1. Die »krummen Wege« des Bundeskanzlers
Obgleich publizistische Beobachter und politische Gegner durchaus argwöhnten, der Bundeskanzler ziehe bei der Festigung seiner Macht aus der Präsenz des Auslandsnachrichtendienstes in der Innenpolitik größeren Nutzen als aus dessen außenpolitischer Berichterstattung, waren sie niemals in der Lage, ihren Verdacht zu erhärten. Der Zeitgeschichtsforschung erging es nicht anders. Umso bemerkenswerter ist ein Hinweis von Hans-Peter Schwarz in seiner Biografie Konrad Adenauers, wo er beiläufig davon spricht, BND-Präsident Reinhard Gehlen sei eine »langjährige, wenn auch unsichtbare Säule seiner Herrschaft« gewesen.
Das ist richtig gesehen und treffend gesagt, doch an keiner Stelle seines umfangreichen Werks zur Geschichte des christdemokratischen Gründungskanzlers und seiner Zeit vertiefte Schwarz diese Erkenntnis. Offenbar ahnte oder wusste er mehr, als er aus den Akten belegen konnte oder sagen wollte. Wie dem auch sei, dieses Kapitel führt nun noch tiefer in die politische Inlandsspionage des BND und ihre innen- und parteipolitische Instrumentalisierung hinein. So umfassend und detailliert wie möglich und nötig beschreibt es den Machtmissbrauch, den der Bundeskanzler und CDU-Vorsitzende, sein Kanzleramtschef und der BND-Präsident gemeinschaftlich einfädelten und ein Jahrzehnt lang unerkannt aufrechterhielten.
Im Herbst 1953, nach einem streckenweise wilden Bundestagswahlkampf, in dem Konrad Adenauer die Sozialdemokratie nicht weit hinter dem Feindbild des Kommunismus rangieren ließ, hatten die Bundesbürger die Unionsparteien mit einem starken Mandat für die zweite Legislaturperiode ausgestattet. 1949 noch in etwa gleichauf mit der SPD, legten CDU/CSU zwischen sich und die Opposition nun einen Abstand von 16 Prozent der Wählerstimmen und 92 Mandaten. Dieser überwältigende Erfolg ging zuallererst auf das Konto des Bundeskanzlers. Man sprach von »Adenauer-Wahlen«. Dieses historische Votum markierte den eigentlichen Beginn der Ära Adenauer, den Auftakt zu einem Jahrzehnt bürgerlich-konservativer Dominanz, in dem sich die SPD kaum noch Chancen auf das Palais Schaumburg ausrechnen konnte.
Die schwere Niederlage der Sozialdemokratie führte im Bundeskanzleramt allerdings nicht zu einem nachlassenden Interesse an der gedemütigten Opposition. Im Gegenteil, der »neugierige, ja nachrichtenhungrige« Adenauer und Staatssekretär Globke bedienten sich jetzt noch intensiver der weit jenseits des Verfassungsrahmens angesiedelten geheimen Dienste der Organisation Gehlen. Der »Doktor« und seine Vertrauten im Führungskreis sahen in der SPD seit jeher eine Gefahr für Deutschland und gingen darin mit dem Bundeskanzler völlig konform. In der ersten Sitzung des CDU-Bundesvorstands nach seinem großen Sieg ging Adenauer auf die bevorstehenden Landtagswahlen in Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen ein, bei denen man neuerlich der SPD gegenüberstehe: »Ich betrachte es als eine wesentliche Aufgabe gerade unserer Partei, dass wir gegen den Sozialismus angehen; denn der Sozialismus, namentlich in der noch stark theoretischen Form wie in Deutschland, hat ungefähr alle Länder, in denen er die Mehrheit hatte, ruiniert«; Großbritannien und Schweden etwa: »Wenn die Sozialisten, die sich nach ihrer Anschauung nicht damit abfinden können, dass alle leben wollen und dass Freiheit in der Wirtschaft bestehen soll, an die Macht kommen, dann liegt es in der Natur der Sache, dass die Kräfte ausgeschaltet werden, die notwendig sind, damit alles gesund bleibt und fortschreitet.«
Die ganze zweite Legislaturperiode hindurch blieb der Kanzler bei dieser Grundmelodie mit ihren beiden immer gleichen Grundtönen: innenpolitischer Ruin durch sozialistische Experimente; außenpolitische Katastrophe durch die Abkehr vom Westen. Anfang 1956, als er (wie immer) betonte, die nächste Bundestagswahl sei die entscheidende, sagte er im CDU-Bundesvorstand: »Wenn die nächste Wahl verlorengehen und die Sozialdemokratie an die Führung kommen sollte, dann werden nach meiner festen Überzeugung der wirtschaftliche Wohlstand und die außenpolitischen Errungenschaften, die wir haben, in kürzester Zeit verspielt werden. Dann wird das Wort von Finis Germaniae Wahrheit, weil wir dann in kurzer Zeit ein sowjetrussischer Satellitenstaat irgendeiner Art werden würden […] Denken Sie daran, dass wir Deutsche – und unter den Deutschen unsere Partei – doch der Damm sind, der das westliche Europa und somit auch die übrigen Teile des nördlichen Europas allein noch schützen kann vor der kommunistischen Flut.«
Auch wenn der CDU-Vorsitzende diese Einschätzung der Sozialdemokratie immer geschickt und mitunter perfide zu instrumentalisieren verstand, so entsprach sie doch seiner inneren Überzeugung. An seine Mitstreiter im Bundesvorstand wandte er sich etwa mit den Worten, man stehe in einem »Kampf um Deutschland. Ich fasse den Wahlkampf 1957 bei weitem nicht in erster Linie auf als einen Kampf für unsere Partei […] Lebten wir in normalen Zeiten, Gott, man würde sich nicht den Kopf abreißen, wenn nun einmal die Opposition siegte und zeigen müsste, was sie denn nun wirklich leisten kann, aber bei dieser Lage in der Welt, in Europa und in Deutschland würde ein Sieg der Sozialdemokratischen Partei im Jahre 1957 nach unserer tiefsten Überzeugung für Deutschland, für Europa und für die Welt geradezu eine Katastrophe bedeuten.« Bekomme die Sozialdemokratie Einfluss auf die Politik der Bundesregierung, »dann ist es zu Ende mit der Freiheit des deutschen Volkes«. Bald prophezeite Adenauer öffentlich, ein Sieg der SPD bedeute den »Untergang Deutschlands«.
Vier Jahre später versuchte der Bundeskanzler, die Kampfeslust seiner Parteifreunde mit ähnlichen Attacken anzustacheln. Allein die absolute Mehrheit der CDU könne »Deutschland retten«. Zuvor war Adenauer noch deutlicher geworden: »Dass die SPD unser Feind ist, sehen wir doch immer wieder«, rief er in einer Vorstandssitzung aus. »Sagen wir doch ruhig: Unser Feind. Was würden die mit uns Schlitten fahren. Wir wollen sie nicht totschlagen, wir wollen nur dafür sorgen, dass sie keinen Unsinn machen.« Hans Globke, der die geheimen Kanzler-Orientierungen des BND über Jahre in Empfang nahm, sichtete und an den Bundeskanzler weiterleitete, dachte genauso. Allen W. Dulles, der Direktor der CIA, hatte schon in den Tagen, als aus seinem deutschen Apparat der offizielle Auslandsnachrichtendienst wurde, von seinen Experten die lapidare Erläuterung erhalten, für den enorm einflussreichen Chef des Bundeskanzleramts sei die Opposition schlicht der »Feind«.
Wie im ersten Band dargetan, hatte der Gehlen-Dienst seine Beobachtung der SPD bereits nach dem Tod des charismatischen Parteiführers Kurt Schumacher im Jahr 1952 ausgeweitet und sie nach den »Adenauer-Wahlen« um ein Vielfaches verstärkt. Pullach vermochte das Kanzleramt denn auch sogleich mit einer Reihe interner Dokumente zu versorgen, aus denen abzulesen war, wie die SPD-Führung den Schock der Niederlage zu verarbeiten versuchte. Das waren Beschaffungserfolge, die weit über frühere Anstrengungen des Gehlen-Dienstes hinausgingen, als man zwar eine Fülle von Gerüchten und Einzelinformatinen, aber noch kaum Interna aus der sozialdemokratischen Führungsspitze um Erich Ollenhauer beisteuern konnte. Selbstverständlich waren derart delikate Operationen in einer der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Demokratie ein sehr gefährliches Unterfangen. Würde die nachrichtendienstliche Ausforschung der Oppositionsführung, noch dazu in Partnerschaft mit der Regierungsspitze, ruchbar werden, zöge eine solche Enthüllung, das litt keinen Zweifel, einen gewaltigen politischen Skandal und die offene Feindschaft einer gegenüber dem Gehlen-Apparat ohnedies misstrauischen Sozialdemokratie nach sich.
Gehlen startete diese hochgeheime, ungefähr zehn Jahre währende Großoperation ungeachtet der Tatsache, dass die Verwirklichung seines Hauptziels – die Übernahme des Pullacher Apparats in die Bundesverwaltung – gegen den Widerstand der Opposition kaum zu erreichen sein würde. Der General a. D. verfolgte daher eine Doppelstrategie: Er betrieb die rücksichtslose Ausforschung der SPD-Führung und bemühte sich zugleich darum, bei der sozialdemokratischen Parteiführung gut Wetter zu machen, um auch sie für die »Legalisierung« seiner Organisation zu gewinnen. Zudem bestand trotz der Dominanz der Adenauer-CDU eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass aus der gegenwärtigen Oppositionspartei eines Tages eine Regierungspartei oder wenigstens eine Koalitionspartei werden würde. Die Doppelgleisigkeit von geheimer Ausforschung und offizieller Annäherung bestimmte Pullachs Strategie die ganzen fünfziger Jahre über. Bei der Analyse dieses Machtmissbrauchs musste (noch eingehender, als es der Leser schon gewohnt ist) jedes einschlägige Aktenstück innerhalb und außerhalb des BND zweimal in die Hand genommen und jedes Blatt dreimal gewendet werden, das versteht sich.
Konrad Adenauer hielt intern nicht damit hinter dem Berg, ausnehmend gut über das Innenleben der SPD-Führung Bescheid zu wissen. Nachdem er seine Parteifreunde Anfang 1954 zu Beginn einer CDU-Vorstandssitzung ausdrücklich auf die »Nichtöffentlichkeit« dieser ersten Aussprache nach den Bundestagswahlen hingewiesen hatte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sein Geheimnis ein wenig zu lüften: »Wir können uns in dieser Beziehung wirklich ein Beispiel nehmen an der Disziplin der Sozialdemokratischen Partei, über deren Parteivorstandssitzungen nur mit größter Mühe auf allen möglichen krummen Wegen etwas zu erfahren ist«, sagte er laut Wortprotokoll. »Bei uns ist das gewöhnlich anders. Ich gehe die krummen Wege nicht. Ich höre nachher, was bei den krummen Wegen herausgekommen ist. Das ist doch die Hauptsache!«
Noch unvorsichtiger verhielt sich der Bundeskanzler zu Beginn des Wahljahrs 1957. Vor der CDU-Spitze sagte er: »Ich habe hier einige Notizen aus SPD-Kreisen«, und zitierte dann mehrere Passagen aus einer der vielen vertraulichen BND-Mitteilungen wörtlich – nicht ohne mit der Selbstermahnung zu schließen: »Ich muss das mit Vorsicht verlesen, damit nicht die Quelle verraten wird. Das werden Sie verstehen.« Ein Vierteljahr danach konnte der CDU-Vorsitzende vor demselben Gremium noch weniger an sich halten: »Darf ich zunächst feststellen, ob wir wirklich ganz unter uns sind und keine Fotografen und niemand uns hören kann«, eröffnete er die Aussprache: »Denn nur dann kann man ruhig und offen miteinander sprechen. Aus den Sitzungen des Parteivorstands der SPD bekommen wir ja die entsprechenden Mitteilungen (Heiterkeit). Ich sähe es wirklich nicht gern, wenn das vice versa ebenso geschähe.«