Trendsurfen mit KPIs
Verstecktes Management hinter dem Laptop
Michael Weimar, Geschäftsführer Weimar Interim Management
Einleitung
Wahre Führung erfordert nur wenige Key Performance Indicators (KPIs), aber viel Mut: den Mut, Situationen selbst einzuschätzen, Optionen durchzuspielen, Ziele und Konzepte zu entwickeln – und auch wieder zu ändern. Es geht darum, selbstständig zu lernen und vor allem dann auch zu handeln. Im Zeitalter schneller Lösungen ist das wertvoller als jemals zuvor.
Nach nunmehr über 30 Jahren in leitenden Positionen der ersten und zweiten Führungsebene unterschiedlicher Branchen und Unternehmensgrößen muss ich seit einigen Jahren eine stetige, massive Zunahme der Einführung von Steuerungs-Kenngrößen, sogenannten KPIs (Key Performance Indicator) feststellen. Diese umschließen inzwischen alle an der Wertschöpfung beteiligten Bereiche. Verständlicherweise hat das seine guten Gründe und wird an jeder Business School gelehrt. Gerade die hohe Kunst der erfolgreichen Unternehmensführung besteht jedoch darin, ein KPI-höriges Denken in Frage zu stellen, selbst zu urteilen und – in ausbalancierter Weise – konsequent und mutig zu handeln.
Die folgenden Ausführungen sind bewusst „hart“, deutlich und manchmal sicher auch provozierend formuliert. Sie bringen subjektive Empfindungen aus dem Unternehmensalltag ans Tageslicht. Manche entsprechen sicherlich nicht der üblichen oder gewünschten Ausdrucksweise. Man findet sie kaum in Lehrbüchern. Somit wird mit diesem Beitrag Licht in einen Graubereich des Managements gebracht. Indes ist gerade die Kenntnis der dargestellten Denk- und Handlungsweisen vieler Mitarbeitenden das, was ein in der Praxis erfolgreiches Ansprechen der oft hinter einer Fassade liegenden Probleme und ein Mitnehmen der Menschen ermöglicht. Nur wer als Führungskraft weiß, was abseits aller Theorie und allem Gewünschten wirklich in den Köpfen und Herzen vorgeht, kann selbst Strategien entwerfen und Maßnahmen umsetzen, etwas zu bewegen – gerade dann, wenn es kritisch wird. Und kritisch wird es bei all den Umwälzungen der aktuellen Zeiten immer öfter.
Nach eigener Erfahrung werden in der Praxis alle Bereiche des Unternehmens mit einer zunehmenden Flut an Messgrößen überzogen. Damit wird versucht, jedes Detail in den „Kellergewölben“ aller Unternehmensbereiche zu erfassen. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, die Unternehmenszielsetzungen in immer komplexer und internationaler werdenden Marktsituationen noch besser und genauer steuern zu müssen, um richtige, belastbare Entscheidungen treffen zu können. Detaillierte Kenngrößen zur Gehaltsfindung sollen den Erfolg jeder Abteilung transparent machen und zu einer leistungsgerechten Entlohnung beitragen.
In der Praxis zeigt sich jedoch, dass eine „übermäßige“ Beschäftigung mit dem Zusammenstellen und Darstellen der „richtigen“ Zahlen viel Zeit frisst. Oftmals widersprechen sich solche Analysen teilweise auch noch oder sollen – wohlwollend formuliert – sogar bewusst konkurrierend sein. Wozu? Beides kostet enorme Ressourcen und geht oftmals an dem eigentlichen positiven Voranbringen des Geschäftes vorbei.
Selten zugegeben, aber auf genauere Nachfrage zwischen den Zeilen lesbar, existiert zudem ein Misstrauen der Top-Ebene gegenüber der zweiten und dritten Führungsebene – auch gegenüber den Nicht-Führungsebenen. Dies ist in vielen Fällen gepaart mit Unkenntnis über die Prozesse, Stärken und insbesondere die Schwächen der eigenen Gesamt-Organisation. Gesteuert wird – bildlich gesprochen und von vielen Beteiligten so empfunden – nur noch aus dem „Versteck des eigenen Laptops“. Zwischenmenschliche Kontakte, Vertrauen, Urteilsfähigkeit und insbesondere Menschenkenntnis erscheinen so, als hätten sie eine immer geringere Bedeutung. Kommt man als unvoreingenommener Betrachter in eine solche Organisation, entsteht der Eindruck, dass bei der Führung von Mitarbeitern gravierende Fehler gemacht werden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieses „Führen über Kenngrößen“, dieses übermäßige Überziehen und Messen ganzer Unternehmen und Abteilungen an reinen KPIs mit Schwächen des Top-Managements zu tun hat. Der Umfang an Kenngrößen ist – halbwegs objektiv betrachtet – in vielen Fällen nicht notwendig. Er verhindert oftmals sogar den Erfolg, wenn Kosten und Zeitaufwand in nicht nachvollziehbarer Beziehung zum Aufwand stehen.
Praxisbeispiele in diesem Buch, selbst eingeführt und umgesetzt, sollen dem interessierten Leser als Denkansatz dienen, dass auch mit weniger KPIs Erfolg erzielt werden kann – wenn nicht sogar ein größerer. 70 Prozent an Informationen reichen in den allermeisten Fällen aus, um richtige Entscheidungen treffen zu können. Gestützt wird dies durch Analysen und Erkenntnisse der Verhaltensweisen im beruflichen sowie im privaten Kontext von Führungskräften der ersten bis dritten Ebene, die ich im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit, 20 Jahre in Festanstellung und seit 15 Jahren als Interim Manager, gewonnen habe. Im Selbststudium von Psychologie und Sozialverhalten, sowie bei vielen Gesprächen mit Coaches, habe ich meine Erfahrungen professionalisiert. Erfahrungsberichte aus Fachartikeln von Fremdautoren werden hierzu ebenfalls miteinbezogen. Dieser Erkenntnis-Beitrag soll aufzeigen, dass
- mit der richtigen Personalauswahl – vor allem im Management,
- einer strukturierten Organisation und deren Funktionen, sowie der
- Beschreibung der Guidelines der Unternehmens-Prozesse (Vision),
- echter Wertschätzung gegenüber allen Mitarbeitenden sowie durch
- Fördern und Fordern
ein Betriebsklima und eine Leistungsbereitschaft geschaffen werden können, durch welche sehr viele KPIs überflüssig werden. Es entsteht Zeit und Raum für mehr echte Beziehungen zwischen Menschen, die letztendlich im Unternehmen am selben Strang ziehen; und das macht häufig den Unterschied zwischen „Erfolg“ und „Misserfolg aus; zumindest zwischen „geht so“ und „richtig gut“, oder zwischen „wir kommen so durch“ und „wir verdienen richtig gutes Geld“!
Trendsurfen
Trendsurfen: Die Gewohnheit, auf dem Kamm der neuesten Welle in der Managementtheorie zu surfen und dann gerade rechtzeitig wieder an Land zu paddeln, um auf die nächste Welle aufspringen zu können. Dieser Zeitvertreib ist stets fesselnd für Manager und lukrativ für Berater, hat für das Unternehmen aber häufig katastrophale Folgen. 22
Urteilsvermögen: Grundlage jeder Entscheidung, die jeder einzelne Mitarbeiter im Unternehmen Tag für Tag trifft. Diese Eigenschaft findet daher häufig, wenn auch aus unerfindlichen Gründen, fast keinerlei Beachtung.
Business Reengineering, Total Quality Management, Prince2, Scrum und Empowerment sind nur einige Beispiele aus dem schier unerschöpflichen Angebot der vorgefertigten Patentrezepte und Schlagwörter, von denen behauptet wird, sie könnten Unternehmen auf die Ebene der „weltbesten“ Wettbewerber katapultieren. Leider stürzen sich nur allzu viele Firmen blindlings auf diese „Allheilmittel“, ohne genau zu verstehen, was man damit erreichen kann und was nicht.23 Und „ganz nebenbei“ müssen hierfür dann wieder neue KPIs „gefunden“ werden.
Die zentralen Führungsinstrumente müssen wieder in den Vordergrund: Manager brauchen einen klaren Blick für die Realität, ein gutes Urteilsvermögen, Entscheidungswillen und Mut zur Führung.
Im Zeitalter von unerschöpflichen Patentrezepten und Zauberformeln für „bahnbrechende« Leistungsverbesserungen und Ergebnisse „von Weltklasseniveau“, stehen folgende „Hauptattraktionen“ zur Verfügung.
- Sie können eine flache Pyramide bauen, eine horizontale Organisation zimmern, oder auch die Hierarchie verbannen.
- Sie können Mitarbeitern mehr Vollmachten geben, mit ihnen einen offenen Dialog führen und die Kultur erneuern.
- Sie können Kunden zuhören, ein kundenorientiertes Unternehmen formen und sich dem Ziel der vollkommenen Kundenzufriedenheit verschreiben.
- Sie können ein Unternehmen auf „Visionen“ einschwören, die Mission in schriftliche Zieldeklarationen fixieren und einen strategischen Plan entwerfen.
- Sie können kontinuierliche „Verbesserungen“ anstreben, zu neuen Paradigmen überwechseln oder sich in eine lernende Organisation verwandeln.
- Sie können sich und Ihre Firma voller Begeisterung in das Total Quality Management, in Prince2 oder Scrum stürzen.
• Sie können Ihr Unternehmen nach den Grundsätzen des Business Reengineering umbauen mit dem Ziel, eine – wie die Begründer dieses Konzepts es formulieren – „Revolution im Unternehmen“ anzetteln
Im Grunde hat jedes dieser Rezepte seine Vorteile und kann zu guten Resultaten führen. Die Voraussetzung hierfür: Überlegen Sie sich gründlich, mit welchen Ansätzen Sie bestimmte operative Leistungsziele erreichen können, und schneiden Sie diese exakt auf die Bedürfnisse Ihres Unternehmens zu.
Jede dieser Methoden kann einerseits zu neuen, effizienteren Arbeitsweisen animieren. Da es sich aber andererseits auch um schlagkräftige Führungsinstrumente handelt, können diese ein auch ganzes Unternehmen ins Chaos führen und verheerenden Schaden anrichten.
Insbesondere, wenn diese als Patentlösungen betrachtet und rein mechanisch in allen Teilen der Organisation angewendet werden, ohne dass sich die Verantwortlichen Gedanken darüber machen, wo und warum sie sinnvoll sein können, mit welchen anderen Verfahren man sie kombinieren könnte und wie sie – wenn überhaupt – auf die Bedürfnisse des Unternehmens abgestimmt werden sollten.
Hierbei stehen Ihnen zwei völlig entgegengesetzte Ansätze zur Verfügung:
- Entweder Sie haben den Mut, Ihr Unternehmen aktiv und mit klarem Verstand zu führen, oder
- Sie schalten im Management auf Automatik.
Voraussetzung für den Mut zur bewussten Führung ist die Bereitschaft, Situationen einzuschätzen, mögliche Varianten durchzuspielen, geeignete Instrumente auszuwählen und sie an die jeweiligen Anforderungen anzupassen bei gleichzeitiger Übernahme der Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen und die erzielten Ergebnisse. Automatisiertes Management hingegen bedeutet, sich auf vorgefertigte Rezepte zu stützen: Man läuft den Lemmingen in anderen Unternehmen hinterher und setzt die Ratschläge der Gurus buchstabengetreu um. Dafür steht man auch nicht unter dem Druck, sich ein eigenes Urteil bilden zu müssen. Außerdem kann man in diesem Fall die Hände einfacher in Unschuld waschen, wenn der eingeschlagene Kurs in eine Sackgasse führt.
Patentrezepte üben eine große Anziehungskraft aus; sie verheißen Managern „garantierte“ Ergebnisse und Beratern höhere Honorare. Es gibt sie nur leider nicht, und es hat sie auch nie gegeben. Neu ist jedoch die unvorstellbare Menge an Lösungsvorschlägen. Manche sind tatsächlich neu, andere hingegen nur neu verpackte Methoden, die nunmehr als Königsweg angepriesen werden.
Wahre Führung erfordert Mut: den Mut, Situationen einzuschätzen, Optionen durchzuspielen, Pläne zu entwickeln und zu ändern, zu lernen und zu handeln. Im Zeitalter der schnellen Antworten ist dieser Mut wertvoller als jemals zuvor.
Führungskräfte sind häufig Fehlbesetzungen
Im folgenden Interview mit Florian Brach, seit über zwölf Jahren als Headhunter für Mittelständler und Großunternehmen mit mehr als 15.000 Mitarbeitern tätig, wird das ganze Dilemma in den Führungsetagen deutlich.24
Herr Brach, seit über zwölf Jahren zählen Manager aus Konzernen und Mittelständlern zu Ihren Auftraggebern. Bei Ihrer Arbeit gewinnen Sie exklusive Einblicke in die deutschen Führungsebenen. Wie gut sind wir dort aufgestellt?
Leider sitzen häufig die falschen Leute auf Führungspositionen. Oft habe ich Menschen erlebt, die Risiken scheuen, keine Entscheidungen treffen und nur auf ihr persönliches Vorankommen bedacht sind. Sie würden staunen, wie hoch die Wechselbereitschaft ab einer gewissen Flughöhe ist! Immer wieder stoße ich zudem auf Visitenkarten-Egos.
Was ist denn ein Visitenkarten-Ego?
Das ist ein Mensch, der sein komplettes Selbstvertrauen nur auf seinen Titel bezieht. Jeder kennt diese Personen. Ich hatte zum Beispiel mal eine solche Klientin: Bei unserem...