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Wir sind stolz, Zigeuner zu sein
Vom Leben und Leiden einer Sinti-Familie
- German
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Über dieses Buch
Als sie ihre erste Puppe in der Hand hält, ist Anna Reinhardt fünf Jahre alt. Sie zieht ihr die Kleider aus und schneidet ihr den Zopf ab. Warum?, fragt die Mutter. Anna weiß es nicht. Heute, als 70-Jährige, versteht sie: Sie spielte nach, was in den Arbeitslagern der Nationalsozialisten mit ihrer Familie passiert war. Anna Reinhardt ist Sintiza, eine Zigeunerin. 1940 wurde sie als Baby mit Tausenden anderer Sinti ins besetzte Polen deportiert.
"Porajmos", das Verschlingen, heißt auf Romanes der Völkermord, den die Nationalsozialisten an den europäischen Sinti und Roma begingen. Das Schicksal der Familie Reinhardt aus Nördlingen ist ein Teil dieser oft verdrängten Geschichte. In diesem Buch berichtet Angela Bachmair von ihren Gesprächen mit Anna Reinhardt, die den Porajmos überlebte. Die Journalistin hat sich auf die Spuren der Reinhardts gemacht und zeichnet das Schicksal von Verfolgten, Ermordeten und Überlebenden nach. Sie erzählt auch von dem langen Kampf um Wiedergutmachung, von dem Leben der Sinti damals wie heute und von einer missverstanden Kultur in unserer Mitte.
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Information
Thema
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Weltgeschichte1 „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.“
Der Zigeunerhass ist wieder da
Herbst 2013. Die Medien berichten über Roma, die seit der Erweiterung der Europäischen Union aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland kommen, angeblich in großer Zahl und angeblich nur, um Kindergeld zu kassieren. In Fernseh-Talkrunden diskutieren Politiker und Bürger über ‚Einwanderung in unser Sozialsystem‘ und ‚Sozialtourismus‘. Zeitungen berichten über bettelnde Roma auf den Straßen, über vermüllte Wohnungen, steigende Kleinkriminalität und verwahrloste Kinder in Städten wie Duisburg. Rechtsextreme machen vor der Bundestagswahl Wahlkampf mit Hetze gegen die Roma. Und dann kommen noch Berichte über ein blondes, blauäugiges Mädchen, das eine griechische Roma-Familie angeblich entführt und zum Betteln abgerichtet habe.
Da ist es wieder, das alte Thema vom Zigeuner, der Kinder stiehlt und überhaupt alles klaut, was nicht niet- und nagelfest ist, der schmutzig und nicht in eine zivilisierte Gesellschaft integrierbar ist. Mit der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts auch für Bulgaren und Rumänen begann in Deutschland eine Debatte über Armutsmigration, die an scharfen Tönen kaum zu überbieten ist. „Wer betrügt, der fliegt“, droht die bayerische CSU und sie ist sich der Zustimmung weiter Kreise sicher.
Wenn Stimmung gegen die ‚Armen aus dem Osten‘ gemacht wird, sind dabei immer und vielleicht sogar an erster Stelle die Roma gemeint. Offenbar ist das alte Feindbild vom wilden, unzivilisierten Zigeuner sehr schnell und sehr leicht abrufbar in den Köpfen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der ‚Antiziganismus‘ ist wieder da, jene feindselige Haltung gegenüber Sinti und Roma, die man angesichts vieler gut gemeinter Diskussionen über politisch korrekte Sprachregelungen schon fast überwunden glaubte. Doch auch wenn man nicht mehr Zigeuner, sondern Sinti und Roma sagt, wenn man nicht mehr von ‚Zigeunerschnitzel‘ oder ‚Zigeunermusik‘ spricht, wirkt das über Jahrhunderte gepflegte Negativbild vom Zigeuner doch nach wie vor.
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, mahnt in diesen Monaten mehrfach, die alten Vorurteile nicht zu übernehmen, auch wenn durch Roma und andere Armutsmigranten aus Osteuropa kurzfristig Probleme entstehen. Er gibt zu bedenken, dass die Roma nach Deutschland kommen, um ein Dach über dem Kopf zu haben und dem Hunger zu entgehen, um sicher vor Diskriminierung und Ausgrenzung zu sein. Rose appelliert an die Deutschen, den Zuwanderern ein wenig Verständnis entgegenzubringen. Zur gleichen Zeit berichtet der Spiegel von Übergriffen und Pogromen gegen Roma in Rumänien, Bulgarien oder Ungarn. Die gut zehn Millionen europäischen Sinti und Roma sind die größte Minderheit des Kontinents – und immer noch „das unerwünschte Volk Europas“, titelt das Magazin.1
Misstrauen, Verachtung, Hass gegenüber den Zigeunern haben eine lange und unselige Tradition in Deutschland. Sie führten unter dem diktatorischen Regime der Nationalsozialisten zu Unterdrückung und Terror mit dem Ziel, diese Minderheit zu vernichten. Deshalb muss uns die jetzt wieder aufflammende Aggression alarmieren; die Humanität Europas wird nicht zuletzt am Umgang mit den Sinti und Roma gemessen werden. „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“: Das sagte Primo Levi, der jüdisch-italienische Widerstandskämpfer und Überlebende von Auschwitz, über NS-Verfolgung und Holocaust. Primo Levis Satz gilt auch für die Sinti und Roma.
‚Porajmos‘, das Verschlingen, nennen die Überlebenden die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von bis zu einer halben Million Sinti und Roma durch das nationalsozialistische Regime. An den Sinti und Roma wurde ebenso ein Holocaust verübt wie an den europäischen Juden. Doch während die Shoah längst als Völkermord, als Strategie der kollektiven Vernichtung anerkannt ist, haben deutsche Politiker, Gerichte und Bürger die rassistische Verfolgung der Zigeuner bis in die 1980er-Jahre hinein verleugnet. Die Opfer erhielten keinerlei Mitgefühl, und um finanzielle Entschädigung mussten sie jahrelang kämpfen.
Die Abwertung und rassistische Stigmatisierung ging dagegen ungehindert weiter. Erinnerungen der Verfolgungsopfer, die – wie der Historiker Michael Zimmermann sagt – so wichtig sind, um ein „Gegengewicht gegen die Logik der Verfolger“ zu setzen, wurden kaum berücksichtigt.2 Noch heute spielt das Schicksal von Sinti und Roma in den Debatten über Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Das Berliner Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma konnte erst nach jahrzehntelangem Kampf und gegen starke Widerstände errichtet werden.
Sinti und Roma in Deutschland
Wenn heute der Zigeunerhass als Ressentiment gegenüber den aus Osteuropa zuwandernden Roma auf erschreckende Weise wieder aufflammt, dann sind auch die in Deutschland lebenden Sinti und Roma davon beunruhigt. Mindestens 70.000 Menschen rechnen sich in der Bundesrepublik zu dieser kulturellen Minderheit. Die meisten von ihnen bezeichnen sich als Sinti.
Die Sinti sind seit etwa sechs Jahrhunderten in Mitteleuropa ansässig; Roma wanderten ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Viele Sinti und Roma haben sich längst in die Mehrheitsgesellschaft integriert. Ihre eigene Kultur, ihre Lebensweise praktizieren sie gleichwohl weiter; vollständig assimilieren wollen sie sich nicht.
Seit 1995 sind die Sinti und Roma wie die Friesen oder die Sorben als Minderheit in Deutschland anerkannt – ein Ergebnis ihrer aktiven Bürgerrechtsbewegung. Dennoch fürchten sie, dass die Feindseligkeit wieder wachsen, die Anerkennung wieder wegbrechen könnte. Denn der Antiziganismus scheint wie der Antisemitismus unausrottbar zu sein, ungeachtet aller Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 daraus erwuchsen.
Studien besagen, dass etwa 20 bis 30 % der Deutschen antisemitisch denken. Noch erheblich mehr, nämlich zwischen 64 und 68 %, scheinen antiziganistische Einstellungen zu haben.3 Der Antiziganismus sei ein „Code“ der gesamten Mehrheitsgesellschaft, sagt der Forscher Wolfgang Wippermann. Er sei in allen sozialen Schichten, in allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern anzutreffen. „Die Mehrheitsgesellschaft konstituiert sich geradezu durch die Abgrenzung von und die Feindschaft gegenüber den als fremd, gefährlich und unheimlich angesehenen Zigeunern.“4
Der Antiziganismus speist sich aus vielen Geschichten, Legenden und Bildern, aus Klischees und Stereotypen. Über Zigeuner hat jeder etwas zu sagen; da weiß man viel, wenn auch nur vom Hörensagen, ohne wirkliche Kenntnis. So ist das eben mit Vorurteilen: Sie halten sich aus sich selbst heraus am Leben, weil sie so wichtig sind für denjenigen, der sich gegen das Fremde abgrenzen möchte. Aufbrechen lassen sich negative Einstellungen gegenüber dem Fremden nur, wenn man bereit ist, dieses Fremde kennenzulernen.
Dieses Buch möchte ein Angebot zum Kennenlernen sein. Es setzt den Vorurteilen die Erinnerungen einer Zeitzeugin entgegen und will damit einen Beitrag zur Erinnerungskultur der Minderheit der Sinti und Roma leisten. Es basiert auf den Erzählungen von Anna Reinhardt, die selbst ein Verfolgungsopfer ist und sich bereit erklärt hat, davon zu berichten. Dadurch bietet sie uns die Möglichkeit, am Beispiel einer Sinti-Familie die Lebenswirklichkeit und die Leidensgeschichte von Zigeunern in Deutschland kennenzulernen und uns bewusst zu machen, was ihnen angetan wurde.
Die Geschichte der Familie Reinhardt, die in diesem Buch erzählt wird, trägt hoffentlich dazu bei, Verständnis zu wecken gegenüber Menschen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft, sondern eher am Rand leben und deren Lebensweise ein bisschen anders ist als die der Mehrheit.
Ich danke Anna Reinhardt und ihrer Familie dafür, dass sie mir ihr Vertrauen geschenkt und ihre Geschichte erzählt haben.

1 Der Spiegel Nr. 2, 2014. Einblicke in die Lebenssituation von Roma in Osteuropa bieten die Journalisten Norbert Mappes-Niediek, 2013, und Rolf Bauerdick, 2013.
2 Zimmermann, 1996, S. 20
3 Wippermann, 1997
4 Wippermann auf der II. Internationalen Antiziganismuskonferenz 2005, www.ezaf.org
2 „Warum kommt erst jetzt jemand, den unsere Geschichte interessiert?“
Begegnung mit Anna Reinhardt und ihrer Familie
Anna Reinhardt ist eine freundliche alte Dame mit dunklen Augen und grauen Locken. Sie spricht schwäbisch, macht einen hervorragenden Kartoffelsalat und liebt holzgeschnitzte Madonnenfiguren, die sie überall in ihrem Haus aufgestellt hat. Sie pflegt ihren großen Garten und bekommt gern Besuch von ihren Kindern und Enkelkindern.
Anna Reinhardt wurde als drei Monate altes Baby zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern von der Polizei der nationalsozialistischen Diktatur in das von den Deutschen besetzte Polen verschleppt. Ihre ersten fünf Lebensjahre verbrachte sie in Konzentrationslagern, im Ghetto und auf der Flucht vor SS-Leuten, stets vom Tod bedroht. Zwölf ihrer Verwandten wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Dass sie selbst nicht verhungerte oder erfror, dass sie nicht erschossen oder erschlagen wurde, dass sie mit ihrer Familie Verfolgung, Haft und Schikanen überlebte, das sieht sie als ein Wunder an – und als das ...
Inhaltsverzeichnis
- Titel
- Vorwort
- Glossar
- Inhalt
- 1 Der Zigeunerhass ist wieder da
- 2 Begegnung mit Anna Reinhardt und ihrer Familie
- 3 Deportation
- 4 Stufen der Ausgrenzung
- 5 Im Lager, im Ghetto, auf der Flucht
- 6 Von der Verachtung zur Vernichtung
- 7 Eine große Sinti-Familie, ihre Mythen und ihre Opfer
- 8 Rückkehr nach Nördlingen
- 9 Kampf um Wiedergutmachung
- 10 Ein fast normales Leben
- 11 Lebensweisen einer Minderheit
- 12 Erinnern und Zusammenleben
- Zeittafel
- Die Mitglieder der Familie Reinhardt
- Anhang
- Abbildungsnachweis
- Dank
- Biografische Anmerkungen
- Impressum