Kanada
eBook - ePub

Kanada

Ein Länderporträt

  1. 256 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Kanada

Ein Länderporträt

Über dieses Buch

Farbenprächtige Wälder, tiefblaue Seen, die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains oder angesagte Metropolen wie Vancouver, Toronto und Montréal: Kanada fasziniert durch seine vielfältige Natur und Kultur. Wegen seiner Vorreiterrolle in vielen Fragen der gesellschaftlichen Liberalisierung wird das Land überall auf der Welt geschätzt; Multikulturalismus genießt hier Verfassungsrang.
Gerd Braune lebt seit mehr als 20 Jahren in der Hauptstadt Ottawa. In seinem Buch gibt er einen Einblick in Geschichte und Politik Kanadas. Er schildert das Leben im zweitgrößten Land der Erde, aber auch die Bruchlinien der kanadischen Gesellschaft, zwischen Indigenen und Eingewanderten, Anglophonen und Frankophonen. Und wie die Kanadier stets auf die USA blicken und ihre Sympathien, aber auch ihre Hassliebe gegenüber dem großen Nachbarn im Süden pflegen.
»Ein Buch, das den Leser souverän durch die komplexe Geschichte Kanadas führt.«
Katja Ridderbusch, Deutschlandfunk, über »Indigene Völker in Kanada«

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Kanada von Gerd Braune im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Geschichte & Nordamerikanische Geschichte. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Von Meer zu Meer zu Meer

Blick auf die Geschichte – ein großes Land entsteht

Der Leuchtturm von Bonavista liegt einige hundert Meter außerhalb des gleichnamigen kleinen Städtchens auf einer Anhöhe hoch über der Atlantikküste Neufundlands. In der Ferne ziehen Eisberge vorbei, mit etwas Glück zeigen sich auch einige Grauoder Buckelwale. Der Blick auf den Ozean ist überwältigend – falls die Küste nicht in dicken Nebel gehüllt ist, wie ich es vor einigen Jahren erlebte. Einem gewissen Giovanni Caboto jedenfalls ging es ganz anders. Er war offenbar begeistert, als er an dieser Stelle stand und »Buona Vista« ausrief, welch eine herrliche Aussicht, was dem Ort später seinen Namen geben sollte.
Es war der 24. Juni 1497. Giovanni Caboto, in Kanada besser unter seinem anglisierten Namen John Cabot bekannt, wollte eigentlich einen Seeweg nach Asien finden. Nun war er nach den Wikingern des beginnenden 11. Jahrhunderts der erste Europäer, der seinen Fuß auf diesen Teil des nordamerikanischen Kontinents setzte.
So ganz gesichert ist die Geschichte nicht, denn die Aufzeichnungen und Logbücher Cabotos, eines Seefahrers venezianischer Herkunft im Dienst der englischen Krone, verschwanden. Viele Spuren, die heute noch nachvollzogen werden können, hat er in Kanada nicht hinterlassen. Er gründete keine Siedlung und offenbar wagte sich die 19-köpfige Besatzung der »Matthew« auch nicht ins Landesinnere. Möglich ist auch, dass Caboto nach einer mehrwöchigen Reise, die Anfang Mai 1497 in Bristol in England begonnen hatte, nicht die Bonavista-Gegend in Neufundland erreicht hatte, sondern eine Bucht an der Strait of Belle Isle zwischen Labrador und der Insel Neufundland, vielleicht auch die Küste der Cape Breton Island, die zur heutigen kanadischen Provinz Nova Scotia gehört. Oder er hatte gar an der Küste des heutigen US-Bundesstaats Maine angelegt.
Diese kleinen Ungewissheiten sollten 500 Jahre später kein Hindernis sein, die Reise Cabotos mit einer Replika der »Matthew« nachzuvollziehen. Als das in Bristol gebaute Schiff am 24. Juni 1997 im Hafen von Bonavista in Neufundland, Cabotos »New Found Land«, anlegte, wurde die Besatzung von Königin Elizabeth II. und Premierminister Jean Chrétien begrüßt. Nicht in Feierstimmung war eine Delegation der First Nations, die mit Trommeln und Gesang auf das Schicksal der indigenen Völker Neufundlands und vor allem der Beothuk aufmerksam machte. Für die First Nations ist Cabotos Reise von 1497 der Beginn der Kolonisierung und des Untergangs der Beothuk. Der vermutlich letzte Beothuk erlag 1829 der Tuberkulose.
Das Interesse Englands an dieser Küste hielt sich vor mehr als 500 Jahren aber trotz des Fischreichtums des Atlantiks zunächst in Grenzen. So konnten auch Franzosen, Spanier und Portugiesen die Fischgründe nutzen oder im St.-Lorenz-Golf Wale jagen. Als wertvolles Überseeterritorium sah die britische Krone das heutige Kanada erst, als sich der Pelzhandel zu einem lukrativen Geschäft entwickelte und zudem der französische König Niederlassungen entlang des St.-Lorenz-Stroms gründete.

Ein ganz junges Land?

Kanadier sind begeistert, wenn sie historische Stätten in Europa sehen. Das ist für viele »Geschichte«. Aber Kanada ist kein »geschichtsloses« Land. Sicher: Der Staat, wie wir ihn jetzt kennen, ist ein junges Land, auch unter Einschluss der Besiedlung durch die Europäer, die vor 500 Jahren einsetzte. Die Dimensionen verschieben sich erst, wenn wir die Geschichte der indigenen Völker einbeziehen, deren Lebensraum dieses Land seit Jahrtausenden ist und denen ein späteres Kapitel gewidmet ist. Auf meiner ersten Reise fielen mir die Hinweisschilder »Place of Historic Interest« auf. Immer wieder hielt ich an, auch wenn außer des Hinweisschilds mit erklärenden Informationen nichts zu sehen war. Aber ich machte mir Notizen: über Siedler, die an dieser Stelle eine Gemeinde gegründet hatten, über einen Fluss, auf dem Trapper, coureurs du bois und voyageurs mit ihren Kanus paddelten, über indigene Völker, die hier zum Handel zusammenkamen, oder über Schlachten – zwischen Engländern und Franzosen, zwischen Briten und Amerikanern oder zwischen First Nations. Diese Schilder »Place of Historic Interest« ziehen sich wie eine Kette durch das Land. Kanada hat eine interessante, atemberaubende Geschichte, wenn man genau hinblickt. Sie ist über Jahrhunderte oft ein Spiegelbild europäischer Geschichte.
Kehren wir zurück in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts. Weitaus mehr als von Cabotos Ausflügen wissen wir von den Reisen Jacques Cartiers. Cartier, der 1491 in Saint-Malo in der Bretagne geboren wurde, überquerte zwischen 1534 und 1542 dreimal den Atlantischen Ozean und erkundete den St.-Lorenz-Golf. Er kam bis in die Gegend der heutigen Städte Québec und Montréal. Er schuf die Voraussetzungen für die französische Landnahme in Nordamerika, und manche Historiker sehen ihn daher als Gründer Kanadas. Auf seiner ersten Reise 1534 segelte Cartier von Neufundland durch die Strait of Belle Isle in den St.-Lorenz-Golf und dann in die Gaspé-Region. Dort traf er Angehörige der Irokesen-Völker, die zur Robbenjagd aus der Gegend der heutigen Stadt Québec an die Küste gekommen waren. Als Cartier nach Frankreich zurückkehrte, hatte er zwei Söhne des Irokesen-Chiefs Donnacona an Bord. Das geschah zwar angeblich mit Zustimmung Donnaconas, ging aber offenbar nicht ganz ohne Zwang und Täuschung vonstatten und kann daher auch als Entführung der Söhne bezeichnet werden. Die Franzosen brauchten Dolmetscher und die jungen Männer lernten in den acht Monaten, die sie bis zur zweiten Cartier-Reise in Frankreich verbrachten, genug Französisch, um den Forscher und seine Crew in ein Gebiet zu führen, das sie als »kebec« bezeichneten, »wo sich der Fluss verengt«. Hier wird aus dem kilometerbreiten St.-Lorenz-Golf, der einem Meer gleicht, ein Fluss. Cartiers Begleiter beschrieben den Weg in ihre Siedlung als »route de kanata«, denn »kanata« bedeutet in ihrer Sprache Dorf oder Siedlung. In seinen Aufzeichnungen hielt Cartier dies als »route de Canada« fest und nannte das Herrschaftsgebiet von Häuptling Donnacona »Royaume du Canada« und dann »Province du Canada«. Der große Fluss, der jetzt St.-Lorenz-Strom heißt, war der »Grande Rivière de Canada«. Es gilt – trotz einiger anderer Theorien – als weitgehend gesichert, dass das Wort »kanata« Ursprung des Landesnamen Kanada/Canada ist.
Mit Hilfe seiner Begleiter kam Cartier bis zur Irokesensiedlung Hochelaga, die auf einer Insel im St.-Lorenz-Strom liegt, der heutigen Stadt Montréal. Von 1541 bis 1542 hielt er sich nochmals in Nordamerika auf. Sein Versuch, in »kebec« eine permanente Kolonie zu gründen, scheiterte aber. Kriegerische Konflikte mit den Irokesen zwangen ihn, die Kolonie wieder aufzugeben. Mit dem großen Fluss hatte Cartier aber einen Weg in das Innere des Kontinents gefunden.

Samuel de Champlains Gründungen

Mehr als ein halbes Jahrhundert später nutzte Samuel de Champlain diesen Weg. Als Mitglied einer französischen Pelzhandels-expedition kam er 1603 erstmals nach Nordamerika. An der Mündung des Sagenay in den St.-Lorenz-Strom, wo heute Tadoussac liegt, knüpfte der Seefahrer, Kartograf, Geograf und Forscher Kontakt zu den indigenen Völkern, vermutlich Innu, die früher Montagnais genannt wurden, Maliseet, Mi’kmaq und Algonquin. Mehrmals kehrte Champlain in die Region zurück. Er gilt als einer der Mitbegründer der französischen Kolonie Akadia an der Bay of Fundy und der Siedlung Port-Royal, des heutigen Annapolis Royal in Nova Scotia im Jahr 1604. Vier Jahre später, 1608, gründete Champlain in dem Gebiet »kebec« eine permanente Siedlung: Québec. Damit ist die Stadt Québec eine der ältesten Städte Nordamerikas. Champlain kam auch nach Hochelaga. Aber erst 1642, sieben Jahre nach Champlains Tod, wurde dort Ville-Marie gegründet, das Zentrum der heutigen Stadt Montréal. Hinter vielen Forschungsreisen stand vorrangig das Ziel, einen Seeweg nach Asien zu finden. Damit sollte auch der Zugang zu den Gewürzinseln erleichtert werden, die zu den südpazifischen Molukken gehören. Von dort kommen Muskatnuss und Gewürznelken, die ein begehrtes und teures Handelsgut waren. Das hatten Cartier und Champlain im Sinn. Auch englische Seefahrer wie Martin Frobisher, der 1576 die Küste der kanadischen Arktis erreichte, John Davis, Henry Hudson, Robert Bylot und William Baffin suchten die Nordwest-Passage, den Seeweg durch das nordkanadische Archipel. Ihre Namen sind heute mit Inseln, Binnenmeeren und Meeresstraßen im Norden Kanadas verbunden.
Während Spanier und Portugiesen ihren Blick stärker auf die Karibik und Mittel- und Südamerika richteten, begannen Franzosen und Engländer ihren Wettstreit um die Vorherrschaft im Norden des nordamerikanischen Teilkontinents. Wechselnde Koalitionen zwischen den europäischen Mächten und indigenen Völkern und Konföderationen und die kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa während des Dreißigjährigen Kriegs beeinflussten die Entwicklungen in Nordamerika.
Ausgehend von Neufundland hatte der Pelzhandel wegen des gestiegenen Interesses der europäischen Königshäuser an wertvollen Pelzen an Bedeutung gewonnen. Bereits 1583 hatte Humphrey Gilbert einen Teil Neufundlands für die englische Krone in Besitz genommen, 1620 kamen mit der »Mayflower« die Pilgerväter nach Massachusetts. Auch die Holländer segelten nach Amerika und gründeten Neu Amsterdam, das spätere New York. 1627 ließ der französische Kardinal Richelieu die Compagnie de la Nouvelle France gründen, die in dem nun Neufrankreich genannten Gebiet in Nordamerika das Handelsmonopol hatte. Sie sollte die Position der französischen Krone sichern und stärken und mehrere Tausend Siedler aus Frankreich in diese Kolonien bringen. Sie wurde auch Compagnie de Cent-Associés genannt, weil sie hundert Anteilseigner hatte. Einer von ihnen war Samuel de Champlain, der ab 1629 Vertreter Richelieus in Nouvelle France war. Aber immer wiederkehrende Scharmützel mit den Briten, die in der vorübergehenden Besetzung Québecs gipfelten, ließen den erwarteten Entwicklungsschub verpuffen, und die angestrebte Zahl der Siedler wurde nie erreicht. 1645 übernahm die Compagnie des Habitants die Geschäfte. Sie war aber nur dem Namen nach eine Gesellschaft der Siedler, der habitants, denn die maßgeblichen Entscheidungen trafen die Wohlhabenden. 1663 kam das Ende der Handelsgesellschaft: Die französische Regierung widerrief das Handelsmonopol und übernahm die Verwaltung von Neufrankreich.

Waldläufer und die Hudson’s Bay Company

Die Coureurs des Bois, die Waldläufer, und die Voyageurs gehören zu den legendären Institutionen in Kanadas Geschichte. Sie stehen für Abenteuer- und Entdeckerlust, Wagemut und Ungebundenheit. Vom St.-Lorenz-Strom und über den Ottawa-Fluss zogen im 17. Jahrhundert die Coureurs des Bois ins Landesinnere, führten Handelswaren mit sich und tauschten sie mit den Indigenen an den Handelsposten gegen Pelze. Die frankokanadischen Händler reisten auf eigene Gefahr und Kosten. Diesem unregulierten Handel schob die französische Verwaltung einen Riegel vor, indem sie Lizenzen vergab. Diese lizenzierten Händler wurden Voyageurs genannt, Reisende. Sie konnten aber wiederum Männer anheuern, die ihnen als engagés halfen, die Kanus paddelten und Frachten trugen. Manche Voyageurs machten die beschwerlichen Reisen selbst mit, manche blieben als Kaufleute lieber in den Städten. Die Wege zu den Jagdgründen wurden immer länger. Sie reichten bis an die Großen Seen und in den mittleren Westen. Auf dem Höhepunkt des Pelzhandels im 18. Jahrhundert lief der Pelztransport über ein auf 5000 Kilometer Länge geschätztes Netz an Wasserläufen.
Das romantisierende Bild, das Waldläufer und Voyageurs umgibt, entsprach nie der Wirklichkeit. Es war harte Arbeit. Die Männer waren wochen- und monatelang unterwegs und Hitze und extremer Kälte ausgesetzt, mussten durch eisige Flüsse waten, Pelzballen schleppen und ihre Birkenrindenkanus um Stromschnellen und Wasserfälle tragen. Oft war eine portage nötig, ein kilometerlanger mühseliger Weg durch Dickicht und Sümpfe von einem Fluß zum anderen. Das Gemälde »Shooting the Rapids« von Francis Ann Hopkins gehört zu den berühmtesten Zeugnissen der Voyageurs-Zeit, auch wenn es erst 1879 entstand. Die Malerin, Ehefrau eines leitenden Angestellten der Hudson’s Bay Company, fuhr auf einer Reise mit und hielt ihre Eindrücke in ihrem Skizzenbuch fest. Sie hat sich selbst ein Denkmal gesetzt: Einige Gemälde zeigen sie im Kanu neben ihrem Mann.
Während die Franzosen ihr Handelsimperium entlang der Flüsse im heutigen Kanada, aber auch über den Mississippi bis in den Süden der USA nach Louisiana festigten, waren die Engländer an der Küste der heutigen Neuenglandstaaten aktiv. Henry Hudson hatte bereits 1610 die Hudson Bay für die englische Krone in Besitz genommen. Als London den Pelztierreichtum des Landes an der Hudson Bay erkannte, wurde am 2. Mai 1670 durch eine Charta des englischen Königs Charles II. die Hudson’s Bay Company unter dem Namen »The Governor and Company of Adventurers of England trading into Hudson’s Bay« gegründet. Die Hudson’s Bay Company hatte das Handelsmonopol für das gesamte Territorium, das nach einem Cousin des Königs, Prinz Rupert, »Rupert’s Land« genannt wurde. Mehr als ein Drittel der Fläche des heutigen Kanada, annähernd vier Millionen Quadratkilometer, gehörte der HBC. Dass dort souveräne indigene Völker lebten, deren Rechte damit missachtet wurden, kam der Krone nicht in den Sinn.
Mit Gründung der HBC entstand den Franzosen eine starke wirtschaftliche Konkurrenz nördlich ihres Einflussbereichs. Sie antworteten 1682 mit der Gründung der Compagnie du Nord. In ihrer Kolonie Neufrankreich etablierte Frankreich Gesellschaftsstrukturen, die denen in Frankreich ähnelten – ein etwas vereinfachtes Feudalsystem mit der niederen Klasse der Habitants und der Beamten, der Großgrundbesitzer, die als Seigneurs bezeichnet wurden, und des Klerus der katholischen Kirche. Um sich gegen Überfälle von Irokesen und Engländern zu erwehren, wurden Truppen stationiert, und eine besondere Einwanderungsund Familienpolitik förderte den Bevölkerungszuwachs: Wegen des Überhangs an männlichen Siedlern wurden in Frankreich Mädchen und junge Frauen aus Waisenhäusern und Gemeinden an der Küste angeworben, um nach Nordamerika zu kommen. Als Filles du Roi, Töchter des Königs, gingen sie in die Geschichte ein. Kinderreiche Familien erhielten zudem staatliche Zuschüsse, so dass die Bevölkerung von Neufrankreich von Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts von knapp über 3000 auf mehr als 60 000 Menschen wuchs. Der Einfluss der Kirche und das traditionelle Bild der Familie mit vielen Kindern prägten das Gebiet des heutigen Québec bis in die Gegenwart und das wandelte sich erst mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der révolution tranquille in den 1960er Jahren einhergingen. Auch Ehen kanadischer, also frankophoner Pelzhändler und Waldläufer mit Frauen aus den indigenen Völkern wurden gefördert. Aus diesen Beziehungen entwickelte sich ein neues Volk, die Métis.
Der Kampf zwischen England und Frankreich um Vormacht auf dem europäischen Kontinent schlug sich in kriegerischen Konflikten in Nordamerika und wechselnden Koalitionen mit First Nations nieder. Sie führten letztendlich zum Niedergang Frankreichs als Kolonialmacht in Nordamerika. Der Friede zu Utrecht 1713 ordnete Europa neu, hatte aber auch Folgen für Nordamerika: Frankreich trat seine Rechte im Gebiet der Hudson’s Bay Company, in Neufundland und weiten Teilen der Akadie, wie die frankophonen Siedlungsgebiete der heutigen Atlantikprovinzen genannt werden, an die britische Krone ab. Das dann folgende halbe Jahrhundert brachte die grausame Vertreibung der Akadier und das Ende französischer Herrschaft in Nordamerika – zwei Ereignisse, die bis in die Gegenwart wirken.

»Le Grand Dérangement« – die Vertreibung der Akadier

Als ich 1997 nach Kanada kam, war Roméo LeBlanc Generalgouverneur Kanadas, ein Amt, das später näher beschrieben werden soll. LeBlanc, ein langjähriger liberaler Politiker, war 1995 von Premierminister Jean Chrétien mit diesem Amt betraut worden. Er war der erste Akadier, der in Rideau Hall einziehen durfte, den Amtssitz des Generalgouverneurs in Ottawa. Dass zudem 1999 in Moncton der Gipfel der frankophonen Staatengemeinschaft La Francophonie stattfand, zeigte den Kanadiern, dass das frankophone Element Kanadas nicht auf Québec begrenzt ist, das sich gerne als Hüter des frankophonen Erbes in Nordamerika sieht.
Wie lebendig akadische Kultur und Selbstbewusstsein sind, lernte ich im Sommer 1998 bei einem Urlaub an der Atlantikküste kennen. In Frankreich fand die Fußballweltmeisterschaft statt. Am Tag des Endspiels, das Frankreich und Brasilien bestritten, trafen meine Frau und ich in der Stadt Caraquet in der Provinz New Brunswick – oder besser: Nouveau Brunswick – ein. Die Stadt war mit der Trikolore geschmückt und in der Kneipe, in der wir das Finale sahen, standen wir in einem Pulk von Fans in Blau-Weiß-Rot. Was uns erst an diesem Tag bewusst wurde: Die Trikolore ist auch die Flagge der Akadie, aber mit einem gelben Stern auf dem blauem Segment. Die Trikolore mit Stern ist in dieser Gegend allgegenwärtig. Sie flattert an Fahnenmasten vor Privathäusern, Imbissbuden und Verwaltungsgebäuden in Caraquet, Lameque oder Tracadie-Sheila in Nouveau Brunswick, in Pointe de l’Eglise, Grosses Coques und St. Bernard entlang des Evangeline-Trails in Nova Scotia, vereinzelt auch auf der Prinz-Edward-Insel. Die Société Nationale de l’Acadie mit Sitz in Moncton in Nouveau Brunswick ist die Interessenvereinigung der 300 000 Akadier, die in den Atlantikprovinzen leben, die meisten von ihnen, rund 250 000, in Nouveau Brunswick.
Die Akadier wurden Opfer des britisch-französischen Ringens um Nordamerika und einer ethnischen Säuberung. Mit dem Vertrag von Utrecht 1713 war die Akadie endgültig in britischen Besitz übergegangen und in Neuschottland umbenannt worden. Die Akadier waren nicht mehr französische, sondern britische Untertanen. Aber der Vertrag war nicht klar formuliert und ließ beiden Seiten Raum für Interpretationen. So waren die Franzosen überzeugt, dass große Teile des heutigen Nouveau Brunswick in ihrem Besitz blieben, auch wenn das Gebiet insgesamt unter britischer Souveränität stand. Die Franzosen behielten zudem Cape Breton Island, die Insel an der Nordspitze von Nova Scotia. Dort bauten sie Louisbourg zu einer Festung aus und zogen sich damit den Unmut der Engländer zu. Die Akadier widersetzten sich der Forderung der Briten, einen Treueeid zugunsten der britischen Krone zu schwören, waren aber bereit, sich in jedem Konflikt zwischen Franzosen und Briten neutral zu verhalten.
Das genügte den Briten Mitte des 18. Jahrhunderts aber nicht mehr. Gouverneur Charles Lawrence sah in den Akadiern, die die Mi’kmaq als Alliierte auf ihrer Seite hatten, eine Gefahr. Lawrence bestand auf dem Treueeid und damit begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Akadie: Am 28. Juli 1755 entschied die britische Krone, die Akadier, die sich weigerten, einen Eid auf die britische Krone abzulegen, zu deportieren. Am 5. September des gleichen Jahres begann die Vertreibung. Ihre Kirchen wurden umstellt, Männer wurden festgenommen, Häuser und Felder niedergebrannt. Tausende flohen in die Wälder und versteckten sich. Viele verhungerten. Mehrere Tausend Menschen kamen bei dieser ethnischen Säuberung ums Leben. »Wenn sich Männer weigerten zu gehen, bedrohten die Soldaten ihre Familien mit Bayonetten. Sie gingen widerstrebend, betend, singend und weinend«, beschreibt die Canadian Encyclopedia die Deportation, die als »The Great Upheavel« oder »Le Grand Dérangement« in die Geschichte einging. Bis 1763 wurden mehr als 10 000 Akadier, zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, vertrieben. Sie wurden in andere britische Kolonien in Nordamerika oder nach Frankreich gebracht, eine größere Gruppe durfte sich in Louisiana niederlassen. Sie legten dort den Grundstein für eine neue Kultur, die heute als Cajun bekannt ist.
Es sollte rund 250...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Halbtitel
  3. Titelseite
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. »Canadian, eh?« – eine Vorbemerkung
  7. Nichts ist so kanadisch wie hockey
  8. Von Meer zu Meer zu Meer
  9. Das Land der indigenen Völker
  10. Westminster in Ottawa
  11. Der transatlantische Partner
  12. Der Elefant im Bett
  13. Zerreißproben
  14. Vielfalt und sozialer Wandel
  15. Eiswein, Poutine und das Wetter
  16. Einsamkeit und coole Städte
  17. Mehr als ein Land der Rohstoffe
  18. Gemeinsames Lernen
  19. Der Stolz auf das Gesundheitswesen
  20. Ein Land der Kultur
  21. Canada Day
  22. Anhang