Negative Anthropologie
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Negative Anthropologie

Ideengeschichte und Systematik einer unausgeschöpften Denkfigur

  1. 310 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Negative Anthropologie

Ideengeschichte und Systematik einer unausgeschöpften Denkfigur

Über dieses Buch

Der Band versammelt sowohl in historischer als auch in systematischer Orientierung verfasste Beiträge zum Konzept einer Negativen Anthropologie. Die systematischen Wurzeln derselben werden bis ins 19. Jahrhundert (Hegel, Feuerbach, Nietzsche) zurückverfolgt, die bisher nicht terminologisch kodifizierte Ausarbeitung derselben wird in Analysen verschiedener Ansätze aus dem 20. Jahrhundert (z.B. Plessner, Anders, Arendt) elaboriert.

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Information

Teil II: Die (Vor-)Geschichte der negativen Anthropologie im neunzehnten Jahrhundert

Hegels negative Anthropologie?

Eine Bestandsaufnahme im Dialog mit Plessner
Simon Schüz
Der Begriff ‚negative Anthropologie‘ wurde von Ulrich Sonnemann in seinem gleichnamigen Buch (Sonnemann 1969) geprägt, um in der Tradition der Kritischen Theorie die Möglichkeit einer philosophischen Anthropologie zu problematisieren. Ist das Wesen des Menschen überhaupt in essentialistischer Manier zu fassen oder widersetzt der Mensch sich nicht paradoxerweise ‚von Natur aus‘ seiner Naturalisierung und politisch-sozialen Fixierung? Und ist die Anthropologie nicht derart in ihren Gegenstand verstrickt, dass sie von ihren eigenen historischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen nicht abstrahieren kann, wenn sie ‚den‘ Menschen positiv bestimmen will? Der Begriff der negativen Anthropologie weist zugleich über Sonnemanns Entwurf hinaus, indem er das Desiderat umreißt, jenen kritischen Anfragen zu begegnen, ohne das Projekt der philosophischen Anthropologie ganz aufzugeben.1
Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse bietet dem Desiderat einer negativen Anthropologie sowohl Anknüpfungspunkte als auch Widerstände. Dem ersten Anschein nach entwickelt Hegel dort im Kapitel „Anthropologie“ innerhalb des „subjektiven Geistes“ vielmehr eine ‚positive‘ Anthropologie in genau dem von Sonnemann kritisierten Sinne. Zum einen scheint Hegels Anthropologie auf einer problematischen Metaphysik der „Seele“ und des „Geistes“ aufzubauen und droht ihrem Gegenstand durch den Apriorismus einer triadischen Entwicklungslogik Gewalt anzutun. Zum anderen scheint sie auf eine eklektische und unkritische Weise in empirische Behauptungen verstrickt zu sein, wenn sie sich dazu versteigt, Menschenrassen und ihre Wesensmerkmale zu bestimmen oder Nationalcharaktere zu diagnostizieren, oder sich auf längst überholte, pseudowissenschaftliche Theorien wie den „animalischen Magnetismus“ einlässt.2
Auf den zweiten Blick weist Hegels „Anthropologie“-Kapitel jedoch über sich selbst hinaus, da es eingebettet ist in eine „Philosophie des Geistes“, welche unter der Leitidee selbstbezüglicher Negativität den Menschen als wesentlich frei und selbstbestimmt denkt und dabei die genetischen Bedingungen sowie die logische Form dieser Wesensbestimmung kritisch reflektiert. Ich werde im Folgenden versuchen, das auf den zweiten Blick Entdeckte zu vertiefen. Mein Ziel ist es, eine tentative Bestandsaufnahme von Hegels philosophischer Anthropologie zu geben, die dabei helfen soll, die Konzeption einer negativen Anthropologie weiter zu entfalten (was sowohl durch affirmative Aneignung hegelscher Theoreme als auch durch kritische Abgrenzung geschehen kann).
Meine Analyse Hegels bedient sich zweier Orientierungsachsen. Die erste Achse (1.) bilden Adornos und Foucaults paradigmatische Einwürfe gegen jegliche ‚positive‘ Anthropologie. Aus ihnen werde ich die systematischen Topoi extrapolieren, zu denen Hegels Anthropologie positioniert werden muss; sie strukturieren meinen Zugriff auf den Text der Enzyklopädie. Die zweite Achse (2.) bildet Plessners Schrift Macht und menschliche Natur, in deren Zentrum das Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen steht und die ich deshalb als Programmschrift für eine negative Anthropologie interpretiere. Plessners Entwurf soll hier der Orientierung dienen, wie eine negative Anthropologie inhaltlich entfaltet werden müsste; das so gewonnene Vorverständnis soll helfen, Hegels anthropologischen Entwurf aufzuschließen und die für das anvisierte systematische Anliegen relevanten Motive fokussieren.3
Entlang dieser beiden Achsen werde ich Hegels Enzyklopädie in einem tentativen Aufriss (3.) als Entwurf einer negativen Anthropologie porträtieren, welche auf dem Grundsatz aufbaut, dass das Wesen des Menschen der „Geist“ ist. Indem Hegel das Wesen des Geistes wiederum als Freiheit im Sinne selbstbezüglicher Negativität denkt, so meine These, entwirft er eine eigene Version des auch von Plessner formulierten Unergründlichkeitsprinzips. In einem letzten Schritt (4.) untersuche ich, inwieweit das „Anthropologie“-Kapitel diese These bestätigt, d.h. ob es Hegel dort gelingt, den Geist des Menschen auf eine natürliche, leibliche Grundlage zu stellen, ohne das Prinzip der Unergründlichkeit dabei zu verletzen. Hier lege ich einen Schwerpunkt auf die „Gewohnheit“, welche für Hegel der Mechanismus ist, mit dem sich der Mensch auf der Basis seiner körperlich-organischen ‚ersten‘ Natur eine ‚zweite‘ Natur ausbildet, durch welche seine Leiblichkeit zum unmittelbaren Ausdruck des Geistes wird. Im Anschluss an Khuranas Interpretation der Gewohnheit komme ich zu dem Ergebnis, dass Hegels Anthropologie hier eine beträchtliche Nähe zu Plessners Unergründlichkeitsgedanken aufweist, indem sie die Offenheit und Riskiertheit der menschlichen Lebensführung herausstellt und diese bis in das ‚natürliche‘ bzw. ‚zweitnatürliche‘ Selbstverhältnis des Menschen zurückverfolgt. Meine Bestandsaufnahme wird zu dem Ergebnis gelangen, dass Hegels Entwurf das systematische Potenzial für die Entwicklung einer negativen Anthropologie hat und dabei in bestechender Weise die Anthropologie in eine Systemkonzeption einbettet, die hinsichtlich ihrer eigenen theoretischen Form in hohem Maße selbstreflektiert ist und Natur- und Geschichtsphilosophie auf wegweisende Art verbindet.

1 Motivation: Einwände gegen ‚positive‘ Anthropologien

Was soll das Konzept einer negativen Anthropologie leisten und warum ist es als ein Desiderat anzusehen? Zum Konzept einer negativen Anthropologie führt die radikale Kritik an den traditionellen, ‚positiven‘ Modellen der Anthropologie im zwanzigsten Jahrhundert in Verbindung mit der Einsicht, dass es sich gerade im kritischen und emanzipatorischen Interesse lohnt, dennoch am Begriff des Menschen als philosophischer Fundamentalkategorie festzuhalten. Diese doppelte Motivation kann hier nur skizzenhaft entfaltet werden; ich konzentriere mich auf einige Leitmotive, die mir systematisch bedeutsam erscheinen.4
Die Kritik an der Anthropologie im zwanzigsten Jahrhundert richtet sich zum einen gegen das Projekt einer in empirische Subdisziplinen aufteilbaren Einheitswissenschaft vom Menschen gemäß dem aufklärerischen Paradigma von Kant und Herder und zum anderen gegen das Projekt einer philosophischen Anthropologie, die das überzeitliche Wesen des Menschen zu bestimmen versucht. Beide Projekte hängen freilich zusammen und sind auch in ihrer historischen Entwicklung nicht voneinander zu trennen.5
Zu den gewichtigen Einsprüchen gegen die Anthropologie als Paradigma der Humanwissenschaften zählt Foucaults kritische Diagnose eines „anthropologischen Schlafs“ (Foucault 1971, S. 410) sowie seine Prognose, dass der Mensch einmal „verschwinden“ (Foucault 1971, S. 460) werde. Nach Foucault ‚schläft‘ die Anthropologie, insofern sie die Konstitutionsbedingungen ihres Gegenstandes nicht hinreichend kritisch reflektiert. Sie begehe die „empirisch-kritische Reduplizierung“ (Foucault 1971, S. 411), empirische Befunde zu transzendentalen Wesensmerkmalen zu fundamentalisieren, die auf zirkuläre Weise wiederum dazu dienen, das Feld der humanwissenschaftlichen Empirie zu normieren: „Die präkritische Analyse dessen, was der Mensch in seiner Essenz ist, wird zur Analytik all dessen, was sich im allgemeinen der Erfahrung des Menschen geben kann.“ (Foucault 1971, S. 411) Nach Foucault orientiert sich jene präkritische Analyse an den „konstituierenden Modellen“ der Biologie, Ökonomie und Linguistik, die entsprechend zu beherrschenden „Projektionsoberfläche[n]“ für die Deutung des Menschen und seiner Lebensführung geworden sind (Foucault 1971, S. 428). Der darin sich ausdrückende ‚dogmatische Schlummer‘ beruht letztlich auf einem unzureichenden Bewusstsein für die historische Gewordenheit des Diskurses über den Menschen, welche Foucaults „Archäologie“ der Humanwissenschaften herauszustellen sucht. Da die diskursive Konstitution des Forschungsgegenstands ‚Mensch‘ für Foucault auf eine bestimmte historische Konstellation von Interessen, politisch-sozialen Umständen und Diskursformen (insbesondere eine gewisse Auffassung der Sprache selbst) zurückgeht, folgt daraus die Möglichkeit, dass ,der Mensch‘ einmal verschwinden wird, sofern diese kontingenten Rahmenbedingungen sich wieder verändern.6
Direkt gegen die philosophische Anthropologie im engeren Sinne gerichtet ist Adornos „Veto gegen jegliche [Anthropologie]“, das auf der These beruht, „[d] aß sich nicht sagen lässt, was der Mensch sei“ (Adorno 1966, S. 128).7 Adornos Veto ist auf Heideggers Daseinsanalytik als angebliche „Ontologisierung des Ontischen“ (Adorno 1966, S. 120) gemünzt, richtet sich aber grundsätzlich gegen die Tendenz, Individualität identifizierend in Verallgemeinerungen aufzulösen, sowie gegen den Versuch, (analog zu Foucaults „Reduplizierung“) aus der faktischen Situation des Menschen ein überzeitliches „Menschenwesen [zu] entziffer[n]“ (Adorno 1966, S. 128). Adorno kritisiert damit den ontologischen Anspruch der philosophischen Anthropologie als solchen. Es ist für ihn gleichgültig, ob die Anthropologie dem Menschen eine wesentliche Offenheit und Ungebundenheit attestiert; auch eine solche Wesensbestimmung stellt eine metaphysische Fixierung des Menschen dar.
Aus den prominenten Einwürfen Foucaults und Adornos lassen sich die zentralen systematischen Topoi extrapolieren, in denen die (philosophische) Anthropologie zum Problem wird und an denen eine negative Anthropologie anzusetzen hat:
  1. Metaphysischer Essentialismus bzw. Substanzbegriff. Die von Foucault herausgestellte diskursive Konstitution des Menschen als Objekt theoretischer Bestimmung sowie die Historizität derselben sollen zeigen: Es gibt keine metaphysisch fixierten Wesensmerkmale, die universell und überzeitlich fe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Einleitung
  5. Teil I: Grundsätzliches zu Ideengeschichte und Systematik
  6. Teil II: Die (Vor-)Geschichte der negativen Anthropologie im neunzehnten Jahrhundert
  7. Teil III: Das zwanzigste Jahrhundert: Negative Anthropologie als Philosophische Anthropologie
  8. Teil IV: Negative Anthropologie jenseits der anthropologischen „Orthodoxie“
  9. AutorInneninformationen
  10. Index