
- 437 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Sigrid Grabner erblickt im Kriegsjahr 1942 in Böhmen das Licht der Welt - weder eine Zeit, noch ein Ort, der eine hoffnungsfrohe Zukunft verheißen ließ. Einfühlsam, facettenreich, leise und doch kraftvoll beschreibt sie ihr Leben zwischen den Zeiten. Ein Leben auf der Suche nach Heimat für Seele und Gedanken; ein Leben, faszinierend in seiner Einmaligkeit und doch typisch für unzählige Menschen im Nachkriegsdeutschland.Eine bewegende Autobiografie voller Hoffnung und Zweifel, voller Ehrlichkeit und Intensität.
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Information
III. Teil
Also ist das Leben –
weder seine Lust bleibt,
noch sein Leid.
Der Weg ist nicht dein,
aber auch was dir begegnet
ist nicht dein.
Heute pflügst du die Erde,
morgen ein anderer.
Basilius der Grosse
1
Die neue Wohnung in der Stadt lag im ersten Stock eines Jugendstilhauses. In sanftem Schwung führte die Straße zur Anhöhe des Pfingstberges. Die russisch-orthodoxe Kirche aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, das verfallene Belvedere auf dem Pfingstberg, der jüdische Friedhof und die evangelische Pfingstkirche in unmittelbarer Nachbarschaft erzählten von besseren Zeiten der Stadt und ihrer Bewohner. Wo früher Beamte gewohnt hatten, lebten auch heute in der Mehrzahl loyale Untertanen der Obrigkeit – Staatsanwälte, Angestellte des Ministeriums für Staatssicherheit, Polizisten, Offiziere, Partei- und Staatsfunktionäre. Es gab aber auch Nachbarn, die mit ihrer Hände Arbeit ihr Brot verdienten. Mutter Gräning zum Beispiel, die ein Leben lang als Dienstmädchen und Haushälterin gearbeitet hatte, und uns jetzt das Einleben in der neuen Umgebung mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft erleichterte.
Der Putz bröckelte von den Fassaden, die Dächer wurden mit jedem Jahr durchlässiger, aber noch widerstanden die solide gebauten Häuser dem endgültigen Verfall. Aus den Fenstern zur Gartenseite öffnete sich der Blick auf mächtige alte Kastanienbäume und Eichen, auf russische Jeeps und Militärlastwagen, auf grün und rosa angestrichene Villen.
Sie gehörten zum „Städtchen“. In dem seit Kriegsende von russischen Armeeposten, durch Mauern, Wachtürme und Stacheldraht hermetisch abgeriegelten Areal zwischen dem Neuen Garten und dem Pfingstberg hatten vor dem Krieg altansässiger Potsdamer Adel und wohlhabendes Bürgertum gewohnt. Nach dem Einmarsch der Russen war das Stadtviertel von der Roten Armee besetzt und zum Hauptquartier des KGB, des russischen Geheimdienstes, umgestaltet worden: Ämter, Garagen, Kulturhaus, Gefängnis. Tag und Nacht war das Kreischen des Tores zu hören; Militärkolonnen, Jeeps und Nobelkarossen, auch solche mit deutschen Kennzeichen, fuhren aus und ein. Niemand wusste, was sich hinter dem Tor abspielte.
Vom Küchenbalkon sahen wir auf die Rückseite einer russischen Verkaufsstelle und auf einen von Kastanienbäumen umstandenen Platz, den Soldaten von Zeit zu Zeit mit Reisigbesen fegten und auf dem hin und wieder in langen Reihen Jeeps oder Lastwagen parkten. Manchmal schallte russische Marschmusik aus Lautsprechern oder das Urra! Urra! Urra! aus Hunderten von Soldatenkehlen herüber.
Seit nunmehr dreißig Jahren lag das „Städtchen“ inmitten der Stadt und war ihr doch ferner als der fernste Stern, und es sollten noch einmal fast zwanzig Jahre vergehen, bis das Tor sich für die Stadtbewohner öffnete. Nur die über Sechzigjährigen konnten sich dann noch daran erinnern, wie es in dieser Gegend einmal ausgesehen hatte.
Nur schwer gewöhnten wir uns an die Mauern, auf die wir allenthalben stießen und die vorgaben, uns zu beschützen – die Mauern des „Städtchens“, die Mauern um die „Objekte“ der Staatssicherheit, die Mauern des „antifaschistischen Schutzwalls“ entlang der Havelseen an der Grenze zu Westberlin. Sich ihnen zu nähern, erregte Aufmerksamkeit, über sie zu schauen, zog Strafe nach sich und sie zu überwinden, konnte das Leben kosten. Während wir auf Spaziergängen die nähere Umgebung erkundeten, verfolgten argwöhnische Augen jeden unserer Schritte. Jemand, der von seiner Wohnung aus in das KGB-Gelände hineinschauen konnte, nicht bei der Polizei oder im Staatsapparat seinen Lebensunterhalt verdiente, nicht mit der Staatssicherheit zusammenarbeiten wollte und Freunde im kapitalistischen Ausland hatte, war von vornherein verdächtig, für einen westlichen Geheimdienst zu spionieren. Dass Parteifunktionäre – aus einer Regung von schlechtem Gewissen – mir diese Wohnung mit dem Einblick ins „Städtchen“ vermittelt hatten, entlastete mich bei der Staatssicherheit nicht. Konnte das nicht eine besonders raffinierte Tarnung sein? Der Verdacht gegen mich wog umso schwerer, weil ich äußerst zurückgezogen und nur für meine Kinder und das Schreiben lebte.
Beim Umzug in die Stadt waren mir die Notizen für unsere geplante Reise nach Westdeutschland wieder in die Hände gefallen. Ich haderte mit meinem Schicksal: Sollten die Mistkerle, die Jakob in den Tod getrieben hatten, das letzte Wort behalten? Da hörte ich Jakob sagen: Es wird unsere Reise sein, wenn du fährst.
Aber wie sollte ich die Genossen bewegen, einer Dreiunddreißigjährigen, die nicht einmal Verwandte im Westen besaß, ein Visum zu geben? In der Badewanne, wohin ich mich zum Nachdenken zurückzog, kam mir die Erleuchtung. Der Kulturminister war einer von den jungen Männern gewesen, denen Jakob nach Kriegsende eine Unbedenklichkeitsbescheinigung für das Studium an der neu eröffneten Leipziger Universität ausgestellt hatte. Vielleicht erinnerte er sich daran und wollte etwas Gutes tun? Ich schrieb an den Minister, die Reise nach Hamburg sei schon seit langem geplant, Jakobs plötzlicher Tod dürfe diese Unternehmung, die auch dem Quellenstudium für ein neues Buch diene, nicht scheitern lassen. Mein Lebensunterhalt hinge davon ab.
Hier übertrieb ich. Ich war ganz und gar nicht davon überzeugt, dass ich uns durch Schreiben ernähren müsse und könne. Wenn wir von der Schreiberei und der Halbwaisenrente für die Kinder nicht leben konnten, würde ich jede sich bietende Arbeit annehmen: Tomaten und Erdbeeren pflücken, putzen, Zeitungen austragen. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass der so widerwillig erworbene Doktortitel mir dabei hinderlich sein würde. Kein Betrieb durfte eine Frau Doktor zum Staubwischen oder Kloputzen einstellen. Da ich das nicht wusste und mich auf die Kraft meiner Hände und meiner Jugend verließ, war ich innerlich frei von der Furcht um das tägliche Brot.
Der Kulturminister wies an, mich für zehn Tage in den Westen reisen zu lassen, mit Fahrzeug, einem VW Käfer, den uns Jakobs Hamburger Freund geschenkt hatte. Meine Mutter kümmerte sich um die Kinder. Ich erlaubte mir keine Betrachtungen oder Erinnerungen, nicht vor der Grenze, nicht hinter der Grenze. Wenn ich schon ohne Jakob leben musste, dann wollte ich die Tür, die er mir geöffnet hatte, nicht wieder zuschlagen lassen. Mir war nicht nach Bildungsreise, nicht nach Recherche für ein Buch, nicht nach Flucht, nicht einmal nach den Freunden zumute. Nur den Fuß musste ich in der Tür behalten.
Am Tag meiner Abreise in den Westen war dem Sänger Wolf Biermann die DDR-Staatsbürgerschaft entzogen worden. Auch er hatte eine Reisegenehmigung für das andere deutsche Land erhalten, und er schwieg nicht, wie ihm befohlen worden war. In Köln sang er seine frechen Lieder über die Staatsbürokratie; die Zuhörer jubelten und die führenden Genossen im Osten auch. Endlich bot sich ihnen ein Vorwand, den subversiven Sänger aus der Berliner Chausseestraße loszuwerden.
Am 17. November 1976 notierte ich in mein Tagebuch: Quos vult perdere Jupiter, prius dementat. Ich musste Direktive unterschreiben, dass ich im Ausland (sprich: westliches) Kulturpolitik der DDR vertrete. Da freuen sich die Leute dort schon darauf. Das Äußerste, was sie in Rücksicht auf meine Kinder von mir verlangen können, ist Schweigen, Schweigen, Schweigen. Aber das hat seine Grenzen. Schweigen in bestimmten Situationen kann einen zum Gewissenslump machen, man verspielt seine eigene Würde.
In Hamburg erfuhr ich vom Protest einiger DDR-Schriftsteller gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Jedes Wort hätte ich unterschrieben, wenn mich jemand darum gebeten hätte. Was sollte, was konnte ich tun? Der Gedanke, verfolgt, eingesperrt und ausgewiesen zu werden, schreckte mich nicht um meinetwillen, sondern der Kinder wegen. Hätte ich das Recht gehabt, für eine Geste, die mich in Einklang mit mir selber brachte, meine Kinder um meinen Schutz zu bringen? Ich musste nichts Unrechtes tun, ich musste mir nur versagen, das Unrecht laut Unrecht zu nennen.
Ein Jegliches unter dem Himmel hat seine Zeit, besänftigte ich den Aufruhr in meinem Inneren mit den Worten des Predigers Salomo. Reden hat seine Zeit, Schweigen hat seine Zeit. Ich konnte nicht mehr so leben, als sei Jakob noch an meiner Seite; ich musste leben, als sei aus ihm und mir ein neuer Mensch entstanden, der klaglos Verantwortung schulterte und unvermeidliche Schuld auf sich nahm.
Die Ausbürgerung von Wolf Biermann und die Reise nach Hamburg stellten mein neues Lebenskonzept auf eine harte Probe. Ich bestand sie, das gab mir ein wenig Selbstvertrauen. Zum Glück ahnte ich nicht, wie viele Proben auf dem Weg durch die Wüste noch zu bestehen waren und dass Zweifel sich auf mich stürzen würden wie die Teufel auf die Wüstenväter.
Ich ging kaum unter Menschen. Meine Hautlosigkeit machte mich leicht verletzbar. Mitleid und Neugier konnte ich nicht ertragen. Nur in Gerrits und Johannas Gegenwart fühlte ich mich wohl. Jeden Morgen frühstückten wir zusammen. Während die Kinder in der Schule waren, saß ich am Schreibtisch. Der Nachmittag und der frühe Abend gehörten uns gemeinsam. Ich ließ mir von der Schule erzählen, wir spielten miteinander oder streiften durch die Natur. Dann kehrte ich an den Schreibtisch zurück. Als seien wir nach einer Katastrophe die einzigen Überlebenden, hielten wir uns liebevoll und achtsam fest.
Frieder wurde mir in jener Zeit der nächste Freund. Wie er mir einst geholfen hatte, mich aus den Fängen der Staatssicherheit zu befreien, so stand er mir auch jetzt bei. Niemals bedauerte er mich, niemals nahm er mir eine schwere Aufgabe ab. Als Jakob im Krankenhaus gelegen hatte und ich mich nicht traute, mit dem Auto zu ihm zu fahren, weil ich keinerlei Fahrpraxis besaß, war Frieder zu mir gekommen, hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt und gesagt: Fahr los! Ich zitterte, ich schwitzte, ich bettelte: Fahr du. Frieder schüttelte den Kopf: Wer eine Fahrerlaubnis besitzt, kann auch fahren. Unterwegs lobte er, wie zielsicher ich jedes Schlagloch ansteuerte, und erzählte Witze über tollpatschige Fahranfänger, über die ich nicht lachen konnte. Als wir heil das Krankenhaus in der Stadt erreicht hatten, stieg er in sein eigenes Auto um. Zurück könne ich nun allein fahren und schönen Gruß an Jakob. Seither fuhr ich Auto.
Frieder schaute bei uns vorbei, wenn er in der Nähe zu tun hatte. Mit verschmitztem Lächeln meinte er, wenn er der Staatssicherheit etwas mitzuteilen habe, rede er mit der Sekretärin des Schriftstellerverbandes, das sei der schnellste Weg. Er trank meinen Cognac, den er nie zu ersetzen vergaß, und erörterte in seinem breiten schwäbischen Tonfall die Dummheit von Partei- und Staatsfunktionären und die Biermann-Affäre. Harte Worte fand er für die „heroischen Spießbürger“, wie er viele seiner Berufsgenossen nannte. Wer sich Illusionen über den Zustand dieser Gesellschaft hingebe und seine eigene Rolle verkläre, werde Schmerzen ohne Ende erleiden. Die Intellektuellen, die sich so viel auf ihre Einmaligkeit zugute hielten, könnten in der Gesellschaft nichts bewegen; verändern könnten nur die Massen. Den von ihrer moralischen Überlegenheit überzeugten Schriftstellern, die meinten, eine Welt nach ihrem Bilde schaffen zu müssen, stünden zurzeit nur drei Wege offen: Nervenklinik, Selbstmord oder die Bundesrepublik Deutschland. Alles andere sei Traumtänzerei.
Ob der Sozialismus denn reformierbar sei, fragte ich.
Frieder lächelte grimmig, er erkenne weit und breit keinen Sozialismus.
Aber wie es dann weitergehen solle, unterbrach ich seinen Vortrag über die Ideengeschichte des Sozialismus.
Frieders Antwort kam wie eine Abfolge von Hammerschlägen: Es geht weiter wie bisher: Berlin 1953, Ungarn 1956, Polen 1956, Prag 1968, Stettin 1971. Immer wieder werden die Massen aufstehen und sich wehren. Der Sozialismus ist nicht reformfähig.
Das sagte er, der Marxist, der Kommunist. Woran sollte ich mich dann noch halten, worauf sollte ich noch hoffen? Heroische Spießbürger hatte Frieder auch die protestierenden Schriftsteller genannt. War denn Einstehen für Anstand, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit etwas Verwerfliches?
Natürlich nicht, erwiderte Frieder, aber es sei naiv, wenn die linken Moralapostel erwarteten, dass die Mächtigen ihren Rat befolgen würden. Er wisse schon, wie die Geschichte weiterginge, nämlich so wie seit Urzeiten. Die selbst ernannten Geistesheroen würden aus Enttäuschung, dass ie Mächtigen nicht auf sie hörten, an der Welt verzweifeln und dem Rest der Menschheit einreden wollen, die Welt tauge nichts. Als ob die Welt dazu geschaffen sei, unseren Vorstellungen zu entsprechen!
Woran ich mich halten solle? Zum Beispiel an die Psalmen. „Wenn der Herr die Gefangenen Zions befreien wird, werden wir sein wie die Träumenden“, oder: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Ich möge öfter einmal im Psalter lesen, dann würde ich bald merken, dass „unsere neuen Menschen“ so alt wie Urvater Adam seien.
Jeden anderen hätte ich nach diesen Worten für verrückt erklärt. Frieder riet mir, in der Bibel zu lesen, während ich nach Wegen suchte, die Gesellschaft zu verändern, damit ich frei atmen konnte. Aber hinter Frieders Worten stand ein Leben. Er hatte gegen die Nationalsozialisten gekämpft und dafür Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern verbracht. Er hatte vom Sozialismus geträumt und dafür die sozialistischen Zuchthäuser von innen kennengelernt. Er hatte alles verloren, was ihm lieb und teuer gewesen war, und dem Tod und abgrundtiefer Verzweiflung ins Auge gesehen. Als Frieder nach Erreichen der Altersgrenze in seine Heimatstadt Stuttgart reisen wollte, wo eine Straße nach seinem von den Nazis hingerichteten Vater benannt war, verweigerten ihm die sozialistischen Behörden zunächst den Ausreisestempel mit der Begründung, was er denn im Westen wolle, er habe doch dort keine Verwandten.
Frieder war kein verbitterter alter Mann, wenn auch das Leben sein Gesicht mit Furchen gezeichnet hatte wie nur wenige. Sein rascher Schritt, sein Lachen, sein Humor verbreiteten eine Frische, um die ihn Jüngere beneideten. Bei ihm suchten Lebensmüde und Verzweifelte Rat, und alle gingen mit einem Lächeln.
Innerlich begehrte ich gegen Frieders Worte auf. Noch hatte ich nicht genug gelitten, um sie zu verstehen, aber ich vergaß sie nicht.
Du isst zu wenig, befand Frieder, und stellte mir ein komplettes, von ihm selbst gekochtes schwäbisches Menü vor die Tür. Als ich ihn deshalb zur Rede stellte, erfuhr ich, seine Tiefkühltruhe streike neuerdings, und ich werde doch nicht wollen, dass er die schönen Gerichte auf den Kompost werfe. Das wollte ich nicht, und wir aßen Frieders Spätzle und priesen die defekte Tiefkühltruhe. Wochen später meinte Frieder beiläufig, mein Stolz sei lebensbedrohend, meine Naivität hingegen lebensrettend. Er habe die Tiefkühltruhe für defekt erklären müssen, weil ich anders nicht zu bewegen gewesen wäre, mich von ihm bekochen zu lassen. Das beste Mittel gegen Depressionen sei aber nun einmal eine gute Mahlzeit.
Als ich eines Abends zu ihm fuhr, weil ich vor Traurigkeit kaum noch atmen konnte, setzte er mir etwas zu essen vor und begann, als ich es zurückschob, mit den Worten: Tjaaa, der Libanon stirbt nun wohl … über die politische Lage in Beirut und über die Weltpolitik zu dozieren. Ich fand nicht die Kraft, ihn zu unterbrechen und über meine maßlose Sehnsucht nach Jakob zu sprechen. Anfangs hockte ich taub und blicklos am Tisch, allmählich nahm mich Frieders Tonfall gefangen, meine Augen folgten dem Tanz seiner Hände und dem Spiel der Falten auf seiner Stirn. Was für ein Mensch, dachte ich irgendwann; er scheint das Leid der ganzen Welt zu kennen und verzweifelt doch nicht. Er redet Dummheit und Grausamkeit nicht schön; indem er sie als gegeben hinnimmt, überwindet er sie. Als hätte er meine Gedanken erraten, unterbrach er seinen Redefluss und fragte: Warum bist du eigentlich gekommen, wolltest du etwas Bestimmtes? Seine Naivität war gespielt.
Es geht mir gut, versicherte ich und griff nach Messer und Gabel. Frieder nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, und begab sich wieder wortreich auf die Reise durch die Welt der Politik.
Einmal fragte ich ihn, wie er es anstelle, immer heiter zu sein. Ungewöhnlich kurz angebunden erwiderte er, das täusche, er sei nicht immer heiter, aber er könne es sein, wenn er es wolle. Das habe er gelernt in den Zuchthäusern aller Couleur. Jakobs Lieblingswort fiel mir wieder ein: Kein Mensch taugt ganz ohne Freude.
Zu Frieders Geburtstag im Januar, aber auch sonst übers Jahr, stand sein Haus Freunden und Bekannten offen. Die Begegnungen gerieten zur Tauschbörse verbotener Bücher und Meinungen. Rezepte wurden ausgetauscht – Frieder hatte neben anderen Büchern ein Kochbuch unter dem Titel „Lorbeer ist ein Küchenkraut“ veröffentlicht – und Tratsch kolportiert. Aber seit dem unseligen Jahr 1976 fehlten einige in dem Kreis: Jakob, der im selben Jahr gestorbene Schriftsteller Eduard Claudius, Walter Kaufmann und das Schriftstellerehepaar Christa und Gerhard Wolf, die nach Berlin gezogen waren. Es kam noch der eine oder andere Kollege, es kamen Witwen und Hinterbliebene, ein paar Neugierige, die sich immer um Originale scharen. Aber seit die Alten fehlten, die mit ihrer Streitlust und ihrem Witz Frieders Redewut Paroli geboten hatten, wurde es stiller um Frieder.
Auf den Versammlungen der Schriftsteller, wo wir uns hin und wieder trafen, spürte ich in meiner Einsamkeit die seine. Er praktizierte vehement das, was er die List der Wahrheit nannte: zitierte lange Passagen aus den Werken von Marx und Engels, durch die er unausgesprochen darauf hinwies, wie wenig ihre selbst ernannten Nachfolger mit den „Klassikern“ gemein hatten. Man hörte ihm spöttisch und gelangweilt zu. Den meisten galt er einfach nur als alter Mann, der sich gern reden hörte. Die Zeiten hatten sich geändert. Die Ohren der Mächtigen wie der Unterdrückten waren vom Lärm der Fanfaren und Trommeln taub geworden.
Während die einen Schriftsteller Ergebenheitserklärungen für Staat und Regierung verfassten, verließen die anderen das Land oder wurden zum Verlassen gezwungen. Ich stimmte Jurek Becker zu, der gesagt hatte: „Ich will in diesem Land bleiben als jemand, der das veröffentlichen kann, was er schreibt, denn auf die Dauer ist das für einen Schriftsteller die einzige praktikable Methode sich einzumischen. Wenn es allerdings darum geht, den Mund zu halten, dann halte ich den Mund lieber auf den Bahamas.“
Aber ich war weder bekannt noch vermögend genug, um mein Schweigen auf den Bahamas praktizieren zu können. Ich konnte auch nicht für die Wahrheit ins Gefängnis gehen wie Rudolf Bahro und andere Autoren. Nicht nur, weil die Kinder mich brauchten, sondern weil ich meine Wahrheit erst noch herausfinden musste. Ich bewunderte die Frauen und Männer von der Charta 77 in Prag: die Polen, die aus Solidarität mit ihnen in den Hungerstreik traten; den mutigen Kampf des russischen Bürgerrechtlers Andrej Sacharow. Mein Herz war mit jenen, die auf alle nur erdenkliche Weise die Staatsgrenze zu überwinden suchten – mit Heißluftballon, Flößen auf der Ostsee, im Kofferraum von Autos oder einfach nur zu Fuß. Besonders erschütterte mich das Schicksal des jungen Monteurs Dieter K. 1973 war der Neunzehnjährige nach Westberlin geflüchtet. Zwei Jahre später verhaftete man ihn bei einem Besuch in Ostberlin und verurteilte ihn wegen Republikflucht zu drei Jahren Gefängnis, aus dem er von den westdeutschen Behörden freigekauft wurde. Der junge Mann maß seiner Sicherheit weniger Wert bei als der Freizügigkeit des Reisens. Es zog ihn bald wieder nach Ostberlin, wo er die drei Jahre ältere Kranfahrerin Marlies M. kennenlernte und sich in sie verliebte. Ihre Hoffnung auf den im Behördendeutsch so genannten Tatbestand der Familienzusammenführung erfüllte sich nicht, obwohl Dieter K. deshalb dreimal ans Innenministerium der DDR und auch an Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb. Dieter K. durfte nicht mehr in die DDR einreisen. Mit seiner Braut und derem fünfjährigen Sohn traf er sich im Januar 1977 in Polen. Ein zweites Zusammentreffen im Februar vereitelten die Behörden, indem sie Dieter K. aus dem Zug holten und nach Westberlin zurückschic...
Inhaltsverzeichnis
- Impressum
- I. Teil
- Zwischenspiel
- II. Teil
- III. Teil
- Epilog
- Sigrid Grabner
- E-Books von Sigrid Grabner