1. Akteur wider Willen?
Die Treuhandanstalt war in ihrem Ursprung eine ostdeutsche Erfindung. Die von Vertretern der Opposition unterbreiteten Vorschläge am Runden Tisch vom Februar 1990 zielten nicht auf einen radikalen Wechsel des ökonomischen Systems. Eine ökonomische Schocktherapie stand Anfang des Jahres 1990 nicht auf der Agenda ostdeutscher Oppositionsbewegungen. Die Akteure der DDR-Bürgerrechtsbewegung beabsichtigten eine Verteidigung des »Volkseigentums« gegen die Partikularinteressen einzelner Parteikader. Sie befürchteten, dass Funktionäre des Systems die Auflösungserscheinungen der alten Ordnung nutzen könnten, um sich selbst Vermögensgegenstände anzueignen. Dass diese Sorge begründet war, zeigten die Entwicklungen in ehemaligen staatssozialistischen Ländern nach 1989. In einzelnen Ländern wie der ehemaligen Ungarischen Volksrepublik haben sich hierfür spezifische Euphemismen etabliert wie der Begriff der »spontanen Privatisierung«. Der ökonomische Fachausdruck lautet asset stripping.
Eine derartige Argumentation setzte voraus, dass es sich beim »Volkseigentum« um tatsächliche Vermögensgegenstände handelte, mit deren Verkauf und/oder Weiternutzung sich ein positiver ökonomischer Ertrag generieren ließ. In den Vorstellungen der Befürworter der Treuhand-Idee sollten in Form einer »Coupon-Privatisierung« Anteilsscheine am Volkseigentum gleichmäßig unter der Bevölkerung verteilt werden. Die Modrow-Regierung griff diese Ideen auf und beschloss noch vor der Volkskammerwahl im März 1990 die Gründung der Treuhandanstalt. Zum ersten Vorsitzenden des Direktoriums der Treuhandanstalt wurde Peter Moreth ernannt, Mitglied der LDPD und stellvertretender Ministerpräsident der DDR. Neben der »Wahrung des Volksvermögens« bestand die Hauptaufgabe der am 1. März 1990 gegründeten Ur-Treuhand in der Entflechtung der Kombinate und in deren Umwandlung in Kapitalgesellschaften. Die Schätzungen über den Wert des Volksvermögens gingen im Frühjahr 1990 weit auseinander und lagen zwischen mehreren Hundert Milliarden und über einer Billion DM.
Mit dem Ausgang der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 waren die Zeichen auf eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Einführung der sozialen Marktwirtschaft in Ostdeutschland gestellt. Hierdurch musste sich auch der Charakter der Treuhandanstalt ändern. Der Schwerpunkt verlagerte sich von der Bewahrung des Volkseigentums zur raschen Privatisierung, um eine Angleichung der Wirtschaftsstruktur der DDR an die westdeutsche zu gewährleisten. In diesem Zusammenhang sind die eingangs zitierten Äußerungen Günter Nookes (Bündnis 90) während der ersten Lesung des Treuhandgesetzes am 7. Juni 1990 zu sehen. Nooke, der sich in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung der DDR sah, gehörte zu den schärfsten Kritikern des Treuhandgesetzes, das in seinen Augen eine Privatisierungsbehörde in den Händen des Bonner Finanzministers schaffen sollte. Ostdeutsche Interessen drohten bei einem solchen Szenario unterzugehen.
Nookes Schreckensvision eines Volkes »von Sozialhilfeempfängern und Angestellten« bezog sich hierbei auf das »ostdeutsche Volk«, das mangels Kapital bei einem raschen Verkauf der Vermögensgegenstände der ehemaligen DDR an die Meistbietenden leer ausgehen müsse. Interessant ist an Nookes Rede die Verknüpfung von (Staats-)Bürger und Eigentum. Implizit lassen sich hier Anklänge an die Vorstellung der harmonischen Bürgergesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts feststellen. Der von Nooke gewählte Mittelstandsbegriff orientierte sich am ökonomischen Mittelstand mit dem Ideal der selbstständigen Existenz. In der Rede Nookes vor der Volkskammer am 7. Juni findet sich auch der explizite Hinweis auf eine fehlende Mittelstandskonzeption für Ostdeutschland. Obwohl die Treuhandanstalt zu diesem Zeitpunkt noch weit davon entfernt war, Privatisierungen in der Praxis realisieren zu können, zeigten sich im Juni 1990 bereits grundlegende Konfliktlinien, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Zukunft des ostdeutschen Mittelstands haben mussten. Zu diesen Konfliktlinien gehörte zuvorderst die Frage nach dem eigentlichen Ziel der Treuhandanstalt: Sollte sie primär die Privatisierungserlöse maximieren, um hieraus die Modernisierung der Infrastruktur der DDR zu finanzieren? Oder sollte die Treuhandanstalt die Privatisierung nutzen, um nach den ursprünglichen Idealen der sozialen Marktwirtschaft einen starken Mittelstand zu schaffen und möglichst vielen DDR-Bürgern zu Eigentum zu verhelfen? Ersteres würde auf eine verdeckte Diskriminierung der ostdeutschen Bevölkerung hinauslaufen, Letzteres auf eine offene Diskriminierung westdeutscher Akteure in einem vereinigten Deutschland.
Am 1. Juli 1990 wurde das alte Direktorium der Treuhandanstalt auf Grundlage des neu erlassenen Treuhandgesetzes abgelöst. Damit hielten westliche Manager Einzug in die Führungsgremien der Treuhandanstalt und sie verlor an der Spitze zunehmend ihren ostdeutschen Charakter. Detlev Karsten Rohwedder war als Vorsitzender des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt zunächst nicht für das operative Geschäft zuständig. Diese Aufgabe oblag dem ehemaligen Bundesbahn-Manager Reiner Maria Gohlke. Nach dem frühen Abgang Gohlkes im August 1990 wurde Jens Odewald zum Vorsitzenden des Verwaltungsrats berufen, der die operative Tätigkeit der Treuhandanstalt kontrollieren sollte. Rohwedder hingegen löste Gohlke als Präsident der Treuhandanstalt ab und übernahm damit die Verantwortung für die operative Tätigkeit der Treuhandanstalt. Günter Nooke gehörte dem Verwaltungsrat von Juli bis Oktober 1990 an. Privatisierungen in nennenswertem Umfang hatten bis Juli 1990 nicht stattgefunden, die gesamte Organisation befand sich noch im Aufbau. Wie überschaubar der bürokratische Unterbau der Treuhandanstalt im Sommer 1990 noch war, wird auch an ihrem Budget deutlich, das sich von März bis Juli 1990 auf 4 Millionen Mark der DDR belaufen hatte.
Mit dem Inkrafttreten des Treuhandgesetzes am 1. Juli 1990 wurden alle noch nicht umgewandelten volkseigenen Betriebe endgültig in Kapitalgesellschaften transformiert, die meisten von ihnen in GmbHs. Inhaberin aller Gesellschaften wurde damit auch formal die Treuhandanstalt, der als »größter Industrie-Holding der Welt« die Kontrolle über 8500 Unternehmen und 45 000 Betriebsstätten mit ca. vier Millionen Beschäftigten oblag. Allein diese Zahlen lassen die Überforderung der Mitarbeiter der Treuhandanstalt erahnen. Für alle Kapitalgesellschaften mussten Bilanzen nach westlichem Vorbild erstellt werden. Die Geschäftsführer mussten Konzepte erarbeiten, wie ihr Betrieb eine Zukunft im Kapitalismus finden könnte. Die westlichen Manager, die in der Zentrale der Treuhandanstalt seit Juli 1990 tonangebend waren, hatten mit großen Kommunikationsproblemen zu kämpfen. Diese fingen bereits beim betriebswirtschaftlichen Fachvokabular an, das in West und Ost nicht deckungsgleich war.
Für den Verkauf von Vermögensgegenständen aus dem (ehemaligen) Volksvermögen der DDR war es jedoch unerlässlich, eine grobe Vorstellung vom Verkaufswert der einzelnen Unternehmen und Betriebsteile zu haben. Dies behinderte die effektive Arbeit der Treuhandanstalt in den ersten Monaten ebenso wie der Aufbau funktionierender Verwaltungsstrukturen in der Zentrale in Berlin und den Niederlassungen, die in den 15 ehemaligen Bezirksstädten der DDR entstanden und die Treuhandzentrale entlasten sollten. Der Aufbau der Niederlassungen fiel in den Kompetenzbereich Birgit Breuels, die nach der Abwahl der konservativ-liberalen Regierung in Niedersachsen im Mai 1990 ihr Amt als Finanzministerin Niedersachsens hatte abgeben müssen und in den Vorstand der Treuhandanstalt gewechselt war. Die operative Privatisierung der kleinen und mittleren Betriebe aus dem Bestand der Treuhandanstalt fiel in den Tätigkeitsbereich der Niederlassungen. In der Praxis existierte jedoch keine scharfe Trennlinie zwischen Treuhandzentrale und Niederlassungen. Abseits der gravierenden internen Probleme der Treuhandanstalt musste der Vorstand auf die akute Krise der ihm unterstellten 8500 Unternehmen reagieren, da nach der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nur noch ein Bruchteil der Unternehmen profitabel arbeitete und fast alle Unternehmen unter Liquiditätsproblemen litten. Die Notwendigkeit, kurzfristig auf existenzielle Krisen reagieren zu müssen, behinderte die Ausarbeitung von langfristigen Strategien zur aktiven Bewältigung der Aufgaben der Treuhandanstalt.
Es überrascht angesichts dieser elementaren Schwierigkeiten nicht, dass der Aufbau eines neuen Mittelstands in Ostdeutschland auf der Prioritätenliste der Treuhandanstalt schnell ins Hintertreffen geriet. Diese relative Vernachlässigung des Mittelstands lag nicht an mangelnden Absichtserklärungen. In den Unterlagen der Vorstandssitzungen befindet sich ein im Oktober 1990 verfasstes Dokument mit dem Titel »Leitlinien der Geschäftspolitik«. Hierin nimmt der Mittelstand eine bedeutende Rolle ein:
»1. Zentrale Aufgabe ist der Aufbau einer mit der Bundesrepublik vergleichbaren modernen Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen und mittleren Betrieben in den fünf neuen Bundesländern, einschließlich Berlin-Ost.
2. In Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages ist die Tätigkeit der THA darauf konzentriert,
– die unternehmerische Tätigkeit des Staates durch Privatisierung so rasch und so weit wie möglich zurückzuführen,
– die Wettbewerbsfähigkeit möglichst vieler Unternehmen herzustellen und somit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen,
– nicht sanierungs- und privatisierungsfähige Betriebe stillzulegen sowie,
– Grund und Boden für wirtschaftliche Zwecke bereitzustellen.
3. Freies Unternehmertum und privates Eigentum sind Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Zur Herbeiführung dieser wesentlichen Voraussetzungen einer modernen Wirtschaftsstruktur sieht die THA ihre vorrangige Aufgabe in der Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft, d. h. in der Überführung der inzwischen in Kapitalgesellschaften umgewandelten Betriebe in die Hände privater Eigentümer.«
Diese Leitlinien befanden sich auf der Tagesordnung der Vorstandssitzung vom 15. November 1990. Die strukturpolitischen Ziele mussten in der Praxis mit dem Ziel der Einnahmenmaximierung kollidieren. Letzteres musste auch im Interesse der Bundespolitik liegen, da jedweder Privatisierungserlös den politischen Gestaltungsspielraum der Bundesregierung erhöhen und die Belastung des (westdeutschen) Steuerzahlers mindern musste. Hiermit war ein Problem des Selbstverständnisses des Treuhand-Führungspersonals verbunden. Diese Spannung zeigte sich nicht nur an der medienwirksamen Debatte darüber, ob die Treuhandanstalt die Privatisierung des ehemaligen Volksvermögens oder vielmehr die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft priorisieren sollte. Für den Mittelstand musste die Frage präziser lauten, ob sich die Treuhandanstalt als Verkaufs- oder als Gründungsagentur verstand.
Partiell gelang es bereits in der Frühphase der Treuhandanstalt, die Privatisierung von Großunternehmen mit den mittelstandspolitischen Zielen zu verbinden. Ein Beispiel hierfür ist der Vertrag zum Verkauf des Automobilwerks Eisenach an die Adam Opel AG. In der entsprechenden Grundsatzvereinbarung der Verhandlungspartner befinden sich mehrere Mittelstandsklauseln. Mittelstandsrelevant waren folgende Passagen der Beschlussvorlage für den Vorstand der Treuhandanstalt:
»2.4 entsprechend allgemeiner Erfahrung und durchgeführter unabhängiger Studien [erwarten die Vertragspartner] eine starke Anschubwirkung für die wirtschaftliche Entwicklung, vor allem der Zulieferindustrie, mit mehreren tausend Arbeitsplätzen […].
6.1 Zur Erhaltung vorhandener Standorte des Automobilbaues wird der Aufbau einer leistungsfähigen Zulieferindustrie angestrebt. Opel wird sich bemühen, die europäische Zulieferindustrie zu einem Engagement auf dem Gebiet der neuen Bundesländer, insbesondere im thüringischen Raum zu gewinnen, soweit dies wirtschaftlich sinnvoll ist.
6.2 Opel wird darüber hinaus bemüht sein, bei allen in den neuen Bundesländern, insbesondere im Hinblick auf das neue PKW-Herstellungswerk vorzunehmenden eigenen Investitionen Betriebe aus ...