Umstand, dass es schwierig ist, einer ‘geschickt eingepackten’ Sache einen entlarvenden Blick entgegenzuhalten, machen sich seit jeher verschiedene Bereiche und Personengruppen der Gesellschaft zunutze. Von der antiken Geschichtsschreibung bis hin zu modernen Werbeagenturen lässt sich beobachten, wie ein und derselbe Gegenstand bzw. ein und dasselbe historische Faktum durch eine geschickte rhetorische Inszenierung ganz unterschiedlich wahrgenommen, angepriesen, verunglimpft werden kann. Besonders zielführend ist dieses Vorgehen natürlich immer gerade dann, wenn es um bisher Unbekanntes, um ‘Neuheiten’ geht, bei denen die Adressaten nicht wissen, worin deren ‘genuiner Kern’ überhaupt genau besteht. Die vorliegende Monographie widmet sich nun dem literarischen ‘Verpacken’ der wohl größten ‘Neuheit’ der Moderne, der ‘Entdeckung’ Amerikas des Christopher Kolumbus, dessen Entdeckungsfahrten auch mehrere Jahrhunderte nach dem historischen Datum 1492 die Menschheit fasziniert, nicht zuletzt, weil über den ‘genuinen Kern’ dieser schillernden, mitunter mythisch verklärten Persönlichkeit aus Genua längst nicht alles bekannt ist – was einer individuell perspektivierenden literarischen Verarbeitung zuspielt.
Kaum eine Thematik dürfte derart ausgiebig und breit behandelt worden sein wie die ‘Entdeckung’ Amerikas durch Kolumbus,3 und gerade für das historische Faktum der kolumbischen Entdeckungsfahrten wurde die Bedeutung der literarischen Filterung in der Forschung bereits ausufernd diskutiert.4 Demgegenüber fokussiert die vorliegende Monographie ein bisher von der Forschung kaum beachtetes Korpus von vier französischen Kolumbus-Epen und einem neulateinischen (aus Spanien stammenden) epischen Heldengedicht über Kolumbus,5 die alle aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammen: Anne-Marie Du Boccages La Colombiade ou La foi portée au Nouveau Monde (1756), Nicolas Louis Bourgeois’ Christophe Colomb, ou l’Amérique découverte (1773), Robert-Martin Lesuires Le Nouveau Monde (1781), Pierre Laureaus L’Amérique découverte (1782) und José Manuel Peramás’ De invento Novo Orbe inductoque illuc Christi Sacrificio (1777).
Obwohl diese Epen im Grunde immer konstant dieselbe historische Persönlichkeit mit denselben (durch eine Fülle an Reiseberichten bezeugten) Handlungen in den Blick nehmen, kann deren Analyse eindrücklich belegen, wie durch die Individualität der Dichterpersönlichkeiten und deren in die Epen eingespielten Weltsichten aus ein und demselben Stoff ganz unterschiedlich geartete Kolumbus-Epen hervorgehen.6 Sie sind alle auf ihre Weise Spiegel der zeitgenössischen soziokulturellen Umstände ab 17507 und unterscheiden sich durch ihren distanzierenden Blick von über 300 Jahren trotz etlichen motivischen Ähnlichkeiten klar von früheren neulateinischen Kolumbus-Epen, die von der Forschung bereits gründlicher behandelt wurden.8
Hervorgegangen ist die vorliegende Arbeit aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt ‘Epische Modellierung ideologischer Konflikte in der Frühen Neuzeit’ (2014–2018) unter der Leitung von Prof. Dr. Bernhard Huß (FU Berlin). Wie zusammenfassend in der ersten Projektmonographie Ideologie und Chronotopik im Epos9 zusammengestellt wird, gehen die Projektmitarbeiter davon aus, dass die Grundlage eines jeden Epos ein weltanschaulicher (i. e. ‘ideologischer’) Konflikt bildet, den das jeweilige Epos dann individuell durch literarische Mittel ausgestaltet (i. e. ‘modelliert’). Da in meiner Arbeit die Resultate zum im Projektantrag verankerten Themenbereich ‘Epische Konfrontationen mit der Neuen Welt’ zusammengestellt werden, besteht das entscheidende ideologische Grundproblem im Aufeinandertreffen der ‘heidnischen Sphäre der Neuen Welt’ mit der ‘christlichen Sphäre der Welt’. Die AutorInnen versuchen jeweils mithilfe verschiedener epischer Strategien, die Neue Welt in die Wertsetzungen der alteuropäischen Sphäre zu integrieren.10 Bei der literarischen Modellierung dieses Kontakts spielt die Inszenierung des Raums eine zentrale Rolle, weshalb in den entsprechenden Kapiteln, in denen der epische Raum des ein oder anderen Epos analysiert wird, auch auf das begriffliche Instrumentarium zurückgegriffen wird, welches von Huss/König/Winkler (2016) bereitgestellt wird (vgl. Tabelle 1).
Zumal die vorliegende Monographie vornehmlich die Kolumbus-Epen ab 1750 in den Blick nimmt,11 setzt Kap. 1 damit ein, in aller Knappheit den Stellenwert der Kolumbus-Epik in Frankreich zu einer Zeit zu umreißen, in der die Diskussion über die positiven und negativen Folgen der Kolonialisierung Amerikas allgemein den literarischen Betrieb bestimmt. Hiernach werden grundlegende Informationen über den historischen Rahmen der Kolumbusfahrten geliefert und die (durch Geschichtswerke und Reiseberichte überlieferten) charakterlichen Eigenschaften des Genuesen skizziert, welche in den Epen jeweils unter anderer Schwerpunktsetzung in den Vordergrund gerückt werden: sei es Kolumbus’ Ruhmstreben, sein christlicher Missionierungseifer oder sein Glaube an den wissenschaftlichen Fortschritt.
In Kap. 2 werden dann die vorgenannten Kolumbus-Epen mit ihrem jeweils eigenen ideologischen Zuschnitt und der diese ‘Weltkonfiguration’ transportierenden epischen Modellierung erhellt. Begleitend soll die ausführliche Appendix mit den tabellarischen Inhaltsübersichten der wenig bekannten Epen ab 1750 künftigen ForscherInnen und LeserInnen den Einstieg in das Feld der Kolumbus-Epik erleichtern. Zwei Epen erhalten eine besonders ausführliche Behandlung, da sie mir im Rahmen meiner Forschungsarbeit besonders gewinnbringend erschienen. Zum einen der 26 Gesänge umfassende Nouveau Monde Lesuires, da er bis dato von der Forschung in seiner Machart inhaltlich wie dispositorisch nicht durchschaut wurde; zum anderen Peramás’ Epos De invento Novo Orbe, das eine hilfreiche Kontrastfolie für die französischen Epen liefert, zumal es sich dezidiert gegen den u. a. in Frankreich greifbaren antispanischen Grundtenor richtet.12 Überhaupt wurde es erst vor einigen Jahren wiederentdeckt, sodass unsere Beobachtungen unmittelbar an erste Veröffentlichungen anschließen können.13 In jüngster Vergangenheit wurde außerdem just den beiden von uns herausgestellten Autoren von anderer Seite – punktuell und mit anderem inhaltlichen Fokus – erstmals wieder intensivere Beobachtung geschenkt.14
In Kap. 3 wird schließlich exemplarisch anhand eines einzelnen Aspekts – nämlich des für die Kolumbus-Epik topisch gewordenen Motivs der Abstammungstheorien sowie des sagenumwobenen Atlantis – eine Gegenüberstellung der Epen vorgenommen. Es kann hier eindrucksvoll belegt werden, wie unterschiedlich die Epiker zeitgenössisch ‘brisante’ Themen verarbeiten und individuell nuancieren.
Es bleibt außerdem vorauszuschicken, dass beim Großteil der Primärtexte unseres Hauptkorpus in Ermangelung moderner Textausgaben auf die ursprünglichen Editionen zurückgegriffen wird. Dabei wird selbstverständlich die Originalgraphie respektiert. Scheinbare ‘Orthographiefehler’ sind insofern beabsichtigt, vgl. z. B. ‘ame’ statt ‘âme’, ‘faisois’ statt ‘faisais’, ‘loix’ statt ‘lois’, ‘encor’ statt ‘encore’ oder ‘aprends’ statt ‘apprends’.
Tabelle 1:Raumnarratologische Begrifflichkeiten nach Bernhard Huss/Gerd König/A...