200 Jahre deutsche Geschichte entlang einer Straße
Die Chausseestraße in Mitte gehört nicht zu den berühmten Adressen Berlins. Doch sie steht exemplarisch für das Wachsen der Metropole, für Brüche, Katastrophen, Neuanfänge und die Vielfalt der Stadt. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Gegend wegen der vielen qualmenden Schlote Feuerland genannt. Auf dem Französischen und dem Dorotheenstädtischen Friedhof fanden prominente Berliner ihre letzte Ruhe. Gleich nebenan liegt das Wohnhaus von Helene Weigel und Bertolt Brecht. Einige Blocks weiter zieht sich das monumentale BND-Gebäude hin, das wiederum auf historischem Boden steht. Und kurz vor dem Ende der 1,7 Kilometer langen Straße endete bis vor 30 Jahren Ost-Berlin. Holger Schmale erzählt anhand dieser Straße den Weg der Stadt durch zwei Jahrhunderte und fünf Gesellschaftssysteme. Er bündelt Lebenswelten und Schicksale wie unter einem Brennglas.
Mit prominenten Zeitgenoss:innen wie August Borsig, Werner von Siemens und Ernst Schering, Theodor Fontane, Helene Weigel, Bertolt Brecht, Asta Nielsen und Wolf Biermann
Vom Borsig- und dem Biermann-Haus über den Dorotheenstädtischen Friedhof bis zur ehemaligen Mauer, dem Brecht-Haus und dem neuen BND-Komplex
Häufig gestellte Fragen
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Im »Feuerland« stand die Wiege der deutschen Schwerindustrie
Der Auftakt der Chausseestraße ist, sagen wir: lebendig. Die Friedrichstraße mündet von Süden, von Westen kommt die Hannoversche Straße, und von Osten treffen hier die Oranienburger- und die Torstraße fast zusammen. Da ist ganz schön was los, und es ist laut: eine quirlige Straßenkreuzung voller Autos, die in alle Richtungen fahren, abbiegen, beschleunigen, bremsen, sich stauen. Ein Rettungswagen braust mit Sirene und Blaulicht aus der Torstraße heran, vermutlich auf dem Weg zur Notaufnahme der Charité, deren Bettenhaus nur wenige Blocks entfernt in den Himmel ragt. Die Wagen der Straßenbahnlinien M 5 und 12 rumpeln in Richtung Hohenschönhausen und Weißensee oder Zingster Straße beziehungsweise Kupfergraben über die Kreuzung, dazu Busse in Richtung Hauptbahnhof und Ostbahnhof oder Wedding und Wittenau. Eine unwirtliche Verkehrsinsel mit ein paar Verteilerkästen und Kabelmasten lädt allenfalls zum Abstellen von Fahrrädern und E-Rollern unter einer Normaluhr ein. Wer jedoch das Großstadtgewimmel mag, der ist hier richtig.
Quirlig ging es hier auch schon vor 180 Jahren zu, als jenseits des Oranienburger Tors und der Akzisemauer »Feuerland« begann, das Zentrum der frühen deutschen Schwerindustrie. Eine unauffällige, dunkelgraue Metallplatte an der Fassade des großen Eckhauses Chausseestraße 1 erinnert an den Mann, der die Gegend wie kaum ein anderer für Jahrzehnte prägte. »August Borsig (1804 – 1854) gründete 1837 auf diesem Gelände eine der bedeutendsten Maschinenfabriken Deutschlands und gab damals der industriellen Revolution einen wichtigen Impuls«, heißt es dort. Das ist sehr zurückhaltend formuliert. Der auf Berlin-Geschichte spezialisierte Historiker Hanno Hochmuth stellt die Gegend in eine größere Dimension: »Es gab damals ein Viertel in Berlin, das so etwas war wie heute Silicon Valley in San Francisco, wo sich die frühe Industrie richtig geballt angesiedelt hatte: Man nannte es Feuerland.«
August Borsig – Prototyp des neuen Unternehmers
August Borsig war die Leitfigur des industriellen Aufschwungs und Unternehmertums in Preußen um die Mitte des 19. Jahrhunderts – »ideenreich, von Fortschritt und Technik fasziniert, energiegeladen, risikofreudig und zielstrebig«, so beschreibt seine Biografin Ulla Galm den ehemaligen Zimmermannsgesellen aus Breslau. Er kam 1823 im Alter von 19 Jahren nach Berlin, um hier mit einem Stipendium seiner Heimatstadt ein Studium an der Königlich-Technischen Gewerbeschule, gegründet und geleitet von dem Ministerialbeamten Christian Peter Wilhelm Beuth, aufzunehmen. Hier wurden auf Staatskosten junge Ingenieure ausgebildet, die sich verpflichten mussten, nach dem Studium eigene Unternehmen zu gründen. Dies war Teil der fortschrittlichen Industriepolitik Preußens, die vor allem im Auge hatte, zum Konkurrenten England zumindest aufzuschließen.
Der Name Beuth spielt fast 200 Jahre später, 2019 /20, noch einmal eine größere Rolle in den geschichtspolitischen Debatten Berlins. Die Technische Fachhochschule hat sich 2009 seinen Namen gegeben, um sich in die Tradition des »Vaters der angewandten Ingenieurwissenschaften« zu stellen. Zehn Jahre später stieß man auf antisemitische Positionen und Handlungen Beuths, wie sie im deutschen Bürgertum jener Jahre gang und gäbe gewesen waren. Die Hochschule entschloss sich nach kontroverser öffentlicher Debatte, den Namen zum 1. Oktober 2021 abzulegen und heißt fortan Berliner Hochschule für Technik (BHT).
August Borsig entwickelte sich zu einem Meisterschüler Beuths, auch wenn er die Schule nicht beendete, sondern sich schon vorher in die Arbeitswelt aufmachte. Er war auf die Neue Berliner Eisengießerei von Franz Anton Egells gestoßen, den ersten Maschinenbaubetrieb an der Chausseestraße. Egells konstruierte mit staatlicher Unterstützung Maschinen aller Art, darunter versuchsweise die ersten Lokomotiven. In den Augen Beuths und der preußischen Regierung war er der Prototyp des privaten Unternehmers und sollte die wirtschaftliche Entwicklung Preußens vorantreiben.
Für den jungen Borsig war das Zusammentreffen mit Egells ein Glücksfall. Der Chef erkannte das konstruktive Talent und den Erfindungsreichtum Borsigs und ließ ihn an wichtigen Projekten, wie einer großen Dampfmaschine für eine schlesische Spinnerei, mitwirken. Nach zwei Jahren wurde Borsig Betriebsleiter bei Egells, arbeitete aber gleichzeitig zielstrebig auf seine Selbstständigkeit hin, wie seine Biografin Ulla Galm es schildert. So begann er, in der unmittelbaren Nachbarschaft Land aufzukaufen. Zu jener Zeit war die Gegend vor dem Oranienburger Tor noch ländlich geprägt mit Gärten, Äckern und Wiesen. Vorausschauende Zeitgenossen wie der Tierarzt Franz Bitter hatten hier schon früh Grundstücke als Spekulationsobjekte erworben. Von ihm kaufte Borsig 1836 die Parzellen Torstraße 46 bis 53 und Chausseestraße 1, die er zum Betriebsgelände für seine eigene 1837 gegründete Eisengießerei und Maschinenbauanstalt August Borsig zusammenfasste – in unmittelbarer Nachbarschaft von Egells’ Unternehmen.
Der erste Auftrag belief sich auf 116 200 Schrauben für den Bau von Gleisanlagen der Berlin-Potsdamer Bahn. Dieser hatte fast Symbolcharakter, denn das nun auch in Deutschland aufblühende Eisenbahnwesen erwies sich als Motor für die Entwicklung der Firma Borsig. Die ersten Lokomotiven für den preußischen Bahnbetrieb kamen aus England und den USA. Doch die Hersteller schickten kein Wartungspersonal für die störanfälligen Maschinen mit. Das war die Chance für den Tüftler Borsig. Er reparierte die Lokomotiven und studierte dabei genau deren Konstruktionsweise. So entdeckte er ihre Schwächen, entwickelte bessere Lösungen zum Beispiel für eine weitere Laufachse und ließ sie sich patentieren. Sein Ziel war der Bau einer eigenen Lokomotive – 1841 war die erste »Borsig« fertig.
Eduard Biermanns Gemälde »Borsig’s Maschinenbauanstalt zu Berlin«, 1847 von August Borsig in Auftrag gegeben
Am 24. Juli 1841 erzielte er den entscheidenden Durchbruch für seine Firma. Auf der neu eröffneten Strecke vom Anhalter Bahnhof in Berlin nach Jüterbog in Brandenburg wurde eine Wettfahrt zwischen einer englischen Stephenson- und der Borsig-Lokomotive organisiert. Der Sieg war eindeutig: Die deutsche Lokomotive benötigte für die gut 60 Kilometer lange Strecke zehn Minuten weniger als die englische. Von nun an konzentrierte sich Borsigs Unternehmen auf die Produktion von Lokomotiven. 1847 verließ die 100. dampfbetriebene Zugmaschine das Werk an der Chausseestraße. August Borsig richtete für seine Belegschaft aus diesem Anlass ein Fest aus und erwies sich auch damit als ein seiner Zeit vorausdenkender Unternehmer. Mit dem Fest wollte er zum einen die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Werk, der Marke und ihrem Besitzer fördern. Borsig spürte die heraufziehenden unruhigen Zeiten, die ein Jahr später, 1848, revolutionäre Kraft entwickelten. Da war die Loyalität der eigenen Arbeiterschaft ein wertvolles Gut. Zum anderen dienten die Zeitungsberichte über das für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Ereignis der Werbung für das Unternehmen, das sich in den folgenden Jahrzehnten zu einem der weltweit führenden Hersteller von Lokomotiven entwickelte.
August Borsig war zu dieser Zeit ein in der preußischen Hauptstadt gefragter und gut vernetzter Mann mit besten Beziehungen zum Königshaus, wohl bekannt mit anderen Größen jener Zeit, wie dem Generaldirektor der königlichen Gärten Peter Joseph Lenné, dem Naturforscher Alexander von Humboldt und dem Schinkel-Schüler Johann Heinrich Strack. Strack entwarf die ersten Fabrikgebäude für Borsig mit dem damals berühmten achteckigen Uhr- und Wasserturm und den eleganten Kolonnaden zur Chausseestraße. Diese Verbindungen trugen dazu bei, dass Borsig den Auftrag zum Bau des Pumpwerks für die Bewässerungsanlagen und vor allem die großen Fontänen im Park des Potsdamer Schlosses Sanssouci erhielt, die bis dahin nicht wie gewünscht funktioniert hatten. In der Folge dieses erfolgreichen Projekts erteilte das Königshaus ihm auch den prestigeträchtigen Auftrag für die Stahlkonstruktion der Kuppel des Berliner Stadtschlosses, deren Replik seit 2020 das neu errichtete Humboldt Forum auf dem Schlossplatz krönt. Die Kuppeln der Nikolaikirche in Potsdam und des Neuen Museums in Berlin ruhten ebenfalls auf Stahlkonstruktionen aus dem Hause Borsig.
Eduard Biermanns Gemälde der Borsigwerke hängt im Märkischen Museum. Es zeigt den Betrieb auf dem Borsigschen Fabrikgelände. Die weithin sichtbare Uhr auf dem Wasserturm im Zentrum bestimmt den Takt. Pünktlichkeit und Disziplin sind wichtige Merkmale der industriellen Massenproduktion. Im Zentrum steht die Gießhalle mit ihren beiden Schornsteinen. Rechts zeigt Biermann ein Pferdegespann, das eine Lokomotive aus der Montagehalle zieht – Sinnbild der Dynamik und ein entscheidendes Produkt der Zukunft.
Den Blick über die Fabrik, wie er durch die Terrasse der Borsig-Villa rechts vorn im Bild suggeriert wird, hat es nie gegeben. Zu jener Zeit wurde die Villa gerade erst gebaut – im drei Kilometer entfernten Moabit. »Durch diesen kleinen Montagetrick holt Biermann aber nicht nur ein Stück ländlicher Idylle in die für die Berliner noch gewöhnungsbedürftige Industrielandschaft; er macht auch den wirtschaftlichen Erfolg und privaten Reichtum des Unternehmers Borsig deutlich. Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Borsigwerke der größte Lokomotivproduzent des europäischen Kontinents«, heißt es in der Erläuterung des Gemäldes durch das Märkische Museum.
Vor der Akzisemauer
Die Chausseestraße nahm derweil immer mehr den Charakter einer Industrielandschaft an, denn Egells und Borsig zogen weitere Betriebe nach. Angesichts des Feuerscheins der vielen Essen und der qualmenden Schlote prägte der Berliner Volksmund den Begriff Feuerland für die Gegend. Der Schriftsteller Heinrich Seidel beschrieb die Straße in seinem 1882 erschienenen Roman Leberecht Hühnchen so: »Vom Oranienburger Tore aus reihte sich an ihrer rechten Seite eine große Maschinenfabrik an die andere in fast ununterbrochener Reihenfolge. Den Reigen eröffnete die weltberühmte Lokomotivfabrik von Borsig mit den von Strack erbauten schönen Säulengängen, dann folgten Egells, Pflug, Schwartzkopff, Wöhlert und viele andere von geringerem Umfang. In den Straßenlärm hinein tönte überall schallendes Geräusch, und das dumpfe Pochen mächtiger Dampfhämmer erschütterte weithin den Boden, daß in den Wohnhäusern gegenüber die Fußböden zitterten, die Gläser klirrten und die Lampenkugeln klapperten. Zu gewissen Stunden war die Straße ein Flußbett mächtiger Ströme von schwärzlichen Arbeitern, die aus all den Fabriktoren in sie einmündeten.«
Seidel wusste, wovon er schrieb, denn als junger Ingenieur hatte er selbst in einer dieser Fabriken gearbeitet. Doch zu der Zeit, als sein Buch erschien, neigte sich die Ära der Schwerindustrie in der Chausseestraße schon ihrem Ende zu. Im Laufe der 1870er-Jahre erwiesen sich die Platzverhältnisse für die expandierenden Werke als zu eng. Die Fabriken zogen um an die neuen Ränder der wachsenden Stadt, erst nach Moabit, später nach Tegel. Ende des 19. Jahrhunderts ließen die Nachfahren des Firmengründers nordöstlich des Tegeler Sees weitläufige Fabrikanlagen sowie dazugehörige Werkswohnungen für die Mitarbeiter errichten. Das Viertel trägt bis heute den Namen Borsigwalde, und die dort gelegene U-Bahnstation heißt Borsigwerke.
Zu August Borsigs Zeiten stellte die Akzisemauer noch ein erhebliches Hindernis für die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern dar. Sie diente nach ihrem Bau in den Jahren 1734 bis 1737 anders als ihre Vorgänger nicht der militärischen Verteidigung Berlins, sondern in erster Linie dem Eintreiben von Zöllen, der Akzise, auf eingeführte Waren an den 17 Land- und drei Wassertoren. Doch es gab auch weitere Funktionen, so erschwerte die Mauer die Desertion von Soldaten der Berliner Garnison und beschränkte die Mobilität der Juden. Diese durften lange Zeit im Norden allein das Rosenthaler und das Prenzlauer Tor und im Süden das Hallesche Tor passieren und wurden dort registriert. Als die Stadt jedoch wie an der Chausseestraße immer weiter wuchs und das Stadtgebiet schon 1840 mehr als das Doppelte des von der 16 Kilometer langen Mauer umgebenen Gebietes umfasste, wurde sie sinnlos und in den Jahren 1867 bis 1870 abgerissen.
Ähnlich wie beim Fall der Berliner Mauer etwa 120 Jahre später geschah das so gründlich, dass es kaum noch Spuren gibt. Einzig an der Hannoverschen Straße 9, ganz in der Nähe der Chausseestraße, ist ein 40 Meter langer Originalabschnitt denkmalgerecht erhalten und in einen Neubau integriert worden. Dieser – von Karl-Friedrich Schinkel 1834 entworfene – Überrest besitzt in den Augen des Berliner Denkmalamtes einen außerordentlichen Zeugniswert für die Lage und das Aussehen der einstigen Zollmauer. Das besonders prächtige und geschichtsträchtige Brandenburger Tor ist als einziges erhalten. Von einigen anderen künden bis heute Straßen- und Ortsnamen wie das Kottbusser oder das Oranienburger Tor. Als Letzteres 1867 abgebrochen wurde, griff August Borsigs Sohn Albert zu: Er sicherte sich zwei große von Carl von Gontard geschaffene Sandsteinfiguren aus dem Schmuck des Tors, das schräg gegenüber den Borsigwerken stand, und ließ sie auf die Ziegelpfeiler an der Zufahrt zu seinem gerade erworbenen Gut in Groß Behnitz im Havelland setzen – wo sie bis heute zu bewundern sind.
Neues Leben in alten Höfen
An der Chausseestraße findet man nur noch wenige Überbleibsel ihrer industriellen Vergangenheit. Mit dem Abzug der Fabriken geriet sie zunehmend in das Visier von Spekulanten wie dem Grafen Henry von Pourtalès, der gezielt brachliegende Grundstücke aufkaufte, sie für den Bau von Wohnhäusern neu parzellieren ließ und mit hohem Gewinn an Investoren und Bauunternehmer verkaufte. Das Borsiggelände erwarb 1878 die Magdeburger Bau- und Creditbank, die dort viergeschossige Mietshäuser mit mehreren Höfen und Hinterhäusern errichten ließ, in die zum Teil die alten Industriebauten einbezogen wurden. Manches davon ist erhalten.
Sehr gut bewahrt, sorgfältig saniert und zeitgemäß genutzt sind die einstigen Fabrikanlagen, die sich hinter dem auffälligen Neubau an der Chausseestraße 8 verbergen. Von der Straße aus kann man schon einen Ausschnitt davon wahrnehmen. Die offene Durchfahrt gewährt die Sicht auf einen engen Hinterhof mit einem Wohnhaus und dann weiter auf eine Klinkerfassade, die zu einem Gebäudeensemble gehört, in dem der westfälische Ingenieur Franz Anton Egells, der spätere Förderer Borsigs, ab 1821 seine Eisengießerei und Maschinenfabrik betrieb. Der langgestreckte Hof reicht bis zur Novalisstraße, hier gibt es einen weiteren Eingang mit der Hausnummer 11. Auf dem damals dazugehörigen Nebengrundstück, heute Nummer 10, das keinen Zugang zur Chausseestraße mehr besitzt, steht ein zweistöckiger Ziegelbau mit einer Gedenktafel: »Einzig erhaltenes Gebäude der Maschinenbauanstalt Egells, die hier von 1821 – 1886 bestand. Die Geburtsstätte der Deutschen Maschinenbauindustrie«. Das Gebäude ist heute Sitz mehrerer kleiner Unternehmen.
Die eigentliche Attraktion jedoch stellt das alte Fabrikgebäude nebenan dar, das letzte erhaltene große Industriebauwerk aus der Feuerland-Zeit. Es wurde 1823 im Auftrag Egells’ für seine Eisengießerei errichtet, 1825 nahm Borsig seine Arbeit für Egells auf. In diese Zeit fällt die Konstruktion der ersten Lokomotiven, heute wird das Gebäude als Alte Lokfabrik vermarktet. Es verfügte ursprünglich über vier Fabriketagen von jeweils 1500 Quadratmetern Grundfläche mit großflächigen Fenstern und einem Dachgeschoss. Während der Sanierung von 1996 bis 1998 setzten die Architekten darauf ein neues, gestaffeltes Dachgeschoss mit acht Penthouse-Wohnungen. Diese sind von der Straße aus kaum zu sehen, weil rundum eine Galerie verläuft und die komplett verglasten Seitenwände schräg nach innen geneigt sind. Zu jeder Wohnung gehört ein Dachgarten mit einer 60 Zentimeter hohen Erdschicht. Darauf ruhen einige mächtige Findlinge aus Brandenburg, die mit einem Kran in die Höhe bugsiert worden sind. Die darunter liegenden ehemaligen Fabriketagen werden heute von Unternehmen der Werbe- und Medienbranche genutzt, hier hatte auch die Agentur Scholz & Friends in den 1990er-Jahren ihr erstes Berliner Domizil.
So gelungen die Sanierung der Hofgebäude wirkt, so besonders erscheint auch der Neubau an der Chausseestraße 8, dessen Vorgänger im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war. Seither klaffte dort eine Baulücke, in die kurz vor der Jahrtausendwende ein schmales, sieben Etagen hohes Gebäude gesetzt wurde, das sich deutlich von den um das Jahr 1900 entstandenen verputzten Steinbauten links und rechts abhebt. Die Fassade verbirgt sich hinter einer filigranen Verkleidung aus Lärchenholzlamellen. Vor den Fenstern lassen sich diese mittels Stahlse...
Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Halbtitel
Titelseite
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 »Mächtige Ströme von schwärzlichen Arbeitern«. Im »Feuerland« stand die Wiege der deutschen Schwerindustrie
2 »Warte nicht auf bessre Zeiten«. Das Biermann-Haus, ein Knotenpunkt deutscher Geschichte
3 »Wer kann Auskunft geben?«. Das Ende jüdischen Lebens in der Chausseestraße
4 »Da liegt allerhand große Leute«. Die berühmten Friedhöfe
5 »Sie kommen in Rabenschwärmen«. Zu Hause bei Brecht und Weigel
6 »Zumindest war mal einer hier«. Totengedenken im Grenzgebiet
7 »Das war unsere Strecke«. Das Leben im westlichsten Zipfel Ost-Berlins
8 »Vor der Kaserne …«. Der spezielle Standort des BND
9 »Das heißt Wille und Tat«. Immer wieder Aufruhr (1848, 1918, 1933, 1953)
10 »Das schönste aller Dinge …«. Theater, Amüsiertempel und ein Drei-Sterne-Restaurant
11 »Die Glühlampe hielt triumphalen Einzug«. Start-ups gab es hier schon vor 140 Jahren
12 »In bester Lage …«. Wie die Chausseestraße sich verändert hat