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Gemeinsames Aufwachsen in der Familie: Der Rahmen, in dem Geschwisterbeziehungen sich entwickeln
Im ersten Kapitel wird die Familie als naturgegebener und kulturell geprägter Rahmen des Aufwachsens betrachtet. Hierbei stehen besonders Mutter und Vater im Fokus sowie die Frage, wie sich ihr elterliches Verhalten auf die Kinder und die Geschwisterbeziehungen auswirken kann.
Die wichtigste Aufgabe der Eltern ist es, ihre Kinder zu lieben, zu pflegen und zu erziehen. Die Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen sind in dieser Entwicklungsphase oftmals konfliktreich, weisen auf die Dauer ihres Lebens betrachtet jedoch eine hohe Stabilität auf, die sich auch auf die Geschwisterbeziehungen auswirkt.
Jugendliche benötigten in der Adoleszenz ein Netzwerk, um die sich ihnen stellenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Dazu zählen neben Vater und Mutter vor allem die Geschwister.
In der Familie sammeln Kinder ihre ersten Erfahrungen mit anderen Menschen – Eltern, Geschwistern oder anderen nahestehenden Verwandten. »In der familiären Interaktion entwickeln sich Vorstellungen und Zuschreibungen von Rollen und Positionen der einzelnen Mitglieder innerhalb des Familiengefüges; es bilden sich Vorstellungen von Elternschaft, von Kind-Sein und dem Platz innerhalb der Familie, den jeder Einzelne innehat« (Ritzenfeldt 1998, S. 15). Bindungen entstehen, auf deren Basis später Ablösung und Autonomie schrittweise erprobt wird. Hier findet die Sehnsucht nach Beständigkeit ihren Ort und ermöglicht dadurch die Neugier auf Fremdes.
Das Fehlen der Geschwister bedeutet einerseits, dass es keine Konkurrenten um die elterliche Zuwendung gibt und dass andererseits in diesem familiären Rahmen keine Verantwortung für andere übernommen werden kann. Damit entfällt auf der horizontalen Ebene die Erfahrung, beziehungsweise Fertigkeit, für seine eigenen Belange gegenüber anderen einzutreten und diese auszuhandeln. Das Üben grundlegender sozialer Kompetenzen wie beispielsweise Einfühlungsvermögen, Verzicht, Sensitivität, Konfliktfähigkeit, Toleranz und Respekt vor den unterschiedlichen Erwartungen anderer Menschen können in außerfamilären pädagogischen Institutionen nur erschwert erworben werden und das Kind muss immer mit dem Ausschluss aus der Gruppe rechnen. Trotz aller Diskussionen um die Stabilität und den vermeintlichen Funktionsverlust der Familie ist sie noch immer der häufigste und selbstverständliche Rahmen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft. Sie wird immer Teil des sich wandelnden gesellschaftlichen Lebens bleiben, Geschwisterbeziehungen sind darin eingelagert. »Die Familie mit Eltern und Geschwistern ist für das Kind die erste soziale Gruppe, das erste langjährige Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen« (Frick 2006, S. 10).
Mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass sich die Familie modernisiert. Zwar wird die Bezeichnung der Familie als »Keimzelle der Gesellschaft« (vgl. König 1945) bis heute kontrovers diskutiert, aber von einem »Zerfall der Familie« (Finger-Trescher 2000, S. 68) oder von ihrem Niedergang (Bertram 2003) kann weder mit Blick auf die aktuelle Realität noch mit Blick auf die Zukunftswünsche und -pläne der heutigen Jugendlichen gesprochen werden. Der gesellschaftliche Wandel geht jedoch einher mit der Auflösung bestimmter Strukturen, da für den individuellen Lebenserfolg nicht mehr primär die Abstammung oder die schichtenspezifische Zugehörigkeit, sondern das Bildungs- und Leistungsprinzip maßgebend geworden sind.
So wandelt sich auch Familie. Unterschiedliche Generationen von Kindern, die in unterschiedlichen Familienkonstellationen mit je unterschiedlichen Erziehungsleitbildern aufgewachsen sind, wurden in der Literatur als »(Nach-)Kriegskinder«, »Krisenkinder« bzw. »Konsumkinder« beschrieben (vgl. Preuß-Lausitz 1995).
Ulrich Becks (1986) These, dass die Individualisierung der Gesellschaft vornehmlich durch die Auflösung traditioneller Milieus und durch die Aufhebung der klassischen Geschlechterrollen ermöglicht wurde, wodurch auch eine Pluralisierung der Beziehungs- und Familienformen erfolgen konnte, kann zugestimmt werden. Der Familienbildungsprozess, die Dauer des Zusammenlebens, die innerfamiliäre Rollenaufteilung (»Hausmann«) veränderten sich und äußere Anreize wie etwa das Elterngeld oder die Elternzeit wurden neu geschaffen (vgl. Gotschall/Voß 2003; Mischau/Oechsele 2005).
Die Bedeutung der Mutter für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen
In den primären Beziehungen werden die Grundlagen für gelingende Beziehungen innerhalb der Familie, unter Geschwistern und in den gesellschaftlichen Bezügen gelegt. Gelingende Primärbeziehungen führen dazu, dass anstehende entwicklungsbedingte Veränderungen im Lebensverlauf gut bewältigt werden.
Aus einem dyadischen Beziehungssystem und -modell (Sohni 1991, S. 214) zwischen den Partnern, in der Regel Mann und Frau, wird durch die Geburt des ersten Kindes ein triadisches Grundmodell. Diese kann sich dann durch weitere Geschwister über eine Tetrade weiter zur Polyade entwickeln.
Mütterlichkeit
Während Sigmund Freud die Mutter als Hauptverantwortliche für die gelingende Entwicklung des Kindes betrachtete, können wir heute nicht mehr von einem vorherrschenden Mutterbild sprechen, höchstens von Leitbildern, da verschiedene Lebensformen in der Postmoderne nebeneinander existieren, kulturellen und schichtenspezifisch bedingten Aspekten unterliegen und in der Übertragung auch auf Geschwister wirken. Sharon Hays (1998, S. 174f.), die das propagierte Mutterbild als »historisch konstruierte Ideologie« bezeichnet, fasst das heutige Leitbild einer »Supermutter« überspitzt zusammen:
»Mühelos schafft sie den Spagat zwischen Heim und Arbeit. Diese Mutter kann mit der einen Hand einen Kinderwagen schieben und mit der anderen die Aktentasche tragen. Sie ist immer gut frisiert, ihre Strumpfhosen haben nie Laufmaschen, ihr Kostüm ist stets frei von Knitterfalten, und ihr Heim ist natürlich blitzsauber. Ihre Kinder sind makellos: Sie haben gute Manieren, sind aber nicht passiv, sondern putzmunter und strotzen vor Selbstbewusstsein.«
Mütterlichkeit wird heute zunehmend unter dem Gesichtspunkt »Arbeit mit den Kindern« betrachtet. Hierbei geht es um folgende drei Komponenten: Zum Ersten um die Komponente der physischen Versorgung, also die Ernährung und Pflege der Kinder. Zweitens um die sozial-kommunikative Komponente, was die Integration des Kindes in das soziale Umfeld meint und drittens um die psychisch-emotionale Komponente. Eine wichtige Erkenntnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, dass neben den Müttern auch andere Bezugspersonen, bspw. Väter, Großeltern oder Geschwister, partiell die Betreuung der Kinder übernehmen können. Trotzdem ist die Bedeutung der frühen und intensiven Mutterbindung auch in der jüngeren Forschung immer wieder bestätigt worden (vgl. Kreuzer 2007).
Mütter und Töchter
In den Narrationen fanden sich bezogen auf den Betreuungs- und Versorgungsaspekt bei ältesten Geschwistern in der Regel nur wenige älteste Brüder, die im jugendlichen Alter ihre jüngeren Geschwister versorgend im Haus betreuten, während älteste Schwestern diese Rolle überwiegend übernommen hatten. Dies entspricht der Ansicht Donald W. Winnicotts (1960), dass es die mütterliche Fürsorge sei, welche von der Tochter in der Übertragung übernommen wird, die ihr die Fähigkeit verleiht, die »holding funciton« gegenüber dem jüngeren Geschwisterkind auszuüben. Da die Summe all dieser Erfahrungen des vertrauensvollen haltendsorgenden Umgangs zwischen den Geschwistern sich in deren Gefühlsleben verankert, können diese Erfahrungen lebenslang von grundlegender Bedeutung sein. Hier kann die prägende Erfahrung gemacht werden, geliebt oder vernachlässigt zu werden.
Dies lässt sich beispielsweise in den Narrationen von Sina (20 Jahre), älteste Schwester von vier Geschwistern, finden:
»Meinen kleinsten Bruder habe ich sehr oft als mein ›Kind‹ angesehen. Er wurde von mir gefüttert, im Puppenwagen spazieren gefahren, in mein Puppenbett gelegt und von mir versorgt. … Fakt ist, dass wir sehr viel und sehr gern miteinander gespielt haben und als Geschwister viel miteinander gemacht haben.
Da ich die ältere Schwester war, lag die Verantwortung für meinen Bruder bei mir. Eigentlich teilte meine Mutter die Aufgaben für den Haushalt fair auf. Ich sollte uns mittags das Essen warm machen und das Geschirr abräumen.«
Charles (20 Jahre) wiederum schildert dies aus der Sicht eines mittleren Bruders, der ältere sowie jüngere Schwestern hat:
»Meistens saß ich am Esszimmertisch und habe dort meine Hausaufgaben gemacht. Im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren hat mir meistens meine ältere Schwester geholfen, wenn ich Hilfe gebraucht habe. Dies lief oft harmonischer ab als mit meiner Mutter, da ich mich hier eher gegen das Machen der Hausaufgaben gewehrt habe.
Als ich älter als achtzehn Jahre war, habe ich dann ab und an meiner jüngsten Schwester bei den Hausaufgaben geholfen. Das war aber doch recht selten, lief aber meist harmonisch ab. Meine Mutter hat hier jedoch eine größere Rolle gespielt als bei mir. Auch lief es bei meinen Schwestern viel harmonischer ab als bei mir.«
Die psychoanalytisch-pädagogische Forschung hat unter Berücksichtigung verschiedener Theorien, bspw. der Objektbeziehungstheorie nach Michael Balint (1966), Donald W. Winnicott (1967, 1974) und Otto Kernberg (1978, 1985), der Selbstpsychologie nach Heinz Kohut (1973, 1979) oder der Säuglingsforschung nach Martin Dornes (1997, 2006, 2009, 2010), Joseph Lichtenberg (1991) und Daniel Stern (1992), die Bedeutung der Beziehungsdynamik von Mutter-Vater-Kind für die Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Demzufolge erwachsen aus den mütterlichen Eigenschaften soziale Haltungen und Einstellungen wie lieben, versorgen, einfühlen, verstehen, verbinden und integrieren, die an die nächste Generation weitergegeben werden und das Verhältnis und die Güte der Beziehung der Geschwister untereinander prägen. Heute ist der Begriff »Mütterlichkeit« nicht mehr nur an ein geschlechtsspezifisches Verstehen gebunden, sondern transportiert wesentliche menschliche Werte, die von Müttern, Vätern und Geschwistern vermittelt werden können (Winnicott 2008, S. 135f.).
Auswirkungen dyadischen Geschehens zwischen Mutter und Tochter und zwischenältester und jüngerer Schwester
Die Mutter ist für viele Fragen auch heute noch die bedeutsamste Ansprechpartnerin für Jugendliche, was sich nicht nur durch die Shell- Jugendstudien, sondern auch durch die KIM- oder JIM-Studien sowie die Jugendstudie Baden-Würrtemberg (2013) belegen lässt. Für Töchter stellt sie die wichtigste Person im geschlechtsspezifischen Sozialisationsprozess dar. Für die Ältesten steht sie zur Geschlechtsrollenidentifizierung zur Verfügung, was die älteren an jüngeren Schwestern weitergeben.
Nach Jaques Lacan (1949) gleicht die Mutter-Tochter-Beziehung der analytischen Metapher des Spiegels. Die Mutter findet Anteile von sich selbst in ihrer Tochter und diese sieht eigene Anteile von sich in ihrer Mutter. Diese kann sie entweder ablehnen oder bejahen (Schottlaender 1961, S. 57f.). Diese Projektionen werden oftmals von der Ältesten an jüngere Schwestern weitergegeben. Häufig sind im Jugendalter bei Mädchen auf ihrer Identitätssuche und der Entwicklung ihres Selbst Verunsicherungen wahrzunehmen, wenn beim Nachdenken über sich und die Mutter Ähnlichkeiten und Unterschiede festgestellt werden. Sollte die Mutter-Tochter-Beziehung während der Adoleszenz konflikthaft verlaufen, wovon in der Regel auszugehen ist, ist die Gefahr für die Schwester-Schwester-Beziehung groß, auch konfliktreich zu verlaufen. Von Beginn an ist die Beziehung durch Gleichgeschlechtlichkeit bestimmt. Die Tochter wird zum Identischen der Mutter, vor allem die Älteste identifiziert sich mit ihr und kann im Übertragungsprozess die Identifizierung auf ihre jüngeren Geschwister übertragen. Hierzu bedarf es u. a. ein »bemutterndes« Verhalten gegenüber den Jüngeren. Diese primäre Identifikation und ihre Wirkung kann lebenslang bestehen bleiben.
Somit wird nachvollziehbar, wie stark die Verbindung der Gefühlswelten zwischen Mutter und Tochter sind und dass diese Problematik aus der Beziehungsdynamik resultiert: Die Ablösung der Tochter von der Mutter ist oftmals ein langwieriger und anstrengender Prozess, an dessen Ende neben der Ausbildung eigener Anteile auch die Akzeptanz von Anteilen der Mutter stehen kann. Der Vater wird hierfür als dritte Person dringend benötigt, um den Ablösungsprozess zu unterstützen und zu erleichtern. Die (reale) Abwesenheit des Vaters kann zu seiner Idealisierung führen, andererseits dazu, dass Töchter sich von der Mutter nicht ablösen können, bzw. Mütter ihre Töchter nicht ziehen lassen können. Der Prozess des »Anklammerns« und »Abstoßens« zwischen ältester und jüngerer Schwester scheint sich zu wiederholen. In der Jugend ist es denkbar, dass dann die Beziehung der Schwestern untereinander zwischen »pathologischer Liebe und reaktivem Hass« hin und her schwankt (Petri 1994, S. 63).
Saskia (18 Jahre) ist ältere Zwillingsschwester und wächst mit fünf weiteren Geschwistern auf.
»Wenn meine Mutter gerade nicht da ist, bin ich immer für meinen kleinen Bruder da. Meine Geschwister bezeichnen mich schon als zweite Mama, da ich viel helfe, aber auch so streng wie Mama bin. Ich helfe meinem kleinen Bruder bei den Hausaufgaben und spiele mit ihm in der Freizeit. […] Mein großer Bruder ist eher der gemütliche und steht mir manchmal zu Seite. Jedoch bin ich als Älteste der Chef der Kinder.«
Ihre Beziehung zur Mutter und ihr Verständnis für ihre jüngeren Schwestern werden deutlich, als sie erzählt:
»In den Sommerferien wird meine Schwester mit ihrem Freund in den Urlaub fahren und ich werde mit auf eine Freizeit als Mitarbeiter gehen. Es ist Samstagmorgen und meine Mutter war mal wieder sehr früh einkaufen. Als ich aufgestanden bin, schlief meine Schwester noch. Immer wenn ihr Freund bei uns schläft, steht sie sehr spät auf. Ich lief nach unten in das Esszimmer, durch die Küche, zum Frühstück. Mein Platz ist der gegenüber von meiner Schwester. Auf ihrem Platz lagen schon wieder tausende von Sachen, die meine Mutter für sie eingekauft hat. Zum Beispiel Süßigkeiten, ein neues Strandtuch und ein neuer Bikini. Ich hingegen habe keine Dinge für mein Zeltlager bekommen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt und zog mich zurück. Ich habe nicht darüber gesprochen oder es mir anmerken lassen. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter alles Gute meiner Schwester gab, um sie gut dastehen zu lassen, da ihr Freund aus gutem Elternhause kommt und seine Eltern eine eigene Firma haben. Das ging einige Tage so, bis ich mir mal Gedanken darüber gemacht habe, wie es wäre, wenn ich einen Freund hätte. Und dann ist mir klar geworden, dass meine Mutter wahrscheinlich das Gleiche für mich getan hätte. Heute weiß ich, dass meine Mutter nur das Beste für uns will und sie sich für mich und meinen Freund genauso einsetzt. Ich finde, dass ich richtig reagiert habe, denn hätte ich etwas gesagt oder es mir anmerken lassen, wäre nur eine große, unnötige Diskussion entstanden.«
Die Bedeutung des Vaters für die sich entwickelnden Geschwisterbeziehungen
Das Vaterbild stand immer mit im Zentrum des forschenden Denkens über Familie. Das (re-)präsentierte Vaterbild wirkt besonders auf die S...