1. DIE ARBEITERKAMMERN – EINE ÖSTERREICHISCHE BESONDERHEIT
2021 – 100 Jahre Arbeiterkammer in Tirol
Kein Krieg, kein Erdbeben, keine Staatskrise. Ein winzig kleines Virus hat das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben seit über einem Jahr fast vollständig zum Erliegen gebracht. Die Zahl der Arbeitslosen ist die höchste in den letzten hundert Jahren.
In den Gründungsjahren der Arbeiterkammer war alles anders. Dem Haller Salz oder dem Erz aus Brixlegg stand nicht mehr ein Binnenmarkt von 51 Millionen Einwohnern offen und Tirol endete plötzlich am Brenner. Das neue Österreich zählte 6,5 Millionen Einwohner. Nach über vier Jahren Krieg herrschten Hunger und Elend.
Die Geschichte der Arbeiterkammer lässt sich in mehrere Phasen einteilen.
Die Vorgeschichte beginnt im Revolutionsjahr 1848, dann folgt der Beschluss des Arbeiterkammergesetzes 1920. Dann die Aufbauphase, zugleich die Zeit der Verteidigung der großen Sozialgesetze aus den Anfängen der Ersten Republik. Auf das Ende der Selbständigkeit 1934 folgt die Zerschlagung 1938.
1945 wiedererrichtet, spielt sie eine bedeutende Rolle beim Wiederaufbau und die Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft gilt als wesentlicher Grund für den Aufstieg Österreichs zu einem der wohlhabendsten Länder der Welt.
1920 – Über die „Unentbehrlichkeit“ von Arbeiterkammern
Wien, 26. Februar 1920, Parlament: Die Konstituierende Nationalversammlung der Republik Österreich tritt zu ihrer bereits 64. Sitzung zusammen.
Auf der Tagesordnung steht das Gesetz über die Errichtung von Kammern für die Arbeiter und Angestellten. Am Vortag wurde das Gesetz über die Handelskammern beschlossen, die Zustimmung zum Arbeiterkammergesetz ist zwischen den Parteien im Parlament vereinbart.
Wilhelm Scheibein (Pfeil) in der Konstituierenden Nationalversammlung. Gesetzliche Interessenvertretung bedeutet: Welche Aufgaben mit wie viel Geld und mit welcher Organisation zu erledigen sind, bestimmt das Parlament.
Seit 1848 hatte sich die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft um Arbeiterkammern bemüht, nachdem die Unternehmen durch die neuen Handelskammern vertreten wurden. Dazu gibt es in der Literaturübersicht ausführliche Beschreibungen, z.B. jene von Josef Rohringer1, Franz Borkowetz2 oder Heimo Halbrainer3.
Staatskanzler Dr. Karl Renner hatte am 11. Juli 1917 auf Seite 1 der Arbeiter-Zeitung unter dem Titel „Die Unentbehrlichkeit von Arbeiterkammern in der Übergangswirtschaft“4 die Sinnhaftigkeit von Arbeiterkammern begründet: Die „Arbeitskraft“ und vor allem die qualifizierte Facharbeit ist der wichtigste Faktor für den Wiederaufbau, verbunden mit einer auf breiter demokratischer Basis beruhenden Gesetzgebung. Es sei notwendig, dass „die Arbeiterschaft in allen Stellen der staatlichen Lokalverwaltung vollen Rechtes zur Mitgestaltung berufen wird“ und daher ist „das erste Bedürfnis … die Errichtung von Arbeiterkammern, wie sie Industrie, Handel und Gewerbe mit den Handelskammern … und die Landwirtschaft in den Landeskulturräten“ bereits seit langem besitzen.
Bemühungen um eine gesetzlich garantierte Vertretung der Arbeitnehmerinteressen bei der Ausformung von Gesetzen und gegenüber der staatlichen Verwaltung gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen Ländern, aber nur die besondere politische Konstellation in Österreich in den Nachkriegsjahren 1919/20 führte über die Beschlüsse des Handelskammergesetzes und des Arbeiterkammergesetzes zu einem System von gesetzlichen Interessenvertretungen, in welches auch andere berufliche Gruppierungen (Landwirtschaft, Ärzte, Ingenieure u. a.) einbezogen wurden.
Es ist die Zeit der jungen Republik. Die Machtverhältnisse werden neu geordnet. Adel, Klerus und deren Parteien haben an Bedeutung verloren, Bürgertum und Arbeiterschaft haben gewonnen, auf den Bauern ruht die Hoffnung, dass der Hunger endlich vorbei sein möge. Frauen waren bei der Wahl am 16. Februar 1919 erstmals wahlberechtigt, die Provisorische Nationalversammlung hatte im November 1918 beschlossen, dass alle volljährigen Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht haben, Frauen wie Männer.
Man muss sich das politische Umfeld vor Augen führen: Die Habsburgermonarchie war nach über 600 Jahren zu Ende, der Staat der Österreicher, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Bosnier, Kroaten, Montenegriner, Polen, Italiener, Rumänen, Serben und Ukrainer, Frauen wie Männer, war nicht mehr, aufgelöst in viele Nachfolgestaaten mit neuen Grenzen, die ihre Wirksamkeit nach und nach entfalten sollten. Tirol hatte Südtirol verloren, und die traditionell enge Zusammenarbeit der Gewerkschaften Österreichs und des Trentino war binnen weniger Jahre Vergangenheit, zugedeckt von den Gräueln des Faschismus in Italien und den aufkommenden diktatorisch-totalitären Tendenzen in Österreich.
Doch kommen wir zurück in die Konstituierende Nationalversammlung am 26. Februar 1920. Den Vorsitz führt Präsident Karl Seitz (SD), Bundeskanzler ist Dr. Karl Renner (SD), sein Vizekanzler ist Jodok Fink (CS), der für den Gesetzentwurf zuständige Sozialminister ist der Sozialdemokrat Ferdinand Hanusch.
Die Sitzung hat um 11.40 Uhr begonnen, es ist kurz nach Mittag, als der ehemalige Schlossergehilfe Franz Domes5 als Berichterstatter die Diskussion eröffnet. Domes ist Vorsitzender des Metallarbeiterverbandes und sozialdemokratischer Abgeordneter.
Ferdinand Hanusch: Sozialreformer und verantwortlich für das Arbeiterkammergesetz
Geboren am 9. November 1866 in Oberdorf/Horni Ves in der heutigen Tschechischen Republik, gestorben am 28. September 1923 in Wien. Hilfsarbeiter, dann auf der Walz, Fabriksarbeiter, Gewerkschaftssekretär, Abgeordneter. Von Ende Oktober 1918 bis Oktober 1920 Sozialminister. „Während seiner zweijährigen Tätigkeit baute er eine Sozialgesetzgebung auf, die als Vorbild für andere Staaten diente. Ihm zu verdanken ist ein zeitgemäßes Krankenkassenwesen und ein großer Ausbau der Sozialversicherung, Urlaubs anspruch für Arbeiter, der durch Kollektivvertrag garantierte Mindestlohn, die 48 Stunden Arbeits woche, das Verbot der Kinderarbeit für Kinder unter 12 Jahren, die Arbeitslosenversicherung, das Betriebsrätegesetz, die sechswöchige Karenzzeit für gebärende Frauen und die Errichtung der Kammern für Arbeiter und Angestellte.“6
Dass diese Verbesserungen möglich waren, hatte zwei Gründe: Einerseits handelte es sich um Forderungen vor allem der Freien Gewerkschaften, die diese bereits vor Jahrzehnten formuliert hatten, andererseits lag es am politischen Umfeld. Nach der kommunistischen Revolution in Russland war es auch in Bayern und Ungarn zur Gründung von Räterepubliken gekommen, sodass die bürgerlichen Parteien zu erheblichen Zugeständnissen bereit waren, damit Österreich nicht ebenfalls dem Bolschewismus anheimfalle. Stärkste Partei im Parlament waren mit 40 % die Sozialdemokraten, aber die bürgerlichen Parteien verfügten zusammen über die Mehrheit. Ihre Überlegung: Lieber große Zugeständnisse als Bürgerkrieg und kommunistische Räterepublik.
In zwei Räumen in der im Krieg umfunktionierten Hofburg in Innsbruck wurde 1921 mit der Arbeit begonnen.
Die Diskussion zum Arbeiterkammergesetz
Franz Domes greift in seiner Rede im Nationalrat Karl Renners Gedanken auf, „dass der Arbeiterklasse auf das neue Werden in der Volkswirtschaft ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht zukommen muss“. Die Arbeiterkammern sollen „ihrem Wesen nach zunächst ein Gegengewicht gegen die einseitige Beeinflussung unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse durch die Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie sein“.
Karl Kittinger, Postmeister in Karlstein an der Thaya und gleichzeitig stellvertretender Landeshauptmann von Niederösterreich, verweist als „national fühlender Deutscher“ auf Deutschland, wo sich alle Gewerkschaften ein Gesetz zu den Arbeiterkammern wünschen, „in welcher die Vertreter der Arbeiterschaft und die Vertreter der Unternehmerschaft paritätisch an einem Arbeitstisch zusammensitzen und ihr gemeinsames Schicksal auch gemeinsam beraten“. Der Vertreter der Christ lichen Arbeiterschaft Franz Spalowsky, Zeitungs beamter aus Wien, begrüßt das Gesetz und bringt gleichzeitig zwei Themen ein, die „Schaffung selbständiger Angestelltenkammern“ und die Sorge um faire Wahlordnungen, weil man die Erfahrung gemacht habe, „dass sich der Mangel eines ordentlichen Wahlmodus … für jede Minderheit außerordentlich nachteilig fühlbar gemacht hat“. Seine Resolution für eine Wahlordnung, die jedem Wähler „die vollständige, ungehinderte und unbeeinflusste Ausübung des Wahlrechts garantiert“, wird einstimmig angenommen. Der Buchdrucker und freie Gewerkschafter Anton Franz Hölzl aus Wien stellt fest, dass dieses Gesetz „nicht Gnade, sondern Recht“ ist. Er bezeichnet es als „notwendige Ergänzung des Gesetzes über die Betriebsräte und des Gesetzes über die Einigungsämter und die Regelung der kollektiven Arbeitsverträge“ und als fachliche Unter stützung „für die Gewerkschaften, … die in Deutschösterreich die respektable Summe von 700.000 Mitgliedern aufweisen, darunter über 100.000 aus dem Kreise der Angestellten.“ Der Handelsangestellte Karl Pick (Sozialdemokrat) geht auf eine Petition für eine Angestelltenkammer ein und stellt fest: „Die Erkenntnis, dass die Angestellten und Arbeiter zusammengehören, ist schon älteren Datums!“
Das Arbeiterkammergesetz wird beschlossen, zwei der Abgeordneten aus Tirol sind Wilhelm Scheibein und Hans Steinegger. Scheibein ist „freier“7 Gewerkschafter und bei der Eisenbahn, Steinegger ist christlicher Gewerkschafter und bei der Post.
Das Arbeiterkammergesetz wird am 9. März 1920 veröffentlicht und tritt am 9. Juni 1920 in Kraft.
Schon am 30. Mai 1920 schreibt die „Schlossverwaltung zu Innsbruck und Ambras“ an die Direktion der Sachdemobilisierungsstelle in Innsbruck: „Nach mündlicher Mitteilung des Herrn Nationalrat Scheibein beabsichtigt die Arbeiterkammer, die genannten Räume am 15. Juni d.J. unbedingt in Benutzung zu nehmen“. Die Räume, um die es hier geht, sind am Rennweg in Innsbruck, in der Hofburg.
Man darf sich die Hofburg 1920 aber nicht so vorstellen, wie sie heute ist. Die Hofburg war einst Schatzkammer und Turni...