Kein Teil von mir ist schlecht
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Kein Teil von mir ist schlecht

Mit dem Modell des inneren Familiensystems (IFS) Trauma heilen und zur Ganzheit zurückfinden

  1. 276 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Kein Teil von mir ist schlecht

Mit dem Modell des inneren Familiensystems (IFS) Trauma heilen und zur Ganzheit zurückfinden

Über dieses Buch

– Mit einem Vorwort von Alanis Morissette – Die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen hat die Psychologie verändert. Das Modell des inneren Familiensystems von Richard C. Schwartz, bekannt als IFS, hat dazu einen wertvollen Beitrag geleistet. In diesem Buch erfahren Sie, warum IFS in der Therapie und besonders in der Behandlung von Trauma, Suchtproblemen und bei Depressionen so effektiv ist – und wie dieses neue Verständnis unseres Bewusstseins das Potenzial hat, unser Leben radikal zu verändern. Dieses Buch hilft Ihnen, Ihr weises, mitfühlendes Selbst zu entdecken, die Quelle von Heilung und Harmonie. Zudem enthält es präzise Anleitungen, wie Sie Ihre Anteile kennenlernen und mit ihnen in Kontakt treten, wie Sie mit herausfordernden, beschützenden Teilen arbeiten und innere Kritiker und Saboteure zu mächtigen Verbündeten machen. "Unsere Anteile können manchmal störend oder schädlich sein, aber sobald sie entlastet sind, kehren sie zu ihrer wesentlichen Güte zurück. Wenn wir lernen, alle unsere Teile zu lieben, können wir lernen, alle Menschen zu lieben – und das wird zur Heilung der Welt beitragen." Richard C. Schwartz

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Teil 1

Innere Familiensysteme

1 | Wir sind alle multipel veranlagt

Wir sind allesamt in einem Glaubenssystem aufgewachsen, das als eingleisig bezeichnet werden kann. Es ist die Vorstellung, wir hätten einen einheitlichen Geist, aus dem verschiedene Gedanken, Emotionen, Impulse und Bedürfnisse kämen. An dieses Paradigma glaubte auch ich, bis ich in meiner therapeutischen Praxis auf Menschen stieß, die mich etwas anderes lehrten. Weil die Idee von einem einheitlichen Geist in unserer Kultur allgemein vorausgesetzt wird, zweifeln wir eigentlich nie daran, ob es sich wirklich um die Wahrheit handelt. Deshalb möchte ich Ihnen vorschlagen, einen Blick – einen zweiten Blick – darauf zu werfen, wer Sie wirklich sind. Konkret lade ich Sie ein, das Paradigma der Vielfalt auszuprobieren, von dem IFS ausgeht, und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Sie wie alle anderen Menschen eine multiple Persönlichkeit haben. Was eine gute Sache ist.
Natürlich will ich damit nicht sagen, Sie hätten eine multiple Persönlichkeitsstörung (die heute als »dissoziative Persönlichkeitsstörung« bezeichnet wird). Allerdings glaube ich, dass Menschen mit dieser Diagnose sich gar nicht so sehr von allen anderen unterscheiden. Was bei diesen Personen als »Alters« bezeichnet wird, ist dasselbe, was wir in IFS »Teile« nennen, und sie existieren in uns allen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Menschen mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung meist furchtbare traumatische Erlebnisse hinter sich haben, durch die ihr Teile-System mehr als üblich auseinandergesprengt wurde. Daher hebt sich jeder Teil deutlicher heraus und ist stärker mit den anderen polarisiert und von ihnen getrennt.
Anders ausgedrückt, werden wir alle mit vielen Unterpersönlichkeiten geboren, die in unserem Innern unablässig interagieren. Das ist genau das, was wir im Allgemeinen als »Denken« bezeichnen, denn die Teile sprechen ständig miteinander und mit uns, zum Beispiel über das, was wir tun müssten, über die beste Vorgehensweise und so weiter. Erinnern Sie sich doch daran, wie Sie einmal vor einer schwierigen Entscheidung standen. Wahrscheinlich haben Sie dann einen Teil sagen hören: »Pack’s an!«, während ein anderer warnte: »Lass bloß die Finger davon!« Weil wir meinen, es würde sich in einem solchen Fall nur darum handeln, dass wir zwiespältige Gedanken haben, achten wir nicht auf die inneren Akteure, die hinter der Debatte stehen. IFS hilft Ihnen dabei, diese Akteure nicht nur wahrzunehmen, sondern auch aktiv die innere Führung zu übernehmen, die Ihr Teile-System braucht.
Vielleicht kommt es Ihnen zuerst unheimlich oder verrückt vor, sich als multiple Persönlichkeit vorzustellen, aber ich hoffe, Sie davon überzeugen zu können, dass dies in Wirklichkeit befreiend wirkt. Beunruhigend klingt es nur, weil eine innere Multiplizität in unserer Kultur pathologisiert worden ist. Wer getrennte autonome Persönlichkeiten besitzt, wird als krank oder beschädigt betrachtet, und die Existenz seiner »Alters« wird schlicht für das Ergebnis von traumatischen Erfahrungen gehalten, für die Zersplitterung eines vorher einheitlichen Geistes. Aus dieser Perspektive ist unser natürlicher Zustand ein einheitlicher Geist, sofern dieser nicht durch ein Trauma in Stücke geschlagen wird wie eine Vase, von der nur noch Scherben übrig sind.
Das herrschende Paradigma hat dazu geführt, dass wir unsere Teile fürchten und sie als pathologisch betrachten. Bei unseren Versuchen, etwas zu kontrollieren, was wir für beunruhigende Gedanken und Emotionen halten, bekämpfen, ignorieren, disziplinieren oder verbergen wir jedoch nur genau jene Impulse, die uns davon abhalten, das zu tun, was wir in unserem Leben tun wollen. Oder wir schämen uns für sie und sind beschämt, weil wir nicht in der Lage sind, sie zu kontrollieren. Anders gesagt, hassen wir alles, was uns in den Weg kommt.
Eine solche Verfahrensweise ergibt durchaus Sinn, aber nur dann, wenn wir unsere inneren Hindernisse lediglich als irrationale Gedanken oder extreme Emotionen sehen, die einem einheitlichen Geist entspringen. Wenn wir zum Beispiel Angst davor haben, einen Vortrag zu halten, können wir versuchen, diese Angst mit Willenskraft zu überspielen oder sie mit rationalen Gedanken zu korrigieren. Hält sie trotzdem an, können wir unsere Kontrollversuche eskalieren lassen, indem wir uns als Feigling kritisieren, uns mit irgendetwas im Übermaß betäuben oder meditieren, um uns darüber zu erheben. Wenn keine dieser Maßnahmen funktioniert, passen wir der Angst unser Leben an. Das heißt, wir meiden Situationen, in denen wir in der Öffentlichkeit sprechen müssen, fühlen uns als Versager und fragen uns, was mit uns eigentlich nicht in Ordnung ist. Zu allem Übel suchen wir schließlich eine therapeutische Praxis auf, wo man uns eine Diagnose für unseren verwirrten einheitlichen Geist ausstellt. Durch diese Diagnose fühlen wir uns mangelhaft, unser Selbstwertgefühl nimmt ab, und unsere Beschämung bringt uns dazu, alle unsere Schwächen zu verbergen und der Welt ein perfektes Image zu präsentieren. Vielleicht ziehen wir uns auch aus allen Beziehungen zurück, weil wir fürchten, die Leute würden hinter unsere Maske blicken und uns dafür verurteilen. Wir identifizieren uns mit unseren Schwächen und nehmen an, dass wir tatsächlich mangelhaft sind. Wir meinen, wenn andere Menschen unser wahres Ich sähen, würden sie davon regelrecht angewidert sein.
»Wenn die Leute mich fragten, ob ich bereit dafür sei, dass sich mein Leben ändern würde, kapierten sie wohl nicht richtig, was das bedeutete. Es ging nicht nur darum, dass Fremde erfahren würden, wer ich war. Es war etwas anderes, was ich immer wieder erlebte. Wenn ich den Leuten in die Augen blickte, meldete sich manchmal eine leise Stimme in meinem Kopf und fragte: ›Wärt ihr auch so begeistert, mich kennenzulernen, wenn ihr wirklich wüsstet, wer ich bin? Wenn ihr alles wüsstet, was ich getan habe? Wenn ihr alle meine Teile sehen könntet?‹«3
Jonathan Van Ness, Experte in der TV-Sendung Queer Eye

Eine kurze Geschichte

Ein solcher Hintergrund aus inneren Polarisierungen entsteht durch die Perspektive, es gäbe einen einheitlichen Geist, verbunden mit wissenschaftlichen und religiösen Theorien darüber, wie primitiv die menschlichen Impulse angeblich sind. Ein vielsagendes Beispiel ist die Theologie des einflussreichen Reformators Johannes Calvin. »Denn unsere Natur«, schreibt dieser, »ist nicht etwa bloß des Guten arm und leer, sondern sie ist fruchtbar und ertragreich im Bösen, sodass sie nie müßig sein kann! […] der ganze Mensch ist von Kopf bis Fuß wie von einer Sintflut derart über und über (mit Sünde) bedeckt, dass kein Teil unberührt ist, und deshalb wird alles, was von ihm kommt, als Sünde gerechnet.«4 Das wird als Doktrin der totalen Verderbtheit bezeichnet und geht davon aus, dass wir nur durch die Gnade Gottes dem Schicksal der ewigen Verdammnis entgehen können. In verschiedenen Versionen hat diese Doktrin jahrhundertelang Protestantismus und Evangelikalismus beeinflusst und eine erhebliche kulturelle Wirkung gehabt. Verwandt damit ist die auch in der katholischen Kirche vorhandene Vorstellung der Erbsünde.
Für diese Denkweise können wir allerdings nicht allein die Religion verantwortlich machen. Generationen von Philosophen und Politikern haben behauptet, gleich unterhalb der zivilisierten Fassade, die wir der Welt präsentierten, würden urtümliche Impulse lauern. Sigmund Freud hat zwar wichtige Einblicke in die Psyche vermittelt, von denen viele mit IFS vereinbar sind, aber seine einflussreiche Triebtheorie ist pessimistisch, was die menschliche Natur angeht. Nach ihr befinden sich unter der Oberfläche der Psyche egoistische, aggressive und nach Vergnügen strebende Instinktkräfte, die unbewusst unser Leben bestimmen. Der niederländische Historiker Rutger Bregman fasst diese grundlegenden Annahmen über die menschliche Natur so zusammen:
»Dass Menschen von Natur aus egoistisch sind, ist ein Lehrsatz, der im Westen seit Jahrhunderten unterrichtet wird. Große Denker wie Thukydides, Augustinus, Machiavelli, Hobbes, Luther, Calvin, Burke, Bentham, Nietzsche, Freud und die amerikanischen Founding Fathers unterstützten die Fassadentheorie der Gesellschaft.«5

Willenskraft und Scham

Die Betonung von Willenskraft und Selbstkontrolle durchdringt die gesamte amerikanische Kultur. Wir meinen, wir sollten in der Lage sein, unseren primitiven, impulsiven und sündigen Geist durch Willenskraft zu zähmen. Zahllose Selbsthilfebücher machen uns weis, es gehe nur darum, unsere Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu stärken und mehr Disziplin zu entwickeln. Auch das Konzept der Willenskraft hat historische Wurzeln, vor allem in der viktorianischen Zeit mit ihrem christlichen Appell, man müsse sich gegen unheilvolle Impulse wehren. Die Idee, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und keine Ausflüchte zu machen, ist tief vor allem im amerikanischen Denken verwurzelt.
Traurigerweise ist unsere Begeisterung für Willenskraft von Politikern und Meinungsmachern dazu benutzt worden, ständig größer werdende Einkommensunterschiede zu rechtfertigen. Man erklärt uns, bestimmte Leute seien arm, weil sie zu wenig Selbstkontrolle hätten, während reiche Leute wohlhabend seien, da sie sich besser kontrollieren könnten. Die Forschung vermittelt ein anderes Bild. Zum Beispiel hat man in Studien nachgewiesen, dass Menschen mit niederem Einkommen handlungsfähig und produktiv werden, sobald man ihnen genügend Geld gibt, ihre Grundbedürfnisse zu decken.6 Nicht zuletzt angesichts der wirtschaftlichen Auswirkungen der derzeit grassierenden Pandemie ist es jedoch eine sehr reale Tatsache, dass den meisten von uns jederzeit der Teppich unter den Füßen weggezogen werden kann, und diese Bedrohung hält die mit unserem Überlebensinstinkt verbundenen Teile von uns in Gang.
Wir stellen oft fest, dass Emotionen und Gedanken nur umso stärker werden, je angestrengter wir uns bemühen, sie loszuwerden.
Weil wir das Ethos von der Willenskraft verinnerlicht haben, lernen wir bereits in jungen Jahren, unsere widerspenstigen Teile zu beschämen und zu manipulieren. Wir zwingen sie mit Gewalt, sich zu unterwerfen. Ein bestimmter Teil wird von diesem kulturellen Zwangsregime dazu rekrutiert, unser innerer Feldwebel zu werden, und entwickelt sich oft zu der boshaften kritischen Instanz in uns, die wir liebend gern hassen. Das ist die Stimme, die versucht, uns zu beschämen oder jene Teile von uns loszuwerden,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Vorwort
  3. Einleitung
  4. Teil 1
  5. Teil 2
  6. Teil 3
  7. Abschließende Gedanken
  8. Danksagung
  9. Zum Autor