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Über dieses Buch
Die Rechte und die autoritären Aspirationen mancher Politiker und Regierenden machen uns wieder Angst - die Geschichte darf sich doch nicht wiederholen. Die Linken müssen sich neu aufstellen, müssen kämpfen, damit es in unseren globalisierten Gesellschaften ein Gleichgewicht der verschiedenen Kräfte und Denkweisen gibt. Dabei dürfen sie ihre Wurzeln nicht vergessen - erwachsen aus der Dialektik der Aufklärung besitzen die Linken die stärkste Waffe, die sie progressiv einsetzen können: die Utopie. Nur mit einer Utopie im Gepäck kann die Linke getrost in die Zukunft schauen.
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Information
I
Die Utopie als
ureigene Kraft der Linken
»Utopisch ist ein Bewusstsein,
das sich mit dem
das sich mit dem
es umgebenden ›Sein‹ nicht
in Deckung befindet.«
in Deckung befindet.«
Karl Mannheim in »Ideologie und Utopie« (1930)
Das Hauptproblem der heutigen Linken ist, dass sie die Utopie, ihre ureigene Kraft, die eschatologische Züge trägt, ablehnt und keinen Zugang mehr zu ihr hat. Vor allem die westliche Linke betrachtet die Utopie oft als eine Art Krebsgeschwür oder Atavismus, wahrscheinlich, weil sie keine Erfahrungen mit dem Realsozialismus gemacht hat.
Die sowjetische Umsetzung des Marxismus – die sich selber durchaus als Verwirklichung der Marx’schen Utopie begreift – ist zwar gescheitert, doch fragten wir uns damals in allen sozialistischen Ländern, ob wir den Kommunismus schon erreicht hätten und wenn nicht, spekulierten wir darüber, wie lange es noch dauern würde, bis das gewünschte Ergebnis endlich erreicht werden könnte. Letztlich – und das ist ja eine Pointe des utopischen Denkens – wusste niemand so genau, wie dieses gelobte Land des ewigen Friedens und der ewigen Freiheit durch die Aufhebung jeglicher Klassenwidersprüche eigentlich aussehen sollte.
Gerade Marx als Utopisten zu verstehen, scheint vielen ein Widerspruch in sich: Marx, der gerade das Diesseits, das Überleben, den Klassenkampf in den Mittelpunkt seiner Theorie rückte, war doch das genaue Gegenteil eines Träumers, ein Realist, ein radikaler Umdenker des bestehenden Systems! Das Interessante an Marx’ Theorie ist aber meines Erachtens gerade das Zusammenkommen dieser beiden Extreme. Marx’ Theorie ist deshalb so entscheidend für die Linke, weil sie dialektisch ist, weil sie zwei Schwerpunkte hat, die sich auszuschließen scheinen und so ewig im Dialog bleiben: Der Kampf für soziale Gerechtigkeit, der Aufstand der Arbeiter, wird getragen von der Utopie, der Vorstellung einer neuen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die es noch nie gab und die erst erdacht werden muss. Zugleich aber ist diese Utopie, diese neue Welt, eben keine Träumerei, die auf Wolken thront, sondern fußt auf dem Umbau der real existierenden Gesellschaft. Sie ist erst denkbar im Zusammenhang mit der notwendig auf sie zuführenden, gerechten Gesellschaft; Klassenlosigkeit als notwendig auf Klasse beruhende Utopie. Wenn man diese Dialektik einfach übergeht und meint, eine sofortige Verwirklichung sei schon das marxistische Ideal, kann es gefährlich enden, wie es ja bereits geschehen ist: Denn der Determinismus ist ein gefährliches Pflaster, und was ›jetzt‹ sein sollte, entpuppte sich im institutionalisierten Marxismus als eine Ideologie, die wir Sozialismus nannten.
Lese ich in diesem Zusammenhang Slavoj Žižeks emphatische und manchmal idiosynkratische Erinnerungen an diese Epoche des sozialistischen »Experiments«, das in furchtbaren Diktaturen geendet hatte, fühle ich mich dem slowenischen Philosophen sehr nahe, auch wenn ich seine oft lautstarke Deklaration, er sei Kommunist, mit leichtem Grinsen betrachte. Žižek ist, dringt man tiefer in sein Werk ein, in erster Linie ein exzellenter Dialektiker, der keine Berührungsängste hat, was den revolutionären Terror angeht – sowohl den jakobinischen wie auch den stalinistischen. In Die bösen Geister des himmlischen Bereichs gesteht er: »Die größte Stärke der Jakobiner war nicht die Theatralik des Terrors, sondern ihre utopisch ausufernde politische Vorstellungskraft, was die Neuorganisation des Alltags anging; alles, wirklich alles wurde während der fieberhaften Aktivität weniger Jahre vorgeschlagen: von der Selbstorganisation von Frauen bis zu Gemeindeheimen, in denen die Alten ihre letzten Jahre in Frieden und Würde verbringen können sollten.«
Da die Linke ihre Anziehungskraft und ihren Zusammenhalt nicht mehr aus ihrem utopischen Denken zieht, sucht sie ihr Heil heute in der Realpolitik und damit im Populismus, der doch eigentlich der Treibstoff der Rechts- und Nationalkonservativen ist. Und so las ich mit großem Erstaunen Chantal Mouffes Plädoyer Für einen linken Populismus, ein in der Tat faszinierendes Buch, in dem aber eine sehr kühne These aufgestellt wird. Mouffe schreibt: »Die sozialdemokratischen Parteien, die in vielen Ländern bei der Implementierung einer neoliberalen Politik eine wichtige Rolle gespielt haben, sind außerstande, die Tragweite des populistischen Moments zu begreifen und sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. In ihren postpolitischen Dogmen gefangen und unwillig, ihre Fehler zuzugeben, können sie nicht erkennen, dass viele der von rechtspopulistischen Parteien artikulierten Forderungen demokratische Forderungen sind, die einer progressiven Antwort bedürfen.«
Didier Eribon, Slavoj Žižek, Francis Fukuyama, Chantal Mouffe, Bernd Stegemann wie auch Sahra Wagenknecht und im Kontext des rechten Populismus Jan-Werner Müller und Volker Weiß beleuchten schon seit vielen Jahren den Wandel der Prioritäten, der bei der Linken stattgefunden hat. Prinzipiell ist der Tenor bei allen gleich: Das Prekariat sei sich selbst überlassen worden und deshalb massiv zu den Rechten und Identitären abgewandert, während sich die Linken auf einen Kreuzzug gegen Rassismus, Sexismus, Xenophobie, Homophobie, Misogynie, Umweltzerstörung und Kapitalzentralisierung gemacht hätten. Dabei hätten sie sich oft belehrend und moralistisch über das Prekariat und ihre ehemalige Wählerschaft, die Arbeiter, gestellt, da sie auf ein kulturell und gesundheitlich erfülltes Leben besonderen Wert legten – ein stilles Arrangement mit der liberalen Finanzwelt und den Unternehmern sei daher vorprogrammiert. Die Sozialdemokraten hätten es vorgemacht, und die Grünen vervollkommneten diesen Weg der verschiedenen Arrangements mit der Wirtschaft.
Wenn ich diesen Einschätzungen auch zustimme, so läuft mir bei dem Begriff »linker Populismus« dennoch ein Schauer über den Rücken: Die sogenannte Diktatur des Proletariats und den historischen Determinismus (›Stalin tötet Trotzki‹) musste ich zum Glück nicht miterleben, doch der Populismus der Kommunisten in meiner Volksrepublik Polen, in der ich von 1968 bis 1985 gelebt habe, war heuchlerisch und auf den Nepotismus ausgerichtet, weswegen ich nach meiner Ankunft in Westdeutschland über Rudi Dutschkes und Gaston Salvatores Naivität schmunzeln musste. Sie haben beide das marxistisch-hegelianische Gift, dass die Zeiten ihre Erfüllung in einer progressiven und freien Gesellschaft finden müssen – praktisch in einer Art Erlösung aller Klassen und Gegensätze –, nur als einen ideologischen Glauben gekannt. Ich wusste aus dem Sozialismus, dass sich die Gegensätze und Widersprüche nie werden auflösen lassen. Und trotz all der Zweifel ging es damals, und zwar insbesondere im Stalinismus, ausschließlich um die Frage des Glaubens, eines ›Neuen Glaubens‹, der der einzig richtige war und der keine anderen Vorstellungen duldete.
Mouffe weiß natürlich, und schreibt darüber auch in ihrem Buch, dass das oberste Ziel und damit die wichtigste Aufgabe der marxistischen Utopie, mit der der Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion nicht fertigwerden konnte, der vollständige Abbau jeglicher regierenden Eliten ist. Nur so kann es den freien Menschen, ›den Neuen Menschen‹ geben, nur so wird er zum gerechten Schmied seines eigenen Schicksals und der Gemeinschaft. Sie erklärt in ihrem Buch gleich zu Beginn, dass sie sich vor allem auf Westeuropa konzentrieren wolle – Osteuropa sei ein anderes Thema und würde zu weit führen. Das scheint mir mindestens verwunderlich, denn es ist doch gerade Osteuropa, in dem sich das Thema ihres Buches – der linke Populismus – verwirklicht hat. Und mit welchem Ergebnis, wissen wir. Kołakowski, der 1968 aus Polen in den Westen ins Exil gegangen war, in Oxford Philosophie gelehrt und der in den Siebzigern ein dreibändiges Werk zum Marxismus veröffentlicht hatte, kannte die marxistische Verführung allzu gut: Sein Parteiausschluss erfolgte erst 1966, nachdem er an der Warschauer Universität einen kritischen Vortrag über die Kultur, Partei und den »Polnischen Oktober« 1956, das Tauwetter, gehalten hatte. Dort lesen wir: »Die Linke scheidet Utopien aus, wie die Bauchspeicheldrüse Insulin ausscheidet – aufgrund einer angeborenen Gesetzmäßigkeit. Die Utopie ist das Streben nach Veränderungen, die sich ›in Wirklichkeit‹ nicht durch sofortiges Handeln realisieren lassen, außerhalb der sichtbaren Zukunft stehen und keiner Planung unterliegen.«
»Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«: Gerade die geistige, intellektuelle und progressive Stärke der Linken, die keine Angst hatte, in Odysseus’ abenteuerlicher Heimreise den Beginn der Aufklärung und damit der Moderne, der Mündigkeit des Menschen, zu sehen, sichert ihr Überleben – und ihre Notwendigkeit – in der Zukunft.
Wenn man heute die Linke definieren will, fragt man sich oft zu Recht, ob das nicht ein etwas sinnloses Unterfangen sei. Die theoretischen und historischen Grundideen scheinen unserer heutigen Zeit nicht mehr viel zu sagen zu haben, weshalb sie sich in dieser veränderten Welt neu einrichten zu müssen glaubte – sei es im Populismus, sei es in identitätspolitischen Kämpfen. Seit den Publikationen des genialen wie umstrittenen Neomarxisten Georg Lukács ist nicht nur viel Zeit vergangen – seine Analyse der Verdinglichung des Menschen im Kapitalismus erschien ja 1923 … –, seine Erkenntnisse greifen auch heute nicht mehr, denn Marx und einer seiner talentiertesten Schüler konnten eines nicht vorhersehen: dass wir durch die technologische Entwicklung, durch das Internet, die Digitalisierung und die industrielle Umweltzerstörung eine Vielzahl globaler Probleme schaffen würden, die uns alle gleich machen – unabhängig davon, ob wir reich oder arm, gebildet oder ungebildet sind.
Diese Gleichheit hat aber – und das wird allzu oft übersehen – nichts damit zu tun, was Gleichheit bei Marx oder Lukács bedeutet. Heute sind wir vermeintlich gleich, was die Bedrohung unseres Lebens angeht: Wir sollen gemeinsam gegen die Klimaerwärmung kämpfen, da wir alle auf den Erhalt der Erde angewiesen sind. Dieses Gemeinsame ist heute meines Erachtens das genaue Gegenteil dessen, was Marx vorschwebte: Dies gemeinsame Schicksal nämlich kettet uns fest an die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft, es rechtfertigt, dass Arme arm, Benachteiligte benachteiligt bleiben. Hier geschieht, was ich eingangs sagte: Die scheinbare Utopie vergisst ihren Grund, die Gerechtigkeit ›auf Erden‹. Diese scheinbare Utopie träumt von einer Welt der gesunden Natur, die den Klassenkampf – um mit Marx zu sprechen – einfach übergeht. Das also ist die fehlende Dialektik, die ich meine, sie ist es, die den Untergang der Linken bedeuten muss.
Ein weiteres grundlegendes Problem ist das Verhältnis der Linken zum Kapitalismus: Jedenfalls beschäftigt sich die heutige Linke weder mit dem Klassenkampf und -bewusstsein noch mit dem Problem der Verdinglichung im Kontext der Ausbeutung der Arbeiter und des Verkaufs der Ware – warum sollte sie das auch tun? Der Kapitalismus hat seine einstigen Sklaven, die billigen Arbeitskräfte, längst als ehrenvolle Konsumenten, als eine wunderbare Kaufkraft entdeckt, die man nicht ignorieren darf. Mehr noch, wir haben uns heute sogar überall daran gewöhnt, dass der Mensch in unserer Konsumgesellschaft selbst zum Produkt geworden ist, wie es Zygmunt Bauman6 und andere Soziologen gezeigt haben. Lukács noch schreibt in seinem revolutionären Werk Geschichte und Klassenkampf, mit dem er neben Gramsci den Neomarxismus entscheidend mitgeprägt hatte, über die Verdinglichung und Entzauberung des Menschen im kapitalistischen System und das bereits wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: »Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozeß als dessen eigentlicher Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, das er fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend vorfindet, dessen Gesetzen er sich willenlos zu fügen hat.« Lukács spricht von »einem mechanischen System«, von dem der mechanisierte Mensch, der verdinglichte, ein bloßer Teil sei.
Ich bin in einem politischen System aufgewachsen, das kraft seiner kommunistischen Ideologie geschlossen und positiv war: Es gab nur ein einziges Ziel, nämlich das Positive dieses Systems jeden Tag zu loben und zu betonen, denn wir waren ja dem kapitalistischen Westen überlegen, fortschrittlicher in jeder Hinsicht. Ein mechanisches, abgeschlossenes System, dessen Teile – die mechanisierten Bürger – alle gleich waren. Zugleich war es aber selbst Marxisten, Trotzkisten, Linken und Sozialisten damals möglich, das kommunistische Regime an den Pranger zu stellen – nicht nur Atheisten oder Liberalen oder Konservativen, die sich erst nach 1990 im Ostblock quasi ›outen‹ konnten, weil der gemeinsame Feind – der autoritäre Kommunismus – tatsächlich ausgedient hatte und abgeschafft wurde, wirklich zerlegt und abgeschafft, wenngleich seine zahlreichen Profiteure weiter wirken konnten – unter neuen Fahnen, Prämissen und Konstellationen.
Das ist keine Verschwörungstheorie – es war ja unmöglich, das Böse und das Gute manichäisch sofort zu trennen, die Täter und die Opfer eindeutig zu klassifizieren und juristisch auseinanderzuhalten, da in den Jahren 1989 bis 1992 die Aufbruchstimmung allen eine neue Chance geschenkt hatte. In Polen war man natürlich stolz auf den ›Runden Tisch‹, auf die Gespräche zwischen der Opposition und den Regierenden, weil es nicht zum Blutvergießen kam wie in Rumänien. Aber das bedeutete nicht, dass man sich entspannt zurücklehnen konnte. Nein, man hoffte, in den Widersprüchen ein Licht der Versöhnung zu finden, und selbst die schärfsten Kritiker dieser Versöhnung mit den Tätern hatten Hoffnung, dass die Zukunft bessere Zeiten mit sich bringen werde. Aber es war eine dialektische Transformation, in jeder Hinsicht, kollektiv und psychologisch, privat und politisch. Adorno schreibt treffend in seinem Buch Negative Dialektik über die Macht der dialektischen Kritik an der Wirklichkeit, natürlich im Kontext der Werke von Hegel und Marx: »Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation. Einzig in ihr lebt der systematische Zug fort. Die Kategorien der Kritik am System sind zugleich die, welche das Besondere begreifen. Was einmal am System legitim das Einzelne überstieg, hat seine Stätte außerhalb des Systems.«
Wir leben in einer postkapitalistischen und globalisierten Welt, in der Marx und Lukács als Ideengeber und Ideentheoretiker für den Alltag in West- und Mitteleuropa (Milan Kunderas Zentraleuropa) keine große Bedeutung mehr haben; eigentlich genauso wenig Bedeutung, wie der Lukács Kritiker Theodor W. Adorno. Für die Politik und die heutigen Identitätsbewegungen zumindest spielen diese Namen und ihre Ideengeschichtsforschung keine Rolle, sie erleben im Feuilleton und in den Frankfurter Restaurants mit weißen Tischdecken und grau gewordenen Intellektuellen hin und wieder eine Renaissance, aber mehr aus Nostalgie, Pflichtbewusstsein (kulturgeschichtliche Massage) und Spekulation darüber, was denn heute aus dieser Schule noch relevant sei.
Als meine Mutter neulich sah, dass ich Adornos Negative Dialektik von 1966 mit Bleistift und Pagemarkern in der Hand lese und nur langsam vorankomme (nach 30 Jahren zum zweiten Mal), schrieb sie mir auf WhatsApp ein paar Tage später, Adorno gelte als besonders schwer zu lesender oder zu verstehender Autor. Sie erinnerte sich zumindest an ihn, weil sie in Danzig Polonistik studiert hatte. Das war Ende der Siebziger, kurz vor den Streiks in Danzig und der Herausbildung der Solidarność. Lukács, ja, an den erinnere sie sich auch, schemenhaft, aber die Frankfurter Schule habe sie beeindruckt. Es ist stets falsch, urteilt man über jene Zeit des Aufbruchs, Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn (um in Milan Kunderas scharfsinnigen Konzentration auf Zentraleuropa zu bleiben) seien in ihrer Kritik des kommunistischen Regimes irrational gewesen, wusste man doch, dass es keine Chance gab, die Sowjetunion in die Knie zu zwingen und den Warschauer Pakt aufzulösen. Ein dummer Gedanke, nicht realisierbar – so lautete damals das Urteil. Und trotzdem war diese Negation der kommunistischen Wirklichkeit absolut richtig und notwendig gewesen. Sie konnte für eine Utopie – und diese Kritik war damals im Ostblock eine Utopie – die Grundlage schaffen, für den geistigen und politischen Fall der Mauer. Es ist sehr wichtig, dass man diese aussichtslose Lage, in der sich die Menschen im Ostblock befanden (der Sozialismus werde noch mindestens hundert Jahre dauern, so sprachen wir damals), nicht nur im Kontext des romantischen Kampfes sieht, im Kontext der Spontanität und des Zufalls und der Sehnsucht nach Freiheit.
Utopie heißt hier, das Andere denken, die Wirklichkeit dialektisch betrachten. Diese Haltung ist es, die die Linke für sich zurückgewinnen muss, anstatt den Kampf für die Arbeiter einfach auf einzelne Gruppen – auf Wählergruppen, also potenzielle Wähler – zu übertragen. Wer zum Beispiel in einer der gigantischen Warenhallen von Amazon in der Nähe von Wrocław arbeitet, lebt im Vergleich zu den Arbeitern des 19. Jahrhunderts wie ein König, als ...
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- IDie Utopie als ureigene Kraft der Linken
- IIVom imaginierten Ende her …
- III… einen neuen Anfang denken
- Anmerkungen
- Bibliografie