1 Methodologische Einführung
1.1 Überblick
Methodologie, allgemein Wissenschaftstheorie, stellt Regeln für das Erzeugen von Wissen, also von Theorien auf. Eine generelle Einführung in die Wissenschaftstheorie ist hier nicht am Platze. Auch ist es nicht sinnvoll, eine besondere Methodologie der Theorie des Konsumentenverhaltens (fortan abgekürzt KV) aufzustellen. Hilfreich ist es aber zu wissen, was genau der Gegenstand dieser Theorie ist, woher ihre Bausteine stammen und wie sie gewonnen worden sind, wofür sie anzuwenden ist und welchen Wert sie haben. Das ist mit »methodologische Einführung« in die Theorie des KV gemeint.
Das Erkenntnisobjekt der Erforschung von KV ist der einzelne Mensch in seiner Rolle als Konsument. In verstaubter Sprache, wie sie immer noch von Juristinnen und Politikern benutzt wird, sind Konsumentinnen Verbraucherinnen, obwohl Konsum durchaus nicht immer »verbrauchen« im Sinne von Aufzehren bedeutet, aber immer »nutzen«. Mit Nutzer-Gesamtheiten (makro) befassen sich die Konsumsoziologie, die Sozialökonomie und die VWL. Das Marketing geht vom Verhalten der Individuen aus, betrachtet nur indirekt Makro-Aggregate, z. B. zu Zielgruppen zusammengefasste Konsumenten. Direkt geht es (mikro) um das Individuum Konsument. Aus Aussagen über Individuen können aber durch Aggregation Aussagen über Zielgruppen gemacht werden. Trotz der somit vorherrschenden Individual- bzw. Mikrosicht des KV sind als Einflüsse darauf auch Konstrukte relevant, die soziale Aggregate beschreiben, z. B. Werte oder Kulturen, denen die Konsumentin unterworfen ist.
Das Forschungsfeld KV gehört zu den Verhaltenswissenschaften. Das sind wissenschaftliche Disziplinen, die (meist empirisch) Entscheidungsprozesse, Aktivitäten und Interaktionen von Lebewesen, also auch von Tieren erkunden. KV umfasst daraus eingrenzend wahrnehmbares oder mit technischen Hilfsmitteln erfassbares Verhalten von Menschen, das zur Beschaffung und Nutzung von materiellen und immateriellen Gütern führt. So gilt als KV nicht nur der käufliche Erwerb von Produkt-Eigentum bzw. -Besitz, z. B. durch Mieten (Leasen). Nicht nur das Kaufen selbst ist Gegenstand der Theorie, auch das Nutzen und Entsorgen. Dabei geht es nicht nur um physische Produkte, sondern auch um immateriell Nützliches (Dienstleistungen).
Aus Marketingsicht steht aber nicht die Tätigkeit des Konsumierens im Vordergrund, sondern die Eigenschaften einer Person als potenzieller Kunde. Statt des treffsichereren Ausdrucks Zielkunde bzw. Zielkundenverhalten haben sich die Begriffe Konsument bzw. Konsumentenverhalten (consumer behavior) etabliert. Konsumieren bedeutet über das Nutzen hinaus auch das Entscheiden und das Zahlen. So gibt es fünf Marketing-relevante Aspekte der Konsumentin:
1. Alle drei Funktionen sind in einer Person vereinigt (der allgemeine Fall),
2. jemand ist Entscheider und Zahler, aber nicht Nutzer (z. B. Schenker),
3. jemand ist Entscheider und Nutzer, aber nicht Zahler (z. B. Stipendiat in einem Kurs)
4. jemand ist Zahler und Nutzer, aber nicht Entscheider (z. B. Privatpatient, der ein Medikament verordnet bekommt),
5. jede der drei Funktionen liegt bei verschiedenen Personen (z. B. Kassenpatient, der ein Medikament verordnet bekommt).
Außerdem treten Vermischungen der drei Funktionen auf, insbesondere bei Einflussnahme des Zahlers bzw. der Nutzerin auf die Kaufentscheidung. Das KV kann nach diesen Fällen verschieden sein, z. B. hinsichtlich der Preisakzeptanz. Wir behandeln in der Regel Fall 1. (alle drei Funktionen in einer Person) und weisen ggf. auf Abweichungen hin. Die nachfolgenden Ausführungen fokussieren Handlungen privater Endkonsumenten. Die meisten Erkenntnisse können aber auf zwischenbetriebliche Kaufbeziehungen (B2B-Marketing) übertragen werden.
Die Methodologie wird allgemein in Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang unterschieden. Kapitel 1.2 befasst sich mit Aspekten des Verwendungszusammenhangs der KV-Theorie und stellt dieses als Teil der Marketinglehre dar. Anwendungsgebiete sind aber über das kommerzielle Marketing hinaus das soziale Marketing, die Verbraucherpolitik, die Wirtschaftspolitik und das Wettbewerbsrecht. Kapitel 1.3 betrachtet den Entdeckungszusammenhang. Es werden ökonomische, psychologische und naturwissenschaftliche Disziplinen angeführt, aus denen die KV-Forschung schöpft.
Danach geht es um verschiedene Probleme aus dem Begründungszusammenhang. Dabei werden in Kapitel 1.4 Maßstäbe dargelegt, nach denen Aussagen für die KV-Theorie zu beurteilen sind. Kriterien für die Qualität von Aussagen sind der Gehalt und der Bewährungsgrad dieser Aussagen. Als anwendungsorientierte Theorie sind auch Aussagen mittleren Gehalts (mittlerer Reichweite) zu berücksichtigen. Kapitel 1.5 führt in die kausalanalytische Theoriebildung ein. Das bedeutet nicht Erforschung eines allumfassenden Totalmodells des KV. Vielmehr geht es hier um praktisch umsetzbare Teilmodelle. Sie beruhen auf Verknüpfungen theoretischer Konstrukte, die über Indikatoren messbar (operationalisiert) sind. Neben der klassisch-experimentellen Kausalforschung wird auch die auf vorliegenden Daten beruhende (sekundäranalytische) Kausalforschung vertreten.
In Kapitel 1.6 wird die Systematik der in der KV-Theorie verwendeten Konstrukte erklärt. In Kapitel 1.7 wird schließlich die Methodologie des Messens für die Entwicklung und Anwendung der Theorie skizziert. Strukturgleichungsmodelle liefern dazu den Bezugsrahmen, nämlich als Messung eines Konstrukts mit mehreren Indikatoren. Dabei ist Gültigkeit (Validität) die letztlich relevante Eigenschaft. Sie ist nicht direkt erfassbar, aber indirekt über logische Vorbedingungen, die relativ einfach beurteilt werden können.
1.2 Anwendungen
Theorien dienen der praktischen Lebensbewältigung. Die KV-Theorie dient Entscheidungsproblemen im Marketing, d. h. primär dem Erfolg des Unternehmens, dadurch aber auch der Prosperität der Volkswirtschaft und letztlich der Lebensqualität der Konsumenten. Der kommerzielle Nutzen wird klar, wenn man bedenkt, dass Kundenorientierung der wichtigste kommerzielle Erfolgsfaktor ist und dass es großer Anstrengungen bedarf, kundenorientiertes Agieren zu fördern, nämlich als »Denken und Fühlen mit dem Kopf des Kunden«.
Für die Konsumentinnen selbst ist es interessant zu verstehen, was das Marketing mit ihnen macht, mit welchen theoretisch fundierten Sozialtechniken sie beeinflusst werden und wie man sich davor schützen kann nach dem Motto »Gefahr erkannt – Gefahr gebannt«. Wenn doch die Verbraucherpolitik die wesentlichsten KV-basierten Marketingtechniken zur Kenntnis nehmen würde! Stattdessen geht sie immer noch weitgehend von der Fiktion des rationalen, mündigen Verbrauchers aus und ignoriert die im weiteren Sinne unterschwelligen Einflüsse auf das KV.
Das kommerzielle Marketing ist also – nolens volens – Hauptnutzer der KV-Forschung. Deshalb soll zunächst ein kurzer Überblick zu diesem Verwendungszusammenhang gegeben werden. Dann soll gezeigt werden, wie die Erkenntnisse auch in nichtkommerzielle Entscheidungen einfließen (können), so in das soziale Marketing, die Verbraucherpolitik in die Wirtschaftspolitik und sogar in politische Wahlstrategien.
Gemeinhin werden vier Marketinginstrumente unterschieden:
• Preispolitik
• Kommunikationspolitik
• Produktpolitik
• Distributionspolitik
Bei jedem Instrument fließen Aussagen der KV-Forschung ein, weil Marktreaktionen auf diese Instrumente besonders vom Verhalten der Konsumenten abhängen.
So wird für die Preispolitik nach Gesetzmäßigkeiten gesucht, die das vom Preis abhängige KV ausdrücken. Dazu gehört zumindest eine Preis-Absatz-Funktion (PAF), also eine Funktion, die die Wirkung von Preisänderungen auf den Absatz quantitativ ausdrückt. Praktisch ist die Bedeutung der PAF geringer, weil sie meistens nicht in genügender Präzision und Allgemeingültigkeit bekannt ist, sondern nur mit viel Aufwand im speziellen, zeitlich begrenzten Einzelfall. Über die praktisch also nur begrenzt bedeutsame PAF hinaus liegen aber viele allgemeine Aussagen der KV-Forschung für preispolitische Entscheidungen vor, z. B. darüber, welche Faktoren die Durchsetzbarkeit hoher Preise beeinflussen, inwieweit Preise in bestimmten Situationen und Marktsegmenten als Maßstab für Qualität, für Prestige oder nur als Kostenfaktor angesehen werden usw.
Die Kommunikationspolitik stützt sich stärker als die Preispolitik auf – ausdrückliche oder dem Werber vorschwebende – Ursachenaussagen zum KV: Wann wirken Wiederholungen des Kontakts mit der Werbeaussage günstig auf die Markenbekanntheit, wann setzen Abstumpfungseffekte ein, wann kann viel Text zugemutet werden, wann Angstappelle oder Erotik, wie wirkt glaubwürdige Werbung in unglaubwürdigen Medien, wann wirkt sogar als unglaubwürdig aufgemachte Werbung besonders gut? Selbst sehr managementnahe Fragen wie die nach einer pro- oder antizyklischen Verausgabung des Werbebudgets können leichter entschieden werden, wenn Erkenntnisse über Lernen und Vergessen berücksichtigt werden.
Die Produktpolitik nutzt KV-Forschung besonders zur Segmentierung von Märkten für unterschiedliche Produktvarianten und für die Produktpositionierung. Dazu gehören Überlegungen zur Gestaltung neuer Produkte sowie zur gezielten Veränderung von alten, am Markt befindlichen Produkten (»relaunch«). Die Aussagen befassen sich mit Alternativenbewertung, Einstellungen, Werten, Trends, mit Innovationsbereitschaft, Risikoneigung, Markentreue usw.
Die Distributionspolitik nutzt u. a. folgende Hinweise aus der KV-Forschung: Welchen Einfluss haben Typen- und Standortpräferenzen auf das Einkaufsverhalten im Handel? Wie steht es mit den Gewohnheiten der Konsumentinnen, bestimmte Produkte in bestimmten Mengen und Zeitabständen einzukaufen? Wie verhält sich der Konsument typischerweise im Supermarkt? In welcher Reihenfolge sucht er bestimmte Geschäfte auf und welche Produktgruppen kauft er dabei im Verbund? Wie hat sich das Einkaufsverhalten durch E-Commerce verändert?
Die digitale Transformation verändert Märkte und Marketing mit entsprechend neuen Fragestellungen für die KV-Forschung. Plattformmarken wie beispielsweise Airbnb und Uber kreieren neue Märkte, in dem sie vormals getrennte Marktteilnehmer zusammenbringen. Jeder, der über ein Auto oder eine Wohnung verfügt, wird so potentiell zum Taxifahrer oder zur Herberge. Ob, wann und wie Menschen solchen Angeboten vertrauen, ist dann Gegenstand der Konsumentenverhaltensforschung.
Digitally Native Vertical Brands (DNVB) werden Marken genannt, die im Internet geboren wurden und dort die eigene Distribution kontrollieren. Hello Fresh liefert in Kochboxen Lebensmittel und Rezepte (www.hellofresh.de) direkt an die Konsumentin, der Dollar Shave Club (www.dollarshaveclub.com) bündelt Shave Essentials zum automatischen Abonnement für den Konsumenten. Beide Marken kommunizieren intensiv über Social Media mit ihren Kunden und versuchen jede Integration von oder Kooperation mit Drittanbietern zu vermeiden.
Freemium ist eine Kombination der Wörter »free« und »Premium«. Gemeint ist eine Preisstrategie, bei der ein Basisprodukt oder eine Basisdienstleistung kostenlos bereitgestellt wird, zusätzliche Funktionen aber entgeltpflichtig sind. Musik kann man auf Spotify schon im Gratiskonto hören. Die störenden Werbeunterbrechungen entfallen aber erst, wenn Spotify Premium für z. Zt. 9,90 Euro ...