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Verführt und missbraucht
Ein ehemaliger Hitlerjunge erzählt aus der Kriegs- und Nachkriegszeit
- German
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Verführt und missbraucht
Ein ehemaliger Hitlerjunge erzählt aus der Kriegs- und Nachkriegszeit
Über dieses Buch
Viele Hitlerjungen haben freiwillig im Volkssturm, in der Wehrmacht oder in der Waffen SS gedient.Von falschen Idealen irregeleitet, fanatisiert, abenteuerlustig und zum Kampf erzogen, glaubten sie 1945 doch noch das Großdeutsche Reich vor den Feinden retten zu können.Sie wurden von den braunen Machthabern verführt und schändlich missbraucht. Diese Jungen waren kaum dem Kindesalter entwachsen, als sie sich zum Dienst mit der Waffe und zum Fronteinsatz meldeten.Abertausende Jugendliche haben in den letzten Kriegsmonaten sinnlos ihr Leben, das noch gar nicht richtig begonnen hatte, geopfert. Für viele Hitlerjungen bedeutete das große "Abenteuer" Krieg – Tod, Siechtum oder entbehrungsreiche Kriegsgefangenschaft.Ich war einer dieser Kriegsfreiwilligen und erst 15 Jahre alt.Die nachstehenden Erinnerungen entsprangen nicht meiner Fantasie, sondern beruhen auf erlebten, wahren Begebenheiten und zeigen auch, wie ich diese Zeit gesehen und empfunden habe und wie ich heute über sie denke.
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Information
Eine liebe Berliner Familie
Am 24. April 1945 erreichten wir Berlin und wurden in einem Stadtteil mit kleinen Einfamilienhäusern und hübschen Gärten bei verschiedenen Familien einquartiert. Wir bekamen, todmüde von den Rückzugsgefechten, einen ganzen Ruhetag zugebilligt.
Ich fand Unterschlupf bei einer lieben Familie, die aus Opa und Oma, Mutter und deren drei Töchtern, 15, 18 und 23 Jahre, bestand. Der Vater dieser drei Mädchen und der 21-jährige Sohn waren gleichfalls an der Front.
Da ich mich viele Tage kaum waschen hatte können, »roch« ich fürchterlich. Oma verordnete mir daher sofort ein warmes Vollbad. Es war herrlich und erfrischte. Hernach duftete ich nach guter Seife. Auch durfte ich Papas Reserve-Rasierapparat benutzen, um meinen noch etwas spärlichen Bart abzuschaben. Anschließend bekam ich frische Unterwäsche des Sohnes und machte es mir im Morgenmantel des Hausherrn bequem. Somit war ich wieder für kurze Zeit zum sauberen Zivilisten geworden.
Dann bot ich der Familie meine Gastgeschenke an. Über eine meiner Schweinefleischdosen und je eine Tafel Schokolade für die Damen und zwei Päckchen Zigaretten für Opa freuten sie sich riesig. Die Berliner litten ja bereits unter großem Hunger und derlei Köstlichkeiten wie Schokolade und Konserven bekamen sie nur noch selten zu sehen.
Aus Kartoffeln und dem Inhalt der von mir gespendeten Konservendose wurde von der Hausfrau sogleich ein wohlschmeckendes Mahl bereitet. Dazu gab es einen Salat aus Mohrrüben. Opa holte aus dem Keller noch zwei Flaschen Weißwein, der uns mundete. Es war ein relativ ruhiges Mahl, denn die sowjetische Artillerie hatte fast aufgehört, diesen Stadtteil zu beschießen. Es war, wie sich 16 Stunden später herausstellen sollte, die »Ruhe vor dem Sturm«!
Danach musste ich der Familie über meine Heimat Österreich und alles über Wiener Mehlspeisen erzählen. Das interessierte besonders die Frauen. Ich wiederum erfuhr, was Kartoffelpuffer, Eisbein und Klöße sind.
Gegen Abend wurde ich dann infolge der durchgemachten Strapazen der vergangenen Tage überaus schläfrig. Ich bat, mich zur Ruhe begeben zu dürfen. Ulrike, die 18-jährige schlanke Brünette, die mir besonders gut gefiel, und ich ihr anscheinend auch, geleitete mich zu ihres Bruders Zimmer, gab mir eines seiner Nachthemden und ein »Gute Nacht Busserl« und wünschte mir mit einem verstohlenen Lächeln eine geruhsame Nacht. Ich fiel buchstäblich in das weiche Federbett, dachte nur noch, welch herrliches Gefühl es doch ist, wieder einmal in einem solchen ruhen zu dürfen und war innerhalb weniger Minuten fest eingeschlafen.
Es dürfte so nach Mitternacht gewesen sein, als jemand zu mir ins Bett schlüpfte und ich erwachte. Ein weicher nackter Mädchenkörper schmiegte sich an mich und eine kleine zärtliche Hand streichelte sanft meinen Unterleib. Es war Ulrikes Hand, die mich liebkoste. Dann schob sie mein Nachthemd in die Höhe und legte sich auf mich. Meine Reaktion blieb nicht aus. Es war wie in einem wundervollen Traum. Es war der Traum der Liebe.
Später schliefen wir eng aneinandergekuschelt ein. Als der Morgen des 25. April 1945 graute, donnerte es wie bei einem starken Gewitter. Wir erwachten davon und Ulrike blickte mich entsetzt an. Wir küssten uns innig und das liebe Mädel sagte zu mir: »Nun ist also das Ende nahe, was soll bloß werden; schade, dass du mich schon wieder verlassen musst. Kannst du denn nicht hier bleiben?« Nein, das konnte ich nicht, für mich gab es nur eines: Ich musste mein Vaterland verteidigen und helfen, den Feind zu besiegen.
Schnell zog ich meine Uniform an und verabschiedete mich hastig, aber traurig von der mir lieb gewordenen Familie. Ulrike weinte, aber ich glaubte nicht anders handeln zu können; ich konnte nicht bei ihr bleiben, denn desertieren wollte ich keinesfalls. Das hätte meinem Ehrgefühl widersprochen.
Was aus Ulrike, ihren Schwestern und ihrer Mutter geworden ist, weiß ich nicht. Aber ich befürchte, dass auch sie, wie so viele Berliner Frauen, Opfer von sowjetischen Soldaten wurden.
Berliner Kriegsimpressionen
Der Finalkampf in der Reichshauptstadt begann an diesem Tag. Binnen acht Tagen sollte Berlin von der Roten Armee erobert werden. Das Schicksal dieser Stadt und letztlich auch Großdeutschlands war damit besiegelt.
Fast eine halbe Million Rotarmisten mit 12.700 Geschützen und Granatwerfern, 1.200 Salven-Raketenwerfern (auch Stalinorgeln genannt) und 1.500 Panzern wurden im Direktkampf eingesetzt, um die Hauptstadt zu erobern.3 Den Sowjets standen in Berlin selbst nur zumeist schlecht ausgerüstete Volkssturmmänner, bewaffnete Hitlerjungen und zusammengewürfelte Einheiten aus Polizei, Waffen-SS und Werkschutz gegenüber. Dazu kamen etwa 60 Panzer und Sturmgeschütze und geschlossene Verbände eines Panzerkorps, Reste der 9. Fallschirmjägerdivision und die SS-Panzergrenadier-Division »Nordland«, die noch als die schlagkräftigste Kampfeinheit anzusehen war. Die einzige andere todesmutige Einheit war die Waffen-SS-Gruppe in der Reichskanzlei und die besonders tapferen Franzosen des SS-Bataillons »Charlemagne«.
Auch der Bestand an Artilleriegeschützen war äußerst gering. Eine Batterie besaß oft nur 25 bis 100 Schuss. Eine Ausnahme bildeten die mächtigen Flaktürme, die ausreichend munitioniert waren.
Die angreifenden Russen waren somit den deutschen Verteidigern, vor allem an Panzern und Artillerie, haushoch überlegen.
Die Kämpfe in der Stadt wurden von den Kombattanten mit großer Erbitterung und äußerster Härte geführt. In den Straßen Berlins wurde an allen Ecken und Enden geschossen. Sogar Pimpfe und fanatisierte Frauen beteiligten sich daran. Überall lagen Tote und Schwerverwundete. Viele Zivilisten waren darunter. Es war das reinste Blutbad. Man sah auch von Feldgendarmerie oder SS aufgehängte Deserteure oder vermeintliche Landesverräter an Laternenpfählen baumeln.
Mein Bataillon war an den Häuserkämpfen beteiligt und hatte viele Ausfälle zu beklagen. Meine Kompanie schrumpfte auf die Hälfte der kampffähigen Männer zusammen. Vor vier Wochen waren wir noch 200 gewesen.
Mein Freund Josef Puttinger wurde schwer verwundet und kam in ein Berliner Krankenhaus. Eine länger dauernde sowjetische Kriegsgefangenschaft musste er nicht erdulden. Sein jugendliches Alter und die Verwundung bewahrten ihn davor.
Anfangs waren die Häuserkämpfe in Berlin besonders für die Sowjets äußerst verlustreich. Dann wendete sich das Blatt. Wo sie in einem Haus deutsche Soldaten vermuteten, fuhren sie davor Panzer und Artillerie auf und beschossen es so lange, bis nur mehr Trümmer übrig blieben. Wurde trotzdem noch aus der Ruine geschossen, wurde die Gegenwehr oft durch den Einsatz von Flammenwerfern gebrochen, bis sich in dem Widerstandsnest nichts mehr rührte. Die Russen hatten von den Häuserkämpfen in Stalingrad doch einiges gelernt und sie begannen im Gegensatz zu früher, ihre Leute zu schonen. Ihre Politkommissare hetzten sie nicht mehr rücksichtslos in den Tod.
Als wir die neue Taktik der Sowjets erkannten, haben wir Häuserkämpfe, wo es nur ging, nach Tunlichkeit vermieden.
Über Berlin hingen dichte Rauchwolken. Die ganze Stadt stand in Flammen. Stinkender, beizender Brandgeruch drang in die Häuser und Keller, durch jede Ritze und reizte die Atmungsorgane. Wo man auch hinschaute, überall sah man zerstörte Gebäude und Trümmer, nichts als Trümmer. Besonders in der Innenstadt sah es wüst aus.
Wir bahnten uns den Weg über Balken, Mauersteine, Eisentraversen, umrundeten ausgebrannte Autowracks und wichen kleinen Tümpeln aus, die sich durch geborstene Wasserrohrleitungen gebildet hatten. Ein Artillerievolltreffer hatte den Inhalt eines Tabakwarenladens auf die Straße geschleudert. Jeder von uns griff zu und steckte sich mehrere Schachteln Zigaretten oder Zigarren in die Tasche. Von da an wurde ich bis zu meinem 50. Lebensjahr zum passionierten, genussvollen Zigarrenraucher.
Plünderungen von Lebensmittelgeschäften, Bäckereien und Lagerhallen waren an der Tagesordnung. Obwohl jedem, der dabei erwischt wurde, die Todesstrafe drohte, kümmerte sich bei dem Durcheinander niemand um das Plünderungsverbot. Not und Hunger beherrschten den Großteil der Zivilbevölkerung, da riskierten die leidgeprüften Menschen einfach alles und setzten sich über die Verbote hinweg. Wir jedenfalls schauten weg, wenn wir plündernde Berliner sahen, und manchmal beteiligten wir uns selbst an derartigen Übergriffen.
In der Stadt herrschte oft Wasserknappheit. Durch die Zerstörungen waren viele Rohrleitungen nicht mehr intakt. Eine Artilleriegranate schlug in eine Menschenschlange von Wasserholern vor einer Pumpe ein und tötete mehrere von ihnen. Nach dem Feuerüberfall stellten sich die Leute (die meisten waren Frauen) weiter um das begehrte Nass an, fast so, als ob nichts gewesen wäre. Sie waren schon so abgestumpft, dass ihnen scheinbar alles gleichgültig war, und sie hatten Durst. Sie standen ja bereits seit den Bombenangriffen der Alliierten auf ihre Stadt mit dem Sensenmann auf Du und Du. Sterben gehörte schon zu ihrem Alltag.
Soldaten hatten in Berlin meist noch einigermaßen zu essen. Zivilisten hungerten vielfach schon. Soldaten hatten die Möglichkeit, sich mit der Waffe gegen den Feind zu wehren. Zivilisten waren gänzlich hilf- und wehrlos. Sowohl Soldaten als auch Zivilisten hatten bei den Kämpfen in Berlin einen hohen Blutzoll zu entrichten; die Soldaten naturgemäß entsprechend mehr. Beide waren einem ungeheuren Leidensdruck ausgesetzt und beide hatten Angst vor den Russen, besonders die Frauen.
Wir lagen hinter einer langen schützenden Gartenmauer und lauerten auf den Feind. Auf der anderen Straßenseite hockte ein einzelner deutscher Luftwaffensoldat neben einem Sandkasten. Wieso er allein dort war, erschien mir rätselhaft. Vermutlich hatte er den Befehl dazu. Er verzehrte mit Genuss den Inhalt einer Fleischkonserve, als ob er bei einem Picknick wäre. Nach Beendigung der Mahlzeit leckte er seinen Löffel ab und paffte anschließend genießerisch eine Zigarette. Dann breitete er eine Wehrmachtsdecke aus und legte sich darauf, um ein wenig zu ruhen. Ich dachte mir noch: »Na, der hat vielleicht Nerven!« Auf einmal jaulten Granaten heran. Katjuscha-Raketenwerfer hatten uns aufs Korn genommen und wir machten uns klein. Nach dem Feuerüberfall blickte ich zu dem Kameraden von der Luftwaffe rüber. Er lag noch immer mit einem zufriedenen Gesicht da und schien zu schlafen. Nein er schlief nicht, er war tot!
Wir hatten uns neben einem Berliner Nebenbahnhof in Deckungslöcher eingegraben. Vor uns war es ruhig. Meinem Kompanieführer kam die Stille nicht geheuer vor und er beschloss, einen Spähtrupp ins Vorfeld zu schicken, um die Lage zu erkunden. Ich gehörte zu diesem Trupp, der aus sechs Mann bestand. Vorsichtig tasteten wir uns vorwärts, immer wieder sichernd. Nichts rührte sich. Vom Feind war weit und breit nichts zu sehen. Wir kamen zu einem lang gestreckten dreistöckigen Gebäude, das die alliierten Bombenangriffe relativ heil überstanden hatte. Wir durchsuchten das erste Geschoss des Hauses. Es war menschenleer. Wir atmeten auf und gingen dann aufrecht und unbeschwert zu unserer Stellung zurück. Kurz bevor wir diese erreichten, setzte heftiges Infanteriefeuer ein. Es kam just aus dem Gebäude, das wir kurz zuvor durchsucht hatten. Während wir uns im ersten Geschoss aufgehalten hatten, saßen die Rotarmisten bereits im obersten Stockwerk und warteten auf eine günstige Gelegenheit, unsere ganze Kompanie auszulöschen. Deshalb verhielten sie sich so mucksmäuschenstill, als wir in das Gebäude eindrangen. Ihr Plan, die Kompanie fertig zu machen (von ihrer erhöhten Position aus hätten sie das können), schlug aber fehl, weil sich die russische Artillerie einschaltete. Ihre Salven lagen zu kurz und die Granaten schlugen nicht bei uns, sondern bei den eigenen Leuten ein. Der feindliche Infanteriebeschuss verstummte. Das war unsere Rettung. Wir hatten noch einmal Schwein gehabt. Wir vom Spähtrupp doppeltes.
Auf Türen und Wänden sahen wir zuweilen aufgeklebte Flugblätter, die zum Widerstand gegen Hitler und die Nazis aufriefen und auf denen auch hingewiesen wurde, dem Beispiel der Wiener zu folgen, die durch versteckten und offenen Widerstand ein Blutbad in ihrer Stadt verhütet hätten. Wir Ostmärker schämten uns für unsere Wiener Landsleute.
Wir waren entsetzt, dass es im Deutschen Reich solche Volksverräter und Defaitisten gab. Wir glaubten in unserer Verblendung bis zuletzt an den Führer und an ein militärisches Wunder zu unseren Gunsten. Im Verlauf der Straßenkämpfe in Berlin verschwanden diese Flugblätter jedoch immer mehr. Was hätte es denn schon genutzt, zum passiven und aktiven Widerstand aufzurufen, wo in der Stadt bereits grausam gekämpft und gestorben wurde, wo die sowjetischen Soldaten gefürchtet waren und unter dem femininen Teil der Bevölkerung wüteten und wo die SS, SA und Feldgendarmerie brutal Deserteure und vermutete Landesverräter ermordete. Sicher, die Wiener, im Herzen Österreichs geblieben, waren ein ganz anderer Menschenschlag als die preußischen Berliner. Aber stimmte es wirklich, dass die Wiener den Nazis trotzten, oder waren es nur Feindpropaganda? Wir wussten es nicht.
Auf einmal war er da und wich uns nicht mehr von der Seite. »Er«, das war eine freche, braunweiß gefleckte Promenadenmischung von Hund mit einer lustigen Maske und einem seelenvollen Hundeblick. Er wurde für einige Tage das Maskottchen unseres Kompaniezuges. Wegen seines zottigen, ungepflegten Felles nannten wir ihn »Struppi«. Es gab ja in Berlin zu Kriegsende nicht mehr allzu viele seiner Sorte und Streuner wie er kamen meist im feindlichen Artilleriehagel um oder wurden von hungernden Berlinern eingefangen, die aus ihnen dann Hundegulasch machten.
Struppi schloss sich uns wohl deshalb an, weil er menschliche Nähe suchte und sich etwas zum Fressen erhoffte. Nun, wir hatten ihn jedenfalls ins Herz geschlossen und er war uns auch nützlich. Er warnte uns nämlich rechtzeitig mit Knurren und Gebell, wenn sich Russen anschlichen.
Eines Tages erhielten wir überraschenderweise als Sonderverpflegung etliche Pferdewürste. Unser Furier (Verpflegungsunteroffizier) verwahrte sie vorsorglich unter einer Zeltplane. Bevor er diese »Spezialität« an uns verteilen konnte, erfolgte ein Feuerüberfall russischer Raketenwerfer. Wir verkrochen uns in Blitzesschnelle. Nicht so aber Struppi. Sein ausgeprägter Geruchssinn hatte die Würste schon längst erschnuppert und er machte sich, von uns unbemerkt, über diese her. Als wir die Bescherung sahen, bestraften wir ihn nicht, sondern mussten lachen, denn der Wurstdieb benahm sich wie ein Lausbub, den man auf frischer Tat bei einem Streich ertappt und der ein schlechtes Gewissen hat. Er duckte sich furchtsam in Erwartung von Schlägen und sah uns mit seinen treuherzigen Augen Mitleid heischend an. Wir konnten ihm nicht böse sein.
Einen Tag später erteilte unserem Hundeliebling sein Schicksal. Ein russischer Scharfschütze hatte es auf ihn abgesehen und verwundete ihn schwer. Mit letzter Kraft schleppte er sich uns kriechend entgegen. Seine braunen Hundeaugen bettelten, als wollte er sagen: »Bitte, so helft mir doch!« Dann seufzte er wie ein Mensch tief auf, seine Augen brachen und er starb. Wir trauerten um ihn wie um einen uns nahe stehenden, gefallenen Kameraden.
Die Stadt litt unter dem ständigen Artilleriebeschuss der Sowjets. Den Berlinern war keine Atem- und Erholungspause gegönnt und die Zustände in den Schutzräumen und Kellern wurden von Tag zu Tag unerträglicher. Es gab vielfach keine Heizung, kein Gas und keinen Strom. Auch mit der Wasserversorgung haperte es gewaltig und ohne diese funktionierte eben keine Toilettenspülung. Die Notdurft wurde in Gärten, falls diese vorhanden waren, verrichtet, sonst mussten Wohnräume und Gänge als Abtritt herhalten. Wie es dann in solchen Häusern roch, kann man sich gut vorstellen.
Wegen des Artilleriebeschusses suchten wir, um etwas Schlaf zu finden, während der Nächte Schutz in den Kellern großer Häuser. Diese boten relative Sicherheit.
Einmal versuchten wir in einem Palais zu übernachten. Der Fäkaliengestank, der das Gebäude durchdrang, war derart widerlich, dass wir es fluchtartig verließen. Deren Bewohner, unter ihnen viele Flüchtlinge, taten mir leid; ihnen blieb nichts anderes übrig, als bei diesem penetranten Gestank bis zum bitteren Ende auszuharren.
Nach dem 21. April wurde der Einkauf in Geschäften, die mit ihren Holzverschalungen einen trostlosen Anblick boten, immer problematischer. Meist hatten nur noch Bäckereien und Geschäfte, welche die notwendigsten Lebensmittel gegen amtliche Bezugsmarken anboten, offen. Davor stellten sich lange Menschenschlangen an, die immer wieder von der russischen Artillerie bedroht wurden. Der Tausch- und Schleichhandel blühte. Die Plünderungen von Geschäften und Lagerhäusern, die von Granaten schwer getroffen wurden, nahmen zu, denn die Not war groß. Die Reichsmark war fast wertlos; für Zigaretten und Schnaps hingegen bekam man vieles.
Wir wurden oft von notleidenden Flüchtlingen angebettelt. Wir halfen, so gut wir konnten, hatten aber selbst nur wenig zu essen. Wenn die Truppenversorgung ausblieb, lebten wir von den uns verbliebenen Schweinefleischkonserven und Schokolade, die wir vor einiger Zeit beim Rückzug aus dem verlassenen Warendepot mitgenommen hatten.
In einem Einfamilienhaus brannte es. Man hatte eine Leiter an den im 1. Stock b...
Inhaltsverzeichnis
- Titel
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- Der »Soldatenjunge«, die »Heimwehr« und die »Vaterländische Front«
- Eine liebe Berliner Familie