
eBook - ePub
Mythos und Schuld
Verbrechen und Strafe der Menschheit
- 556 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Über dieses Buch
In diesem Buch interpretiert Reik die biblische Sündenfallgeschichte (Gen 3) psychoanalytisch. Dabei werden sowohl die Folgen der bösen Taten der Menschen für das Individuum ausgeführt als auch die Folgen verbrecherischer Handlungen eines Diktators für sein Volk. Völkerpsychologisch gesehen sind die Ausführungen, die Reik nach dem Ende des 2. Weltkriegs formuliert hat, gerade heute wieder hochaktuell.
Häufig gestellte Fragen
Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
- Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
- Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Mythos und Schuld von Theodor Reik, Hans-Joseph Olszewsky im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophie & Geschichte & Theorie der Philosophie. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.
Information
Zweiter Teil
Das Verbrechen
Umsonst, dass trocknes Sinnen hier Die heil’gen Zeichen dir erklärt: Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir, Antwortet mir, wenn ihr mich hört! Faust, Studierzimmer
Kapitel VII
Die Interpretationen
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, eine Geschichte der Interpretationen der Sündenfallgeschichte vorzulegen. Wir weisen den Leser auf die detaillierten Überblicke hin, die Feldmann, F. R. Tennant39, Williams40 und andere biblische Gelehrte präsentieren.41 Wir beschränken uns auf einen kurzen Überblick über die verschiedenen Erklärungen und auf das Verfolgen der Literatur über den Gegenstand bis in die Gegenwart.
Es ist leicht, die Erklärungen der Kommentatoren nach ihrer Grundhaltung zum Text in theologische und wissenschaftliche Gruppen zu teilen. Unter jenen, die sich der Genesiserzählung im Geist des religiösen Glaubens nähern, haben die Anhänger einer literarischen Deutung Vorrang. Gläubige dieser Art gibt es seit der frühen nachexilischen Zeit bis in die Gegenwart; heute erklären die Fundamentalisten, dass die Bibel literarisch wahr und von Gott inspiriert ist. Sie bestehen darauf, dass Gott das Universum im Jahr 4004 v. Chr. innerhalb einer Woche schuf, den Menschen wirklich aus Staub machte und die Frau aus der Rippe des schlafenden Adam bildete. Die Schlange war nach Josephus und älteren jüdischen Kommentatoren mit menschlicher Sprache ausgestattet. Luther sagt, dass das Tier „aufrecht wie ein Hahn gestanden haben muss“. Fundamentalisten zögerten nicht, die biblische Geschichte schmackhafter zu machen, indem sie sie mit vielen Details ausschmückten. Luther erzählt uns, dass das erste Paar den Garten zu Mittag betrat und Eva, weil sie Hunger verspürte, den Apfel aß. Das Essen der Frucht und der Sündenfall des Menschen fanden also zur Lunchzeit statt. Mittags war es sozusagen dunkel.
Einige Kommentatoren dieser Gruppe erklären, dass das paradiesische Leben der ersten Eltern von sehr kurzer Dauer war. Im Buch der Jubiläen dauerte das Leben mit dem Vater sieben Jahre, aber nach Josephus dauerte es nur wenige Tage. Luther begrenzte es auf einen Tag. Friedrich Schillers Don Carlos erklärt:
Ein Augenblick, gelebt im Paradiese Wird nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.
Die literarische Deutung der Sündenfallgeschichte hat ihr Gegenstück in der allegorischen Art der Erklärung. Für diese Gruppe ist die biblische Erzählung sozusagen ein allegorisches Rätsel, dessen Lösung relativ einfach ist. Für den jüdischen Philosophen Aristobulus, der etwa 150 v. Chr. zu den Büchern von Mose einen Kommentar schrieb, bezeichnen Adam und Eva Vernunft und Sinnlichkeit; die Schlange symbolisiert sexuelles Verlangen. Sie frisst Staub, weil sie sich nach irdischem Vergnügen sehnt. Bei der Schlange dreht sich alles um das sexuelle Verlangen. Die ersten Kirchenväter, Clemens, Origenes, Ambrosius folgten den allegorischen Interpretationen von Aristobulus und vom Alexandriner Philo, der einige Jahrzehnte vor Christus lebte. Sogar Augustinus erklärt die vier Flüsse der Genesisgeschichte als die vier Tugenden, die Schlange als den Teufel, die Saat der Frau als gute Werke. Solche allegorische Interpretation setzt sich bis an die Schwelle unserer Zeit fort. 1782 lehrte Drede, dass die Frau die jüdische Synagoge bezeichne, die Schlange den Teufel und die Feindschaft zwischen den beiden sei jene zwischen dem mosaischen Gesetz und Satan.
Die Vorstellung des Sündenfalls als einem sexuellen Akt war und ist unter Theologen weit verbreitet und sogar Ethnologen stellen sich die Genesiserzählung als eine mythologische Erzählung vor. Zum Beispiel gab H. Reinach 1826 die folgende Erklärung: Die Menschen wussten zuerst nichts über die Unterschiede der Geschlechter. Aber Eva sah Lämmer, wie sie an der Brust ihrer Mutter saugten und in ihr erwachte der mütterliche Trieb. Listig sprach sie (als Schlange) zum Mann: „Sollten wir allein von der Lust, Kinder zu haben, ausgeschlossen sein? Lass es uns tun wie die Tiere.“
Eine Denkrichtung, die zwischen der literarisch-historischen und der extrem-symbolischen Vorstellung steht, glaubt an den wesentlich historischen Charakter der Erzählung, aber sie nimmt auch an, dass sie Ausdrücke und Ideen enthält, die bildlich verstanden werden müssen. Der Kirchenvater Ambrosius argumentiert (in De Paradiso, Cap. XIV), dass man nicht behaupten kann, dass Gott spazieren ging, wie es in der Genesiserzählung beschrieben ist, da er allgegenwärtig ist. Es war nicht eine von außen kommende Stimme, die Adam fragte: „Wo bist du?“, sondern die Stimme seines schlechten Gewissens. Athanasius berichtete, dass die Väter in Hinsicht auf die verbotene Frucht nicht übereinstimmten. Einige vermuteten, dass es eine Feige war, andere sagten, dass es eine spirituelle Frucht war, während andere sie sich als Evas Attraktivität vorstellten. Ob sie dazu neigten, an die literarische Bedeutung der Geschichte zu glauben oder ob sie in ihr eine symbolische Manifestation sehen, vermuteten Theologen, dass die Genesiserzählung die Verschlechterung der Menschheit als Strafe für die Sünde des Menschen beschreibt. In diesem Sinn dachten sie, dass zumindest ein Kern historischer Wahrheit in der Geschichte enthalten ist.
Die mythologische Vorstellung, die nach dem Ende des 18. Jahrhunderts erfolgreich wurde, sogar innerhalb protestantischer theologischer Kreise, behauptet fast das Gegenteil. Die Genesiserzählung erklärt nicht die Verschlechterung der menschlichen Situation, sondern erklärt gerade den nach oben gerichteten Moment in der Entwicklung der Menschheit, den Fortschritt in der Evolution vom niedrigeren zu einem höheren Status. Nach dieser Ansicht ist die Geschichte nicht der Bericht eines historischen Ereignisses, sondern ein Mythos oder ein Märchen.
Als Vorläufer solcher mythologischer Vorstellungen behandelte der römische Philosoph Celsus (etwa 178 n. Chr.) die Genesiserzählungen mit Verachtung und hielt sie für Altweibergeschichten der Juden, die ein ungebildetes Volk wären ohne irgendein Wissen von dem, was Hesiod und andere Schriftsteller zu sagen hätten. Er berichtete, dass die Christen jenen Geschichten allegorische Erklärungen geben, die, wenn möglich, sogar absurder sind als die Mythen selbst. Ein Jahrhundert nach den Polemiken von Celsus gegen das Christentum spricht ein anderer Philosoph, Porphyrios, von jenen Erklärungen mit bitterem Sarkasmus und Ironie und klagt Origenes, der in griechischer Kultur aufwuchs, an, von den Griechen die Methoden zu stehlen, um jene miserablen jüdischen Mythen auf symbolische Art zu erklären. Julian Apostata betrachtet jene Mythen als Fabeln und absurdes Zeug. Es ist unsinnig anzunehmen, dass Gott die Erkenntnis von Gut und Böse verboten hätte. Da solches Wissen ein Gewinn für Menschen ist, könnte man den Teufel für einen Wohltäter der Menschheit halten. Gnostiker sehen im Sündenfall des Menschen den ersten Schritt zum Verstehen. Die moderne rationalistische Vorstellung der Sündenfallgeschichte kann auf deutsche Philosophen vom Ende des 18. Jahrhunderts, auf Herder, Kant und Schiller, zurückgeführt werden. Kant sieht in der Geschichte den Fortschritt vom Instinkt zur Vernunft. Nach Friedrich Schiller ist die Geschichte von Adam und Eva die Erzählung, wie der Mensch von einem rein pflanzlichen Leben zu seiner Bestimmung durch Vernunft findet. Der offenbare Ungehorsam gegen das göttliche Gebot ist nichts anderes als das sich Abwenden vom Instinkt. Es ist der erste Ausdruck der spontanen Aktivität des Menschen, der erste verwegene Akt des Urteilens und zweifellos das glücklichste und größte Ereignis der menschlichen Geschichte. Der Philosoph wird es für einen „gigantischen Schritt vom Fortschritt der Menschheit halten“.42 Der rationalistischen Vorstellung der Sündenfallgeschichte war eine Mehrheit von Exegeten und Kommentatoren gefolgt und sie wurde später von Anthropologen und Kulturhistorikern übernommen. Julius Wellhausen43 stellt sich das Material der Geschichte als eine historisch-kulturelle Reflexion vor. Mit dem Fortschreiten der Zivilisation tritt die Ehrfurcht vor Gott zurück. Die Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet nicht allgemeine Anerkennung und betrifft nicht die moralische Seite. Das verbotene Wissen ist die Einsicht in das Wirken Gottes, besonders in das, was nützlich und schädlich ist. Die Interpretation von Rudolf Smend44 und anderen Kommentatoren nennt die Erkenntnis, das Wissen vom Nützlichen und Schädlichen, ein göttliches Vorrecht. Solche Anmaßung von Gottes Privileg bedrohte Jahwes Position, und so verlor der Mensch, der sein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte, durch seine eigene Schuld die ursprüngliche Glückseligkeit. Hermann Gunkel45 hält die Geschichte vom Sündenfall für einen ätiologischen Mythos; er versucht auf die lebenswichtigsten Probleme der Menschheit eine Antwort zu geben. Die erste Erkenntnis ist das Wissen vom Unterschied der Geschlechter, das die Erwachsenen besitzen und die Kinder nicht. Dieses Wissen macht den Menschen Gott ähnlich oder gleich. Nach Gunkel besitzt der Sündenfall keinen zentralen Platz in der Geschichte und ist nur ein sekundärer Zug. Er sollte erklären, warum der Mensch jenes Wissen besitzt, aber das Paradies verlor. Edgar Sellin46 denkt, dass der Mensch den Status der Vernunft durch das Essen der Frucht bekam und den Status der Kindheit überwand.
Die mythologische Vorstellung der biblischen Geschichte, wie sie in den Büchern jener Gelehrter erscheint, kann man auch in den Interpretationen von Anthropologen und Ethnologen finden. Sie betrachten die vielen Transformationen, denen der Urmythos unterzogen worden ist, aber sie suchen nach seiner ersten Form und seiner ursprünglichen Bedeutung. Die hebräische Geschichte wird nochmals unter den Gesichtspunkten moderner Literarkritik geprüft, ihre Quellen werden erforscht und ihre Hauptzüge mit den Mythen der antiken orientalischen Nationen und bei primitiven Völkern verglichen. Der Ausgangspunkt für diese Art von Forschung ist die Prämisse, dass die antiken Hebräer auch eine Stufe von Barbarei und Wildheit durchmachten und man kann in ihrer Literatur viele Überbleibsel einer solchen frühen Phase finden. J. G. Frazer, den wir als Vertreter anthropologischer Erforschung wählen, nennt die Methode, die er anwendet, „vergleichende Anatomie des Geistes“.47 Indem er die Traditionen des alten Israel prüft und sie mit jenen anderer Völker vergleicht, weist er darauf hin, dass der Mythos des Sündenfalls des Menschen und des verlorenen Goldenen Zeitalters über die ganze Welt verbreitet ist. Frazer schildert, was für ihn das allgemeine ursprüngliche Muster aller verfügbaren Versionen des Mythos zu sein scheint und er nennt ihn eine „verdrehte Botschaft“. Der Schöpfer, der die Schlange als Botin sandte, gebot dem ersten menschlichen Paar, die Früchte des Baums des Todes zu vermeiden und von jenen vom Baum des Lebens zu essen. Die heimtückische Schlange drehte die Botschaft um und gab sie der törichten Frau mit der Absicht, den Menschen seiner Unsterblichkeit zu berauben und sie für sich zu erwerben. Die symbolische Bedeutung dieser ursprünglichen Version ist, dass der Mensch dem sexuellen Verlangen nachgibt und seine Befriedigung anstatt ewiger Seligkeit im Paradies wählt. Der biblische Erzähler verwandelte diese archaische Sage in eine Geschichte moralischer Gedanken und Warnungen. Auch hier begegnen wir wieder der Vorstellung des Sündenfalls des Menschen als einem sexuellen Vergehen, diesmal in anthropologischer Interpretation wie vorher schon in den Kommentaren der Theologen.
Die jüngste wissenschaftliche Interpretation des Mythos stammt von den Psychoanalytikern. Sie folgt derselben Hauptrichtung, aber geht auf einem neuen, gut markierten Weg weiter. Ricklin48 und Abraham49 haben gezeigt, dass der Mythos als symbolische Präsentation von Schwängerung interpretiert werden muss. In seinem Buch „Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung“ interpretierte Otto Rank die Sündenfallgeschichte als Analogie zur infantilen Theorie von sexuellem Verkehr und Geburt.50 Rank, der die analytische Methode der Interpretation anwendet, erklärt, dass man hier wie so oft die latente Bedeutung eines Werkes, in dem das Unbewusste einen großen Teil einnimmt, finden kann, aber ihren offenkundigen Inhalt umdreht. Im Schöpfungsmythos gibt es drei solche Umkehrungen: (1) Eva wird nicht aus der Rippe von Adams Körper erschaffen, sondern Adam geht aus dem geöffneten Körper von Eva hervor, die als die Urmutter des Menschen erscheint. (2) Nicht Eva reicht Adam den Apfel, sondern der Mann gibt die Frucht der Frau, er verführt sie. Diese Umkehrung ist durch den Einfluss von rationalistischen Tendenzen eines späten Herausgebers entstanden, der versucht hat, den Sündenfall des Menschen auf die Bosheit der Frau zurückzuführen, ebenso wie ein später Weiberfeind sich Pandoras Mission im griechischen Mythos vorstellt. Die dritte Umkehrung betrifft die Rolle der Schlange. In anderen Mythen – wie zum Beispiel in jenem der Hesperiden – erscheint die Schlange oder der Drache als der Wächter des Baumes (mit goldenen Äpfeln). Rank kommt zu dem Ergebnis, dass der Kern der ursprünglichen Sündenfallgeschichte der Inzest von Adam mit seiner Mutter Eva ist, aus der die Menschheit ihren Ursprung hat.
Weder die Gestalt von Adam noch seine Sünde kommt meines Wissens in irgendeinem Aufsatz von Freud vor. Freud machte keinen Versuch zu einer Interpretation jener biblischen Geschichte. Eine isolierte Passage von Totem und Tabu berichtet über die Ursünde oder eher über die paulinische These einer Erbsünde. Eine fragmentarische Erklärung des Mythos wurde posthum aus Freuds Briefwechsel mit C. G. Jung bekannt.51 In einem Brief vom 17.12.1911 erhebt Freud Einspruch gegen Jungs Art, wie er über mythologisches Material nach seinem Oberflächenwert spricht. So erscheint die Frau im Buch Genesis als die Verführerin des Mannes, dem sie den Apfel zu essen gibt. Freud denkt, dass der Genesismythos „wahrscheinlich eine elende tendenziöse Entstellung eines Priesterlehrbuben ist, der, wie wir heute wissen, zwei unabhängige Quellen in ganz schwachsinniger Weise (wie traumhaft) zu einem Bericht verdichtet hat“. Freud hält es für sehr gut möglich, dass dieser späte amateurhafte Herausgeber zwei heilige Bäume in seinen Bericht einsetzte, weil er in jeder seiner Quellen einen Baum fand. In Hinsicht auf die Erschaffung Evas bezieht sich Freud auf Ranks vorher erwähnte Theorie einer Umkehrung der Rollen von männlich und weiblich. Eva erscheint als die Mutter von Adam „und wir stünden vor dem uns vertrauten Mutterinzest, dessen Bestrafung usw.“. Gleich fremd, aber gleich durch Umkehrung der ursprünglichen Tradition erklärbar ist der Zug der Frau, dem Mann etwas aus der fruchtbaren Natur zu essen anzubieten. Freud weist auf eine alte Hochzeitszeremonie hin, in der der Mann der Frau eine Frucht zu essen gibt – „vgl. die Art, wie Proserpina als Weib des Pluto im Hades verbleiben muß“. Durch jene Erwägungen wird Freud zur Feststellung geführt, dass die manifeste Form mythologischer Themen „nicht ohne weiteres zur Vergleichung mit unseren psychoanalytischen Resultaten brauchbar sind“. Ihre latente Form muss zuerst ermittelt werden „auf die sie durch historische Vergleichung Arbeit zurückzuführen sind, um ihre Entstellungen im Laufe der Mythenentwicklung zu beseitigen“. In dieser Vorstellung von Freud ist Adams Sünde Inzest mit seiner Mutter. Die biblische Erzählung versucht diese ursprüngliche Bedeutung durch verschiedene Maßnahmen der Verdrehung zu verbergen. Freuds andere Rekonstruktion des ursprünglichen Verbrechens, das später diskutiert wird, bezieht sich nicht auf die Sündenfallgeschichte und trägt überhaupt nichts zu seiner Interpretation bei.
Um das Bild zu vervollständigen, werden noch einige Beispiele späterer analytischer Erklärungen des Mythos skizziert. Für Ludwig Lewy ist die Sündenfallgeschichte eine symbolische Präsentation des verbotenen Verkehrs.52 Der Apfel bedeutet die weibliche Brust und das Essen der Frucht ist ein euphemistischer Ausdruck für den Sexualakt. Ein Höhepunkt multipler Interpretation, in der die Gestalten Adam, Eva und die Schlange reiche Gelegenheiten für neue Komplikationen geben, ist in Geza Roheims Aufsatz „Der Garten Eden“ erreicht.53 Für diesen Gelehrten ist der verborgene Inhalt der Sündenfallgeschichte, dass Adam eine siegreiche Schlacht gegen Gott kämpfte, Geschlechtsverkehr mit Eva, seiner Mutter hatte und dann von Gewissensbissen gequält wurde. Roheim zeigt, dass die hebräische Tradition sich selbst bewusst war von der phallischen Bedeutung der Schlange, denn es liegt in der Gestalt der Schlange, dass Satan Geschlechtsverkehr mit Eva hatte. Essen ist natürlich ein Euphemismus für den Koitus, Erde ein Symbol für die Mutter. Roheim ergänzt die Interpretation, dass das Kriechen der Schlange auf ihrem Bauch und das Staub essen sexuellen Verkehr bedeutet. Der biblische Satz über die Feindschaft zwischen der Schlange und dem Samen von Frauen „bedeutet nicht nur gegen die Schlange, sondern auch die Schlange (Phallus) gegen das Weibliche“.
Der Charakter der Strafe für Eva ist „ganz klar“. Ihre Schmerzen bei der Geburt von Kindern und die Sehnsucht nach dem Mann sind „nur passende Strafen für ein Vergehen, für den Geschlechtsverkehr“. Der Mythos erzählt uns, dass sexuelles Verlangen Ungehorsam gegenüber dem Vater (Ödipus) ist und deshalb „eine unsichtbare Sünde“, das heißt vom enthaltenen Vaterbild oder Über-Ich. Die Sünde wird durch das Sexualleben bestraft, d.h. durch sich selbst“. Roheims Scharfsinn findet Gründe, „die Frucht der Unsterblichkeit mit der Brustwarze zu identifizieren“ und folgt dieser Interpretation bis zu ihrem logischen Schluss, dass „die Sünde, die die Menschheit zum Sündenfall oder zum Verlust der Unsterblichkeit führt, das Saugen des Kleinkindes ist“. Indem er uns an den Gebrauch des Wortes „Frucht“ als metaphorischen Ausdruck für „Kind“ im Alten Testament erinnert, fühlt sich Roheim „gebunden“, Ranks Interpretation von der herausgerissenen Frucht zu akzeptieren, oder, um es vorsichtiger auszudrü...
Inhaltsverzeichnis
- Widmung
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort des Überetzers und Herausgebers
- Die Geschichte dieses Buches
- Erster Teil: Das bedeutendste Problem in der Evolution der Kultur
- Zweiter Teil: Das Verbrechen
- Dritter Teil: Die Strafe
- Vierter Teil: Der Mensch, der moralische Aufsteiger
- Nachwort
- Impressum