1. Intro
1.1. Um was geht es hier, Zebra?
Es ist ein schwüler Freitagnachmittag im Sommer. Ein leichter Wind sucht sich seinen Weg durch einen großen Komplex von grauen, hohen Industriegebäuden, gespickt mit kleinen grünen Inseln mit dünnen Bäumchen und trockenem Gras auf den Gehsteigen. Ein Zebra betritt den Raum in einem der Bürogebäude, der von gleißendem Sonnenlicht erfüllt ist. Zum Teil sind Jalousien heruntergelassen, eine Klimaanlage rasselt. Es erblickt einige Sitzgelegenheiten in Form eines Kreises, vorne im Raum eine bunte Wand. Da! Es hat jemanden entdeckt und läuft lächelnd mit großen Schritten auf ihn zu, setzt zu einer Begrüßung an und bleibt dann abrupt stehen: Vor ihm schwebt eine dunkelgraue Gewitterwolke, aus der große Regentropfen auf den Boden fallen und donnernde Geräusche zu hören sind. Sie wirft dem Zebra einen finsteren Blick zu. Verdutzt und auf einmal traurig haucht es ein leises „Hallo.“ und setzt sich geknickt etwas weiter entfernt auf einen Hocker. Plötzlich geht die Tür erneut auf und ein Sportwagen rast herein. Mit quietschenden Reifen und einer Vollbremsung kommt er in der Mitte des Raumes zum Stehen, wobei er deutliche Reifenspuren auf dem Teppich hinterlässt. Der Geruch von Gummi, Benzin und Rauch steigt dem Zebra in die Nüstern. „Was für ein fantastischer Start, ich bin auf der Überholspur – das macht Spaß, ich will gleich weiter!“ schallt es jauchzend aus der Raummitte, als die Umrisse eines jungen Mannes in der Tür erkennbar werden. Mit lautem Keuchen und völlig außer Atem stützt er seinen Oberkörper mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Das zerknitterte und rissige Papier mit der Startnummer auf dem Bauch des Läufers hat sich an zwei Stellen schon gelöst, weil die Sicherheitsnadeln offen oder abgefallen sind. Das enganliegende, grüne Shirt und die Shorts haben an beiden Seiten jeweils zwei längliche, leuchtend gelbe Streifen und sind von Schweiß getränkt. Der Sprint-Olympiasieger torkelt mit letzter Kraft zu einem der Stühle, lässt sich darauf fallen und zieht die Schnürsenkel seiner abgewetzten Spikes fest. „Nur noch ein paar Meter, wir sind kurz vor dem Ziel…“ presst er unter Schnaufen hervor und saugt die Luft anschließend mit einem lauten Geräusch wieder ein.
Was sich anhört wie ein verrückter Traum, ist die metaphorische Beschreibung verschiedener Typen in einer Feedback-Runde, die im Sinne der agilen Prinzipien1 in agil arbeitenden Teams regelmäßig abgehalten wird, um die Effektivität und die Qualität des Teams zu erhöhen2. Diese Runden können mit einer Stimmungsabfrage begonnen werden, um die unterschiedlichen Gefühle und Empfindungen der Teammitglieder einzufangen. Der Gewitterwolke mag es nicht sonderlich gut gehen, da sie am Tag zuvor eine Auseinandersetzung mit einem Kollegen hatte und zudem noch ein schreiendes Baby zuhause hat, welches ihr jede Nacht den Schlaf raubt. Wird sie nun gefragt, wie es im Team läuft und auch wie die letzten Wochen oder die letzte Iteration als Zeit seit der letzten Reflektion verlaufen sind, macht sie es möglicherweise – wie alle anderen Teammitglieder – an den eigenen Gefühlen und Eindrücken fest, die eben auch durch die ganz individuelle Stimmung geprägt sind.
Niemand kann so richtig sagen, wie gut oder schlecht die Arbeit wirklich gelaufen ist und ob oder inwiefern sich das Team in seiner Arbeit, seinen Methoden und Prozessen im Zeitverlauf verbessert hat. In Organisationen mit mehreren Teams, zum Beispiel in größeren Unternehmen, ist jedoch der Beitrag jedes einzelnen Teams zur kontinuierlichen Verbesserung zur Erreichung langfristigen Unternehmenserfolgs wichtig und sollte aus diesem Grund auch feststellbar, also in irgendeiner Form messbar, sein. Gleichzeitig ist der Umgang mit Messungen und der daraus folgenden Transparenz nicht immer einfach. Deshalb haben wir dieses Buch geschrieben.
1.2. Für wen und wozu schreiben wir eigentlich?
An wen wir uns mit diesem Buch in erster Linie richten, möchten wir mit der Beschreibung von zwei Personas beantworten: Nina und Udo. Mit ihren 26 Jahren steht Nina am Anfang ihrer beruflichen Karriere. Sie arbeitet als Agile Coach in einem mittelständischen Unternehmen in ihrem Geburtsort Hamburg und hat bereits erste Zertifizierungen im agilen Umfeld erworben. Sie möchte sich stärker in ihrem Unternehmen positionieren und ihren Beitrag zum Erfolg aufzeigen. Aus diesem Grund will sie sich mit Metriken und ihrer Anwendung beschäftigen. Aus unserer Praxis können wir Nina Folgendes mit auf den Weg geben:
1. Metriken und Agilität gehören zusammen.
2. Es geht darum, sich zu verbessern, nicht um Kontrolle.
3. Wir nutzen Metriken vom Team für das Team.
In den folgenden Kapiteln geben wir konkrete Anwendungsbeispiele und Tipps zum praktischen Einsatz von Metriken in Teams.
Was wir mit diesem Werk nicht erreichen möchten, ist eine Bibel mit einem unübersichtlichen Blumenstrauß an Metriken und deren Möglichkeiten, aber ohne konkrete Tipps zur Anwendung. Wir möchten Nina einen einfachen Start ermöglichen und ihr „Hilfe zur Selbsthilfe“ beziehungsweise Unterstützung zur Weiterentwicklung bieten; daher legen wir Wert auf eine Hands-On Vorgehensbeschreibung als Orientierungshilfe. Wir geben Mut, loszulegen und in eine Schleife der stetigen Überprüfung und Anpassung zu gelangen, um kontinuierlich Fortschritte zu erzielen.
Udo ist ein Agile Leader, also eine klassische Linienführungskraft mit agilem Mindset, 43 Jahre alt und hat zwei Kinder. Udo hatte bereits verschiedene Rollen in Unternehmen inne, auch klassische, etwa als Entwickler, Chefingenieur oder Projektleiter. Er ist gefestigt in seiner Meinung und Person und hatte während seines beruflichen Werdegangs bereits einige Berührungspunkte mit Metriken. Er wurde schon oft gebeten, Schätzungen abzugeben, oder erfragt diese in seiner Funktion selbst, wie Aussagen zu möglichen Auslieferungsterminen oder Workload gegenüber Kunden oder internen Stakeholdern. Oftmals waren Udos Erfahrungen negativ, da die Verwendung von Kennzahlen schon häufig dazu geführt hat, dass es Ärger gab. Das Verfehlen von vermeintlichen Zielwerten führte zu Eskalationen und Erklärungsnot für ihn und sein Team, statt als Ausgangsbasis für Verbesserungen gesehen zu werden. Prinzipiell hat Udo jedoch den Nutzen von Metriken erkannt – bei aussagekräftigen, geeigneten Metriken im passenden Setting. Er ist immer experimentierfreudig und will sein Team damit aus der Komfortzone locken. Über das Buch sucht Udo Austausch und neue Inspiration. Er erwartet eine fundierte, handfeste Basis und einfache Metriken, die man gut in Bestehendes einbinden kann. Wir liefern Udo faktenbasierte Denkanstöße für neue Ideen und andere Blickwinkel, die zur beruflichen, aber auch persönlichen Weiterentwicklung beitragen können.
Wir fassen im vorliegenden Buch Erkenntnisse aus verschiedenen Funktionen und Rollen im agilen Umfeld in Unternehmen zusammen, die wir selbst innehatten und -haben. Die Erkenntnisse aus echten Teams, echten Erlebnissen und echten Lernprozessen teilen wir mit Dir als Leser für Deine alltägliche Praxis. Das Buch hat den Anspruch, die Erfahrung aus der Unternehmenspraxis mit Empirie und Rückgriffen auf Literatur zu kombinieren. Mit dieser Kombination wollen wir Dich auf unsere Reise einladen. Essenziell im Zusammenhang mit Metriken ist für uns das Folgende: Machen und ausprobieren, anfangen und in kleinen Schritten kontinuierlich Veränderungen und Verbesserungen vorantreiben. Dabei ist es wichtig, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, aber dafür morgen mit dem ersten anzufangen. Dies liegt uns am Herzen. Dazu wollen wir Dir mit dem Buch den Anstoß geben.
1.3. Wo kommen wir her und wo setzen wir an?
Durch eine sich immer schneller verändernde Umwelt, die heutzutage oft VUKA-Welt genannt wird, weil sie sich durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität auszeichnet, müssen Unternehmen agil auf äußere Einflussfaktoren reagieren können. Um überlebensfähig zu bleiben, müssen Organisationen sich kontinuierlich verbessern:
“Without improvement, any organization will fail.”
- John Bicheno, Matthias Holweg. (2009)
Die Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit ist ein hartes Stück Arbeit3 und kommt nicht von ungefähr, weil das Bewusstsein für Verbesserungen dafür in allen Ebenen, Wertströmen und Prozessen einer Organisation verankert werden muss4. Der erste, der die kontinuierliche Verbesserung als Teil seiner Unternehmensphilosophie ansah, war der Toyota-Gründer Sakichi Toyoda. Mit dem Ziel, eine bestmögliche Qualität, geringste Kosten und kürzeste Durchlaufzeiten zu erreichen, entwickelte sich daraus Mitte des 20. Jahrhunderts das so genannte Toyota Produktionssystem (TPS). Dieses wird auch heute noch als Basis für zahlreiche Lean-Management-Initiativen herangezogen, um Unternehmen schlank und effizient aufzustellen. Es handelt sich beim TPS um eine Zusammenstellung von Instrumenten, die eine konsequente Ausrichtung am Bedarf (Just-in-Time) und am Qualitätsanspruch (Jidoka) der Kunden sicherstellt. Über die bloße Anwendung dieser Werkzeuge und Methoden hinaus geht es jedoch vor allem darum, eine lernende Organisation zu kreieren. Jedes Mitglied der Organisation soll ermutigt werden, die eigene Arbeit mit Hilfe von Experimenten und durch ständiges Lernen zu verbessern.5 Auf dieser Basis wurde der sogenannte PDCA-Zyklus entwickelt, der sich aus den Schritten Plan (Planen), Do (Ausführen), Check (Prüfen) und Act (Handeln) zusammensetzt. Er ist ein „geeignetes Instrument zur stetigen Verbesserung von Arbeitsmethoden bzw. -prozessen […] in kleinen Schritten“6. „Sehen Lernen“ ist also eine wichtige Voraussetzung, um Verbesserungen zu erzielen: Zuerst müssen passende Ansatzpunkte identifiziert werden (Check), die dann bearbeitet werden können (Act)7.
Der Logik des PDCA-Zyklus folgend ist Transparenz (Sichtbarkeit) neben Inspektion (Überprüfung) und Adaption (Anpassung) eine der drei Säulen von Scrum. „Scrum ist ein leichtgewichtiges Rahmenwerk, welches Menschen, Teams und Organisationen hilft, Wert durch adaptive Lösungen für komplexe Probleme zu generieren.“8 Der Studie „Status Quo (Scaled) Agile 2019/20“ zufolge ist Scrum mit 84 Prozent nach wie vor der meistgenutzte agile Ansatz auf Teamebene. Aufbauend darauf gibt es verschiedene Skalierungsrahmenwerke, die dann zum Einsatz kommen, wenn mehr als ein Team an der Erstellung eines gemeinsamen Produktes beteiligt ist. Wie agile Rahmenwerke und Methoden funktionieren, wurde an anderen Stellen bereits beschrieben und soll nicht Gegenstand dieses Buches sein. Es ist uns jedoch wichtig anzumerken, dass die Erfolgsquote agiler Ansätze merklich positiver als die des klassischen Projektmanagements bewertet wird.9
Scrum hilft dabei, agile Werte und Prinzipien zu operationalisieren und im täglichen Leben zu verankern. Agile Prinzipien liegen dem Agilen Manifest10 zu Grunde, das im Jahr 2001 von 17 Softwareentwicklern verfasst wurde, um durch eine neue Haltung eine bessere Arbeitsweise zu erzielen. Die Formulierungen des agilen Manifests und der Prinzipien enthalten demzufolge oft das Wort „Software“. Dieses lässt sich jedoch durch Arbeitsergebnis ersetzen; Manifest und Prinzipien sind somit für jede Form von Produkten und Dienstleistungen übertragbar. Verschiedene Arbeitsformen des agilen Projektmanagements sowie der Produktentwicklung haben sich daher in Unternehmen unterschiedlicher Branchen und Größen etabliert8.
In den agilen Prinzipien1 lassen sich einige Hinweise auf Messbarkeit und kontinuierliche Verbesserung, also die Kernthemen unseres Buches, finden:
- Unsere höchste Priorität ist es, den Kunden durch frühe und kontinuierliche Auslieferung wertvoller Software zufriedenzustellen.
- Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.
- Funktionierende Software ist das wichtigste Fortschrittsmaß.
- Agile Prozesse fördern nachhaltige Entwicklung. Die Auftraggeber, Entwickler und Benutzer sollten ein...