Roland Kunz
Auf der Palliativstation: Tag 1
Jeder Mensch lebt anders, und jeder Mensch stirbt anders. Jeder Sterbeprozess verläuft in dieser geheimnisvollen Sphäre, in die wir als Zuschauende, als Beobachtende, als Ärztinnen und Ärzte, als Pflegefachpersonen oder als trauernde Angehörige nie wirklich Einblick erhalten – bis zu dem Tag, an dem wir selbst sterben.
An dem sonnigen Dienstag, als diese Zeilen entstehen, erinnert vordergründig nichts an den Tod. Das Leben geht für die meisten Menschen seinen gewohnten Gang, ohne grössere Aufregungen oder Zwischenfälle. Auf der Rosengartenstrasse in Zürich, einer der meist befahrenen Strassen der Schweiz, stauen sich schon morgens die Autos und die Lastwagen. Am Bucheggplatz eilen Berufstätige aufs Tram; Studenten mit vollgepackten Rucksäcken drängen in den Bus, der zur ETH Hönggerberg hoch über der Stadt fährt. Von hier wirken selbst die Kirchen der Altstadt winzig klein. Nach wenigen Minuten hält der Bus beim Stadtspital Zürich Waid, einem verwinkelten, trotz seiner Grösse eigenartig unscheinbaren Gebäudekomplex aus den 1950er-Jahren. Hier gehört, neben den üblichen, breit gefächerten medizinischen Leistungen, auch das Sterben zum Spitalalltag.
Im Zentrum für Palliative Care am Stadtspital Zürich Waid, das 2018 unter der Leitung des Schweizer Palliative-Care-Pioniers Roland Kunz eröffnet wurde, ist der Tod allgegenwärtig. Die Formulierung täuscht allerdings über die Realität hinweg – beziehungsweise sie greift vor allem zu kurz. Denn Palliative Care umfasst viel mehr als nur die Begleitung während des Sterbeprozesses; sie hat im Gegenteil sehr viel mit dem Leben zu tun. Denn Palliative Care bedeutet, das Leben lebenswert zu machen – in allen individuellen Farben und Schattierungen, die jede und jeder einzelne von uns mit dem Anspruch an ein lebenswertes Leben verbindet.
Das Leben ist nicht schwarz-weiss, und genauso wenig das Sterben; besonders, wenn es auf eine Krankheit folgt und nicht die plötzliche Folge eines Unfalls oder Herzstillstands ist. Der Sterbeprozess zeigt sich oftmals – wie das Leben – changierend, in wechselnden, manchmal schillernden, manchmal matten, trüben und dunklen, aber auch in bunten, hellen Farben. Er ist eine Abfolge von vielen verschiedenen, intensiven, emotional dichten Momenten, die jedem, der daran Anteil nimmt, unvergesslich bleiben.
Roland Kunz ist ein Profi, wenn es um das Sterben geht. Nach unserer Begegnung 2019 treffe ich ihn wieder und beobachte ihn bei seiner Arbeit. Unter seiner Federführung sind in der Deutschschweiz in den letzten Jahrzehnten mehrere bedeutende Palliative-Care-Institutionen entstanden. Das Palliative-Care-Zentrum im Stadtspital Zürich Waid ist seine letzte berufliche Station; der Arzt mit Jahrgang 1955 geht in den Ruhestand. Er lässt sich in zwei Etappen pensionieren. In einem ersten Schritt hat er die Leitung der Klinik für Akutgeriatrie abgegeben; bis zu seinem definitiven Rückzug aus dem Berufsleben Ende 2021 leitet er weiterhin in einem Arbeitspensum von fünfzig Prozent das Zentrum für Palliative Care.
Sein Büro im Spital befindet sich gleich neben dem «Raum der Stille», einer Art Andachtsraum, der allen Patienten, Besucherinnen und Mitarbeitenden offensteht. Neben der Tür zu seinem Büro, das er sich mit der Oberärztin teilt, hängt auf Augenhöhe ein Schild mit der Aufschrift: «Ärztliche Leitung Palliative Care». Auf das Klopfen an der Tür ruft er laut «Ja!». Kunz – ein schlanker, nicht sehr grosser Mann mit grauem Haar und Bart – sitzt am Computer. Nach der Begrüssung beendet er eine Mail, er erhebt sich dann in seinem weissen Arztkittel und macht sich auf den Weg in die Palliative-Care-Abteilung. An diesem Tag herrscht auf der Station «courant normal». Als Chefarzt wird er gleich den Rapport und die Visite leiten.
Mit einem mechanischen Geräusch öffnen sich vor Roland Kunz zwei Flügeltüren aus Glas, hinter denen sich ein langer, heller Gang bis zu einem Fenster erstreckt. Links und rechts des Korridors befinden sich acht Patientenzimmer; ein neuntes kann bei starker Belegung zusätzlich eingerichtet werden. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei dreizehn Tagen, das Spektrum erstreckt sich von zwei Tagen bis zu ungefähr vier Wochen. Etwa vierzig Prozent der Patientinnen und Patienten versterben auf der Station, aber nur ein Teil davon beim ersten Aufenthalt. Ungefähr sechzig Prozent der eingelieferten Patienten treten wieder aus. Sie kehren nach einer gewissen Zeit nach Hause oder in eine Pflegeeinrichtung zurück. Manche kommen ein zweites oder drittes Mal wieder, wenn sie mit ihren Schmerzen oder anderen Symptomen der Krankheit nicht zurechtkommen.
Vor der Visite in den Patientenzimmern trifft sich Roland Kunz im Ärztebüro mit der Oberärztin Hannah Schlau und der Assistenzärztin Mahnoor Anwar. Es ist neun Uhr morgens. Die Assistenzärztin greift zum Telefon und ruft nun eine Pflegefachfrau nach der anderen ins Zimmer: Die Visite wird mit der Pflege detailliert vorbesprochen, bevor die zwei Ärztinnen und der Chefarzt die einzelnen Patienten in ihren Zimmern besuchen. Der Umstand, dass auf dieser Abteilung nicht eine ganze Gruppe von Medizinern und Pflegefachpersonen die Patientinnen und Patienten visitiert und dann plötzlich im Dutzend vor deren Betten steht, ist besonders. Auffallend ist zudem, dass man sich viel Zeit nimmt. Während auf anderen Stationen alles Schlag auf Schlag gehen muss, verlaufen die Vorbesprechung und die Visite hier in einem eher gemächlichen Tempo. Nicht selten dauert die Visite bei den acht Patientinnen und Patienten bis in den Nachmittag hinein.
Die erste Patientin, über deren Befinden gesprochen wird, ist die neunzigjährige Frau Kupfer. Sie heisst eigentlich anders, wie alle anderen Patienten, die in diesem Buch vorkommen. Die Pflegefachfrau, von der Frau Kupfer hauptsächlich betreut wird, hat im Ärztezimmer auf einem Stuhl Platz genommen. Oberärztin Hannah Schlau erklärt, die Patientin sei aus dem anderen Zürcher Stadtspital, dem Triemli, ins Waid überführt worden. Sie leide unter ausgeprägten Episoden von Atemnot. Frau Kupfers Erkrankung heisst im Fachjargon Tracheomalazie; das Gewebe ihrer Luftröhre ist kollabiert, was mit einem wiederkehrenden Gefühl extremer Atemnot verbunden ist.
«Das wird wahrscheinlich noch zunehmen», sagt Roland Kunz, und er fragt: «Wo steht sie in der Krankheitswahrnehmung?» Die Oberärztin Hannah Schlau antwortet: «Sie befindet sich im Coping-Prozess; sie muss zuerst noch einen Umgang mit ihrer Erkrankung finden. Morgen findet das Gespräch am Runden Tisch mit der Tochter und dem Sohn statt.»
Mit dem sogenannten Runden Tisch ist eine Aussprache mit den Angehörigen gemeint, in der die Bedürfnisse aller Beteiligten geklärt und die nächsten Schritte besprochen werden. Frau Kupfer lebte vor dem Spitaleintritt recht selbstständig in einer Alterswohnung. «Ich glaube, diese Unsicherheit mit der wiederholten Atemnot zu Hause wird für sie allein zu viel sein. Sie wird künftig mehr Unterstützung brauchen», sagt die Oberärztin Hannah Schlau. Die Pflegefachfrau ergänzt, Frau Kupfer verhalte sich eher introvertiert und ruhig und äussere von sich aus kaum Wünsche.
Dieses Bild bestätigt sich etwas später bei der Visite. Frau Kupfer sitzt im Nachthemd auf einem Stuhl am Fenster. Ein Ventilator sorgt für etwas kühle Luft, auf dem Tischchen vor ihr liegt das Handy. Zur Unterstützung der Atmung bekommt sie durch zwei dünne Schläuche, die in die Nasenlöcher führen, Sauerstoff. Die Nacht sei «ordeli» gewesen, sagt die Patientin leise, als sie von Roland Kunz danach gefragt wird. Sie habe das Gefühl, es gehe ihr etwas besser.
Auch Frau Graber, eine etwas über siebzigjährige Patientin, bei der vor einigen Jahren ein Karzinom in einem Lungenflügel diagnostiziert wurde, kennt solche schlimmen Atemnotattacken. Sie litt zudem schon früher unter einer COPD, einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung. Ein Jahr nach der Krebsoperation an der Lunge und einer Chemotherapie entdeckte man bei ihr Hirnmetastasen, die ebenfalls operiert wurden; anschliessend folgte eine Therapie mit Bestrahlung. Nun ist offenbar auch der zweite Lungenflügel betroffen. Frau Grabers Atem rasselt, als Roland Kunz und die zwei Ärztinnen ihr Krankenzimmer betreten. Sie sitzt leicht nach vorne gebeugt auf dem Spitalbett und stützt sich auf die Hände.
Vor dem Fenster wirbelt der warme Wind durch die Blätter eines Baumes. Die Sonne scheint vom wolkenlos blauen Himmel. Frau Graber atmet schwer, dann muss sie heftig husten. Es klingt zunächst wie ein trockenes Bellen. Dann rumort leise der Schleim in den Bronchien. «Der Schleim ist das Hauptproblem», sagt Frau Graber in einer Hustenpause. «Er ist so zäh, ich kann ihn nicht abhusten. Und das Atmen! Es macht mich fertig. Mittags bin ich schon wieder so müde, dass ich nur noch schlafen könnte, sogar wenn ich davor eine gute Nacht hatte.»
Frau Grabers Austritt ist eigentlich für den kommenden Tag geplant. Sie will wieder nach Hause. Voraussetzung dafür ist, dass es ihr gelingt, bei einer Atemnotattacke den Kreislauf der Panik zu durchbrechen, der bei ihr Todesangst auslöst. Zu diesem Zweck sollen sie und ihr Mann in der Verabreichung eines Beruhigungsmittels instruiert werden; das Medikament soll von ihr selbst oder von ihrem Mann zu Beginn einer Atemnotkrise unter die Haut injiziert werden. Ein solches sogenanntes Notfallszenario oder einen Notfallplan für zu Hause zu entwickeln, ist häufig das Ziel während eines Aufenthalts auf der Palliativstation. Damit kann man dramatische Szenen verhindern. Man kann vermeiden, dass eine Patientin oder ein Patient bei einer Verschlechterung jedes Mal mit Blaulicht ins Spital eingeliefert werden muss. Mit einem Notfallszenario und der Unterstützung von Angehörigen ist es oftmals möglich, eine vorhersehbare Krise auch daheim zu bewältigen.
Als sich Roland Kunz, Hannah Schlau und Mahnoor Anwar anschicken, das Zimmer zu verlassen, wendet sich die Patientin an den Chefarzt und fragt sicherheitshalber nach: «Und wegen einer erneuten Operation – haben Sie auch das Gefühl, das bringe nichts?» – «Ich glaube, diesbezüglich hat sich nichts verändert», antwortet er freundlich und ruhig. «Wenn Sie das Handling mit dem Beruhigungsmittel im Griff haben, können wir Ihren Austritt vorbereiten.» Die Patientin will wissen, ob sie wiederkommen dürfe, sollte sie zu Hause das Gefühl haben, es gehe gar nicht. «Selbstverständlich», gibt Kunz zur Antwort.
Die Patienten im Zentrum für Palliative Care im Stadtspital Zürich Waid sind zwischen fünfzig und neunzig Jahre alt. Der grössere Teil ist zwischen fünfzig- und siebzigjährig. Jüngere Patienten sind selten, da sie weit weniger häufig als ältere Menschen von lebensbedrohlichen Diagnosen betroffen sind. «Die jüngeren Patientinnen und Patienten», sagt Roland Kunz, «bleiben tendenziell auch länger zu Hause; erst recht, wenn sie Kinder haben. Je jünger die Kinder sind, desto grösser ist in der Regel das Bedürfnis eines erkrankten Elternteils, so lange wie möglich daheim, im gewohnten Umfeld, zu bleiben. Sofern es das soziale Netz erlaubt.» Manche Menschen wünschen sich auch, zu Hause zu sterben. Die Hilfe, diesen letzten Wunsch zu erfüllen, wenn es für die Betroffenen und ihr Umfeld stimmt, betrachtet Kunz ebenfalls als seine Aufgabe.
Im Spitalzimmer, in dem Frau Schlegel liegt, läuft leise klassische Musik. Ausser der Musik ist nur der Atem der Patientin zu hören. Die Frau, Mitte sechzig, liegt auf der Seite, die Augen hält sie geschlossen, ihr Mund ist offen. Bei Frau Schlegel wurde ein Pankreaskarzinom diagnostiziert, es geht ihr sehr schlecht. Neben dem Bauchspeicheldrüsenkrebs leidet sie an einer fortgeschrittenen Demenz. Aufgrund ihrer Demenzerkrankung konnte sie nicht selbst entscheiden, ob der Tumor operiert werden sollte. Der Mann war überfordert. Nach längeren Diskussionen und in Absprache mit ihm verzichtete man auf eine Operation. Es ist nicht Frau Schlegels erster Aufenthalt auf der Palliativstation. Diesmal aber erwartet niemand, dass sie noch einmal nach Hause zurückkehren wird.
Frau Schlegels Mann steht neben dem Bett, als der Chefarzt, die Ober- und die Assistenzärztin nach einem leisen Klopfen eintreten. Der Mann wirkt gefasst, aber auch verzweifelt und überfordert. «Ich kann nichts mehr machen hier», sagt er zu den Medizinern. Roland Kunz erklärt, auch wenn es so aussehe, als ob seine Frau nicht mehr viel wahrnehme, fühle sie wohl doch, dass ihr Mann da sei. «Aber es ist wichtig, dass Sie selbst auch spüren, wie viel Sie aushalten können.» Der Mann antwortet: «Wenn sie da auf dem Totenbett liegt, kann ich ja nichts machen.» Dann schaut er sich nervös im Zimmer um und bemerkt: «Sie hatte eine Tasche dabei, die würde ich jetzt mitnehmen. Sie braucht sie ja nicht mehr.»
Oberärztin Hannah Schlau eilt zu einem der schmalen Schränke, die an der Wand beim Eingang angebracht sind, und öffnet ihn. Sie greift nach der Tasche, gibt sie dem Mann. Dieser nimmt sie, und sagt mehr zu sich selbst als zu jemand Bestimmtem: «Also, jetzt lassen wir sie in Ruhe. Vielleicht komme ich am Nachmittag oder am Abend nochmals vorbei.» Roland Kunz antwortet: «Wenn wir etwas für Sie tun können, dann sagen Sie es einfach.» Der Mann wechselt abrupt das Thema: «Ich koche und haushalte gern», erzählt er, «ich war jahrzehntelang Hausmann neben meinem Beruf. Also, ich schaue am späten Nachmitttag nochmals herein.»
Nach Frau Schlegels Ehemann verlassen auch die zwei Ärztinnen und der Arzt das Zimmer. Als sich der Mann entfernt hat, stehen die drei auf dem Korridor zusammen. Roland Kunz hält fest, die Patientin reagiere kaum mehr; nur einmal hat sie im Tiefschlaf leise gestöhnt. Er diskutiert mit den Kolleginnen und der zuständigen Pflegefachfrau kurz die Medikamentendosierung, als die Physiotherapeutin hinzutritt und sagt, sie habe eine halbe Stunde Zeit und werde diese bei Frau Schlegel verbringen.
Frau Wunderlin döst derweil in ihrem Zimmer am Anfang des Korridors vor sich hin. Die Neunzigjährige ist stark abgemagert, sie leidet unter einem Eileiterkarzinom mit Metastasen. Sie hat einen künstlichen Darmausgang, ein sogenanntes Stoma. Der Darminhalt wird durch eine operativ angelegte, künstliche Verbindung zwischen dem Darm und einer Öffnung in der Bauchwand in einen luftdichten Beutel geleitet. Neben starken Schmerzen machen Frau Wunderlin eine hartnäckige Verstopfung und Appetitlosigkeit zu schaffen. Ausserdem trinkt sie sehr wenig, die Flüssigkeitsversorgung wird deshalb durch eine Infusion sichergestellt. In der Nacht hat sich die Patientin mehrmals übergeben. Weil sie offenbar auch ihren eigenen Stuhl erbrochen hat, vermuten die Ärzte einen mindestens teilweisen Darmverschluss.
Vor Kurzem war Frau Wunderlin schon einmal hier. Zehn Tage zuvor erst war sie nach Hause zurückgekehrt, wo sie bisher – abgesehen von der Unterstützung durch die Spitex – selbstständig lebte. Dann verschlechterte sich ihr Zustand erneut, und sie wurde wieder ins Spital gebracht. Sie besitzt eine Patientenverfügung, in der sie festgehalten hat, dass sie beispielsweise bei einem plötzlichen Herzstillstand reanimiert werden möchte. Gegenüber der Assistenzärztin hat sie am Vortag erklärt, dass sie jede Art von Diagnostik in Anspruch nehmen möchte, die «sinnvoll» sei. Die Pflegefachfrau erzählt, Frau Wunderlin zeige ein ambivalentes Verhalten. «Auf der einen Seite möchte sie behandelt werden – auf der anderen Seite wehrt sie sich, wenn ich ihr ein Schmerzmittel spritzen will.»
Frau Wunderlins Bett steht dicht an der Wand. Roland Kunz greift nach einem Hocker und setzt sich zur Patientin. «Darf ich mir Ihren Bauch mal ansehen? Exgüsi», entschuldigt er sich. Dann tastet er den Bauch der alten Frau ab, platziert das Stetho...