Das Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung und der kreative Prozess
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Das Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung und der kreative Prozess

Wahrnehmen, Verstehen und Kreativität in Alltag und Kunst

  1. 440 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Das Bedürfnis nach ästhetischer Erfahrung und der kreative Prozess

Wahrnehmen, Verstehen und Kreativität in Alltag und Kunst

Über dieses Buch

Wie funktionieren Wahrnehmen und Verstehen im Alltag, und wie unterscheidet sich dies vom Prozess der Bildbetrachtung im Bereich der vormodernen und der modernen Kunst? Ein Prozessmodell von Alltags- und von Kunstrezeption wird auf der Grundlage vorliegender psychoanalytischer, neurowissenschaftlicher und kunstwissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt. Der Betrachter-Seite wird die Schöpfer-Seite gegenübergestellt durch die Entwicklung eines Prozessmodells der kreativen Prozesse bei der Erstellung vormoderner und moderner Bilder.Als übergreifendes Thema für all dies wird der Umgang mit dem Befremdlichen und dem Fremden ausgemacht. Wahrnehmen und Verstehen bei moderner Kunst wird als Übungsfeld für die Integration von Erfahrungen mit dem Befremdlichen und Fremden und die Überwindung von Vorurteilen im sozialen Bereich verstanden.

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Information

Jahr
2022
ISBN drucken
9783755751564
eBook-ISBN:
9783756297252
Auflage
1
Thema
Kunst
II. Kunstwelt 1: Verarbeitung der vormodernen Kunstwelt
1. Das Bild
Was ist ein Bild? Zwei Erscheinungsweisen eines Bildes lassen sich auf den ersten Blick unterscheiden:
  • Der ganz nüchterne Aspekt ist der materielle Gegenstand, das Bild-Ding, auf dem etwas aufgemalt, eingeritzt, eingeätzt etc. ist; vielleicht könnte man von einem Datenträger sprechen, so gesehen ist es ein „flacher Gegenstand mit pigmentierter Oberfläche ..., dessen Reflexionsstärke von Stelle zu Stelle variiert …“ (Hochberg, 1977, S. 61f.)
  • Ein anderer Aspekt ist der ideelle Bildinhalt:
  • die Darstellung von etwas anderem; Hochberg fährt fort: „… und der als Stellvertreter oder Ersatz für die räumliche Anordnung einer völlig anderen Menge von Gegenständen dienen kann.“
  • zu dieser Sichtweise des Bildes gehören Aspekte der Bedeutung, des ‚Sinnes‘, Gehalt, aber auch eine dem Bild oft zugeschriebene autonome ‚Wirkmächtigkeit‘ (s.u.)
Was im Deutschen mit dem Wort Bild bezeichnet wird, wird häufig in die beiden Begriffe tableau für das „materielle Bild-Ding“ und image für den ideellen Bildinhalt differenziert - oder auch picture und image (Soldt, 2009, S. 143). Was diesen zweiten Aspekt betrifft, so stellen sich z.B. die Fragen, wie Bilder Sinn „erzeugen“, wie es der Künstler schafft, das Verhältnis / die ‚Differenz‘ zwischen dem anschaulichen Ganzen des Bildes und seinen Einzelaspekten wie Farbe, Form, Figur, zu optimieren.
Ähnlich wie sich - vor allem ausgelöst durch Ludwig Wittgenstein (1889-1951) - eine Umorientierung der Philosophie von der Bewusstseinsphilosophie zur Sprachanalyse („linguistic turn“) vollzog, erfolgte im Zuge eines sog. „iconic turn“ die Hinwendung Vieler mit Kunst Befasster zu einer Bildwissenschaft, die in diesem Bereich mittels der Analyse von Bildern wissenschaftliche Rationalität herstellen sollte. Der Kunsthistoriker und Philosoph Gottfried Boehm (1920-2021) stellte die Frage, wie eigentlich Bilder Sinn erzeugen. „Was auch immer ein Bildkünstler darstellen wollte, im dämmrigen Dunkel prähistorischer Höhlen, im sakralen Kontext der Ikonenmalerei, im inspirierten Raum des modernen Ateliers, es verdankt seine Existenz, seine Nachvollziehbarkeit und Wirkungsstärke der jeweiligen Optimierung dessen, was wir die ‘ikonische Differenz’ nennen.“ Boehm, 1994, S. 30)
Auch wenn hier gefragt wird, wie im Bild diese zu optimierende Differenz gestaltet ist, kann man bei der Frage der Bedeutung den Betrachter nicht außer Acht lassen. Bedeutung trägt nicht einfach das Bild. Sie entsteht auch nicht nur im Rahmen der Interaktion zwischen Maler und Bild. Sie konstituiert sich im Betrachter angesichts des Bildes und in den inneren Bezügen von Maler und Betrachter (auch wenn sie sich nicht persönlich kennen – das ist ohnehin nur in Ausnahmen der Fall), sie konstituiert sich also in diesem interaktiven bzw. kommunikativen Geschehen. Kraft (2008a) spricht von „Dyaden zu dritt“.
Wir haben es also zum einen mit dem „Bild-Ding“ (tableau, picture) zu tun, zum andern mit dem Bild (image), das sich uns mit seiner Bedeutung, seinem Sinn erschließt oder sich uns verschließt (indem wir es nicht in uns aufnehmen und/oder es nicht verstehen können).
In den folgenden Ausführungen wird meist der erste Aspekt (tableau, picture) vernachlässigt, bei dem es um Material- und technisch-handwerkliche Fragen geht.43
Zu Aspekt 2, image, der anderen Weise, in der das Bild in Erscheinung tritt: „Das deutsche Wort Bild geht „möglicherweise … auf den germanischen Stamm bil (‚Wunderkraft, Wunderzeichen‘) zurück. Für die Entwicklung des B.-Begriffs in Philosophie, Theologie und Ästhetik war zunächst das griechische eikón prägend, das anfänglich sowohl das Standard-B. und das Gemälde, als auch das Schatten- und Spiegel-B. bezeichnete... Wenn auch eine präzise Begriffsunterscheidung nicht gegeben ist, dient eikón eher einer idealistischen Konzeption von B. im Sinne seiner Beziehung auf einen geistigen Ursprung, während eìdolon das Abbild der materiellen Welt meint und deshalb seit Platon minderen Rang besitzt.“ (Prange, 2019b, S. 57). Wir stoßen in diesen wie anderen Worterklärungen immer wieder darauf, dass es um (materielle Träger von) Bedeutungen geht, angefangen damit, dass etwas ‚abgebildet‘ wird.
Möglicherweise stand am Anfang der Geschichte des Bildes gar eine Identität und Nichtunterscheidung von Bild und Abgebildetem, auf der der magische Bildzauber beruht, von dem sich das Bewusstsein auch heute noch - trotz der zunehmenden Entfernung von der magischen Realität - nicht lösen kann (Wolf, 2019, S. 70, in Anlehnung an Gadamer). So ist mit ‚Abbildung‘ mehr als Herstellen einer Ähnlichkeit gemeint, Abbildung hat sozusagen Brisanz und macht zum Teil die Magie der Bilder aus. „Dass die Macht des Bildes auf mimetischer Verlebendigung oder ‚Beseelung‘ bzw. Täuschung des Betrachters beruhe, gehört zum topischen Bestand der Kunsttheorie und Literatur der Antike wie der Renaissance.“ „Seit der Antike stehen sich eine Ikonophobie und eine Ikonophilie gegenüber, eine Verteufelung der Bilder als Lüge, falscher Schein bzw. Augentrug und ihre Zelebration als Medium seelischer Empfindung, der Liebe und sinnlichen Erkenntnis, als eines privilegierten Tores zum Unsichtbaren und transparenten Schleiers der Wahrheit.“ (Wolf, 2019, S. 68 und S. 65)
In der „Bildakt-Theorie“ (siehe z.B. Bredekamp, 2015) wird auf die autonome Wirkmacht oder -kraft des Bildes (vgl. auch aus psychoanalytischer Warte Soldt, 2009) abgehoben. Es wird z.B. verdeutlicht daran, dass man das Guernica-Bild von Picasso44 im New Yorker UN-Gebäude verdeckt habe, als man sich dort versammelte, um seitens der damaligen US-Regierung „Beweise“ aufzufahren für die Existenz von Massenvernichtungsmitteln im Irak, die als Begründung für eine Invasion herhalten sollten. Dem Bild wurde demnach eine dem Anliegen potenziell schädliche Wirkmacht in Richtung der Kritik am Krieg zugeschrieben. Ähnliche Belege für die vermeintliche autonome Macht der Bilder kann man im Bildersturm in der Reformation sehen. Ich denke, auch das Wüten is- lamistischer Rebellen in Palmira und in gewisser Weise bei Charlie Hebdo45 könnte man als Hinweise auf eine solche Wirkmacht, die Bildern zugeschrieben wird (die die Bilder „haben“?) interpretieren. Das Reden von einer Zauberkraft oder Wirkmacht des Bildes hat womöglich ihren Ursprung in früher Vorzeit, als zwischen Artefakt und dem, was es darstellt, nicht unterschieden wurde.
Transzendierung: Das Bild meint etwas anderes. Mit den Begriffen „Stellvertreter“ und „Ersatz“ in Hochbergs Definition (s.o.) wird auf die besondere Eigenschaft hingewiesen, die das Bild von anderen flachen Gegenständen unterscheidet. Und an dieser Stelle haben wir es – in der hier eingeführten Begrifflichkeit – mit einer Transzendierung zu tun; sie besteht darin, dass wir wissen, dass es hier nicht eigentlich um diesen physikalisch-chemischen Gegenstand geht, den wir vor uns haben, sondern dass es sich um etwas handelt, das Bedeutungsträger ist. Das gilt auch für ein Foto, aber auch für gemalte, gezeichnete etc. Bilder. Sehr kleine Kinder kennen diese besondere Eigenart des Bildes noch nicht, sie versuchen z.B. das, was als Sonne in einem Bild erscheint, mit den Fingern zu ergreifen, also von der Unterlage abzuheben; in diesem Alter hat das Kind also noch keinen ikonischen und keinen begrifflichen Zugang zur Welt sondern nur einen sensomotorischen. Sein Verstehenwollen kommt in dieser sensomotorischen Handlung zum Ausdruck.46
In der Literatur wird oft davon gesprochen, dass man symbolisierungsfähig sein müsse, um den besonderen Doppelcharakter des Bildes zu verstehen (dass er erstens ein Gegenstand ist und zweites etwas darüber hinaus bedeutet, etwas anzeigt, also ein analoges Zeichen für das damit Gemeinte ist). Am einfachsten war diese Sache, solange Kunst sich um Abbildung oder Nachahmung bemühte.47 Ein zentrales Moment in der Entwicklung der Malerei bis etwa Mitte des 19. Jh. ist das Bemühen der Künstler um immer bessere ‚Abbildung‘ von Realität bis hin zu einer möglichst präzisen Darstellung von Objekten und Figuren innerhalb eines schließlich quasi illusionistischen dreidimensionalen Raumes auf der flachen Leinwand (oder Wand oder Decke einer Kirche, eines Schlosses etc.). „Die Geschichte der Malerei wird vor allem als ein Fortschritt in Richtung täuschender Naturnachahmung beschrieben.“ (Prange, 2019b, S. 58).
U.a. Black (1977) befasste sich mit Kriterien, die ausmachen könnten, was „Abbildung“ sei. Aber die einzelnen untersuchten Kriterien wie z.B. „Ähnlichkeit“, „Information“ (des Bildes gegenüber der realen Vorlage) oder „Intention“ (des Malers) führten nicht viel weiter, sodass der Autor zu dem Schluss kam, dass der Begriff der Abbildung eher ein „Bereichsbegriff“ oder „Häufungsbegriff“ sei, in dem die genannten Kriterien in Form eines „Schwarms“ bestimmen, was „Abbildung“ bedeutet. Gombrich (1977) empfahl, außerdem den Aspekt der Erfahrung des Wiedererkennens zu berücksichtigen, wenn man fragt, was es bedeutet, dass X Y abbildet oder darstellt.
Ich glaube, es geht bei dem Prozess des Feststellens von Ähnlichkeit ja nicht wirklich nur um zwei „Entitäten“ – das Bild auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, den abgebildeten Gegenstand oder die abgebildete Szene (sozusagen die „Realität“) - geht, sondern auch noch um etwas Drittes. Dieses Dritte (als inneres Bild oder inneres Objekt, die innere Repräsentanz) befindet sich im Betrachter. Nur mithilfe dieses inneren Dritten kann er einen Bezug herstellen zwischen dem Bild und dem, was es „darstellt“. Zunächst aber musste er das Bild irgendwie erfassen. Dazu formierte sich aufgrund des ersten Wahrnehmungs-Inputs im Gehirn des Betrachters ein zunächst unscharfes internes Modell, basierend auf Erfahrungen (Erinnerungen), die der Betrachter in seiner Alltagswelt und/oder mit Bildern gemacht hat. Nur so konnte er überhaupt das Bild „erkennen“. (Wir werden uns damit noch ausgiebig befassen). Was das Bild dann aber abbildet, auf was es sich bezieht, kann sich dem Betrachter nur insoweit erschließen, als er es bzw. die Elemente desselben, kennt. (Gebäude, Landschaft etc.). Das aber, was er kennt, hat sein Gehirn bereits verwendet, um das interne Modell zu konstruieren, mittels dessen er das Bild erkannt hat. Nur dies, diese Erinnerungselemente, kann er anwenden, um zu erschließen, was das Bild meint, auf was es sich bezieht, mit was es „ähnlich“ ist, was es abbildet. Eine ganz andere und rein theoretische Frage ist, dass da draußen (d.h. außerhalb des Bildes) etwas ist, was im Bild abgebildet ist. Es mag ja sein, dass der Maler nach der Natur gemalt hat, aber der Betrachter des Bildes kann nicht dieses ‚Ding an sich‘ erfassen sondern nur, was in ihm an ‚verwandtem‘ Material gespeichert ist; nur im Hinblick darauf kann er behaupten, das Bild stelle dies und das dar.
Bei abbildender Kunst ist die Situation somit auch komplexer als Kraft (2008a) es mit dem Konzept der „Dyaden zu dritt“ (Künstler-Bild; Betrachter-Bild; Betrachter-Künstler) fasst, denn das „Signifikat“, das vom Bild abgebildete, muss stets mitbedacht werden, wenn ein Bild etwas anderes darstellt, und das befindet sich im Kopf des Betrachters. Es kommt bei den genannten Dyaden jeweils als ein Drittes hinzu.
Wie oben erwähnt herrschte über lange Zeiträume in der Kunst eine eher schematische Malerei vor, bei der eine genaue Abbildung des in der Außenwelt zu Sehenden gar nicht angestrebt war. Das war zum Beispiel in der antiken ägyptischen Malerei so, ebenso vorwiegend auch in der antiken römischen und der frühen mittelalterlichen Malerei. Schematisch bedeutete auch: Es musste „richtig“ sein, wiedererkennbar – ob es nun um Grabkammerausmalung im pharaonischen Ägypten ging oder um die Verehrung der römischen Kaiser in Mosaikbildern. Vergleichbares tritt auch als Phase in der Malentwicklung von Kindern auf, nachdem sie das Kritzeln und Krackeln, das Zeichnen von Knäueln – immer auch motorisches Abreagieren – hinter sich gebracht haben. In der sog. Schemaphase kommt es darauf an, etwas zu zeichnen oder zu malen, was als das und das (Haus, Mensch) erkennbar ist, also auch vom Betrachter identifiziert werden kann. Bei der schematischen Zeichnung oder Malerei gibt es kein Zögern oder Zaudern zwischen der Erfassung des Zeichens, des Signifikanten, und der seiner Bedeutung (Signifikat). Der Anblick des Schemas produziert im Gehirn des Betrachters ein unscharfes internes Modell (wenn man so will: eine Hypothese) auf der Basis von Erfahrungen des Betrachters (mit der Welt, mit Bildern). Das Wesen des Schemas ist seine Allgemeinheit, ist die hohe Wahrscheinlichkeit, dass durch es ausgelöste interne Modelle ‚passen‘ und ein rasches Wiedererkennen ermöglichen. Es ist also sozusagen festgelegt, als was etwas (ein bestimmtes Schema)48 gilt, insofern wird automatisch identifiziert. Aber Malerei war nicht immer schematisch. Im antiken Griechenland und der Renaissance z.B. ging es sehr wohl um das genaue, naturnahe Malen. Und was die alten Griechen konnten, nämlich perspektivisch und plastisch malen, was aber im frühen Mittelalter der Malerei wieder verlorenging, tauchte am Beginn der Renaissance mit Giotto, Masaccio und anderen wieder auf, es wurde sozusagen wieder neu erschaffen.49
Aber ob nun mehr schematisch oder naturnah oder idealisierend oder heroisierend, das Bild meinte etwas, was es selbst als Gegenstand nicht war, und dass es etwas anderes zeigte, war Konsens zwischen Maler und Betrachtern. Das Bild verwies auf etwas, was für den Betrachter wirklich im Sinne der W-Evidenz war, indem es im Betrachter etwas aktualisierte - ein internes Modell -, das auf „wirklichen“ früheren Erfahrungen des Betrachters beruhte aus Situationen, die er als wirklich i.S. der W-Evidenz erlebt hatte. Natürlich war es weiterhin nur ein Bild dessen, und Jedem war das klar.
Bei alldem konnten Bildinhalte verstanden werden: Die Gegenstände konnten identifiziert werden, Personen waren als solche erkennbar, ebenso Kreaturen, und seien sie noch so befremdlich gewesen wie in den Bildern von Hieronymus Bosch. Und natürlich waren auch die biblischen Geschichten bekannt und wurden in den Bildern verstanden. Die eigentliche Wirkung auf den Betrachter können die Bilder dann aufgrund der jeweils besonderen Komposition entfalten, sie hängt mehr von der Form als den Inhalten ab, aber das inhaltliche Einordnen und Verstehen ist Voraussetzung, und es erfolgt quasi überindividuell, d.h. bei Mitgliedern eines Kulturkreises konsensual, und es verweist, solange es um abbildende Bilder geht, auf eine „Realität“ außerhalb des Bildes, tatsächlich also auf Erfahrungen der Betrachter mit W-Evidenz.
Aber bei allem konsensualem Verstehen finden wir in den Betrachtungsprozessen Transzendierungen verschiedener Art, auch bei sehr ‚einfachen‘ Bildern mit geläufigem Inhalt, z.B.:
  • Der abgebildete Säugling in der Krippe im Stall wird nicht nur als solcher identifiziert, vielmehr werden ihm andere, „wichtigere“ Bedeutungen zugeordnet: Jesus / Gottes Sohn / Erlöser / durch Heiligen Geist gezeugt… Insoweit ist der Mann hinter der Krippe Josef, Vater und zugleich nicht Vater des Kindes im üblichen Sinne... und die Kommunikation vom Maler hin zum Betrachter ist, was Inhalte anlangt, eindeutig, biblische Geschichte und Symbole werden in Szene gesetzt und sollen auch so erkannt werden.
Anhand der Betrachtung von Persondarstellungen im Bild lässt sich leicht plausibel machen, welche Transzendierungen noch – evtl. neben weiteren - erfolgen.
  • Zum einen „weiß“ man wie gesagt, dass das Bild einen Menschen abbildet, also auf etwas außerhalb seiner selbst verweist, auf etwas Anderes, was jetzt hier real nicht zugegen ist, dort aber existiert es im Sinne der W-Evidenz oder hat existiert oder wird zumindest als ein solches vorgestellt.
  • Zum andern entnimmt man der Vorlage trotz ihres fixierten, starren, zweidimensionalen Charakters, dass da eine Person dargestellt wird, die (beispielweise) Kummer hat. Man schließt also auf den inneren Zustand der abgebildeten Person.
  • Bei der Personwahrnehmung selbst (also nicht via Bild sondern im Sinne des Kap. I) gilt das natürlich auch generell. Die „Lesbarkeit“ des Gesichtsausdrucks, d.h. der Rückschluss auf die innere Befindlichkeit des/der Dargestellten, eint also Betrachter, ‚gemeinte‘ reale Person und Bild. Bei der Wirkung im Gehirn des Betrachters spielt die Erfahrung eine wicht...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Überblick
  3. I. Welt: Verarbeitung der Welt
  4. II. Kunstwelt 1: Verarbeitung der vormodernen Kunstwelt
  5. III. Kunstwelt 2: Verarbeitung von Bildern der Moderne durch den Betrachter, kreativer Prozess beim Maler
  6. IV. Welt und Kunstwelten: Neubewertung
  7. V. Generierung und Prüfung psychoanalytischer Hypothesen über das eigene Werk
  8. Literaturangaben
  9. Anhang 1: Zusammenfassung der Theorie anhand der zentralen Thesen
  10. Anhang 2: Die Enttäuschung des Herrn F: Geschichte zur Illustration des Zusammenhanges zwischen interpersonalen Ressourcen, Bedürfnissen und Beziehungseinschätzung
  11. Impressum