Muttersprache
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Muttersprache

  1. 192 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Von Bozen nach Berlin: Ein junger Mann auf der Suche nach einer unversehrten Sprache und der Schönheit der Wörter.Paolo Prescher ist besessen von Wörtern. Wörter haben für ihn Geruch, Farbe oder Klang. Paolo hasst dreckige Wörter, sie rauben ihm die Luft. Dreckig sind Wörter, die nicht sagen, was sie sagen sollen. Seine Mutter macht ihm die Wörter dreckig, auch seinem Vater, der Aphasiker ist. Paolo leidet unter der Heuchelei der Mutter und der Boshaftigkeit der Schwester. Er hasst seine Geburtsstadt Bozen mit ihrer behaupteten Zweisprachigkeit und ihren Oberflächlichkeiten. Auf der Suche nach einer unversehrten anderen Sprache flüchtet er nach Berlin und trifft dort auf Mira. Sie schafft es, seine Worte zu reinigen. Bis seine Obsession ihn wieder einholt.Die herausragende Entdeckung der italienischen Literaturszene.

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Information

BERLIN

Paolo zieht nach Berlin um – der Job in der Bibliothek – Mira aus Pienaglossa – die Verliebtheit – das Tiefparterre – die Verspätung – das Fest zum
Die Bushaltestelle ist nicht weit von zu Hause: zwanzig Minuten zu Fuß. Aber ich bin früh dran, der Rucksack wiegt wenig und ich beschließe, einen anderen Weg zu nehmen, einen etwas längeren Weg, ich genieße jede Minute, weil es die letzten Schritte auf diesem verdreckten Erdboden sind. Ich werde nie wieder hierher zurückkommen. Ich werde nie wieder die Inschriften auf den faschistischen Denkmälern anschauen müssen, und auch nicht die falsch gesetzten Akzente in griechischer Sprache, und ich werde nie mehr in dieser dreckigen Wohnung bleiben müssen. Als ich bei der Haltestelle angekommen bin, steht der Bus schon bereit und ich stelle mich wie alle anderen in der Warteschlange an. Alle halten die Ausweise und die Fahrkarte in der Hand, deshalb hole auch ich den Ausweis und die Fahrkarte aus dem Rucksack heraus, und sobald ich an der Reihe bin, zeige ich dem Fahrer beides und er lässt mich einsteigen. Je weiter wir uns von Bozen entfernen, desto leichter fühlt sich alles für mich an, ich kann es kaum erwarten, anzukommen. Aber ich habe die Dauer der Reise unterschätzt und als wir in München ankommen, renne ich raus und kaufe mir ein belegtes Brot, ich rede Deutsch und auch der Typ vom Kiosk redet mit mir Deutsch und es ist total geil, aber ich habe keine Zeit zu verlieren, ich muss mich beeilen. Ich muss zum Bahnhof, ich muss den Zug erwischen, ich schaue auf das Schild mit dem Namen des Platzes, aber er ist nicht derselbe wie auf meinem Zettel. Ich versuche, nicht panisch zu werden, dafür habe ich gar keine Zeit, aber der Gedanke, falsch ausgestiegen zu sein, jagt mir einen Riesenschrecken ein und ich fühle mich wie ein Dummkopf. Ich sehe mich um, da ist das U der U-Bahn, aber ich müsste schnell kapieren, in welche Richtung ich sie nehmen soll, da steht ein Taxi, aber ich will kein Geld ausgeben. Ich schaue auf die Uhr, es ist total schade um das Geld, aber ich steige ein. Zum Taxifahrer sage ich, er soll sich wirklich beeilen, ich muss zum Hauptbahnhof, er spricht ein dumpfes Deutsch, aber mit dem wunderbaren bayerischen rrr, ich habe keine Zeit zu verlieren, ich sage ihm aber nicht, dass ich nicht weiß, wo ich bin, weil ich mich schäme und weil man mit den Taxifahrern aufpassen muss: Wenn sie merken, dass du voll daneben bist, dann knöpfen sie dir mehr Geld ab. Ich komme rechtzeitig an, erwische den Zug und bin total stolz auf mich. Jetzt hab ichs meiner Mutter gezeigt, die immer behauptet, dass ich schlecht bin in praktischen Dingen.
Ich bin dermaßen tüchtig in praktischen Dingen, dass ich nach meiner Ankunft in Berlin sogar einen Platz zum Schlafen finde. Er ist nicht besonders komfortabel, es ist eine Bank mitten in einem Park, aber ich bin in Berlin, total frei, weit weg von zu Hause und keiner macht mir mehr die Wörter dreckig. Ich schiebe das Geld und den zweisprachigen Personalausweis in Grün unter den Bund meiner Unterhose, der Rucksack ist mein Kopfkissen, und ich schlafe wie ein Stein auf der schönsten und unbequemsten Parkbank von ganz Berlin.
Nach dem Aufwachen kontrolliere ich sofort, ob noch alles da ist: Niemand hat mich beklaut. Die Sonne scheint und ich fange an, in der Stadt herumzulaufen. Das macht mir großen Spaß. Ich laufe echt sehr lange herum, bis ich eine Bibliothek entdecke. Ich habe Hunger, aber gestern habe ich zu viel Geld für das Taxi ausgegeben: kein Frühstück, nur Wörter. Ich gehe hinein und sehe einen jungen Kerl mit kahl rasiertem Kopf hinter der Theke hocken, der eine Nickelbrille à la Hermann Hesse trägt und mich anstarrt. Auch ich starre ihn kurz an, dann werde ich nervös und deshalb fragt er mich, ob ich irgendetwas brauche. Ich möchte lesen, sage ich, weil ich nicht sagen kann, dass ich Wörter frühstücken möchte. Er erklärt mir, dass ich die Jacke und den Rucksack im Schließfach lassen muss und ihm einen Ausweis geben soll. Ich gehe auf die Toilette, wasche mir die Achselhöhlen, ich mache das, was die Deutschen Katzenwäsche nennen, was bedeutet, sich waschen wie die Katzen, und es tut gut, sich ein wenig wie eine Katze zu fühlen. Ich schnurre, als ich im Lesesaal deutsche Wörter esse. Auf dem Tisch habe ich Bernhard und Kraus liegen, beide aufgeschlagen, und ich springe vom einen zum andern, bis ich spüre, dass der Magen voll ist und die Brust warm, und mir kommen die Tränen, weil es mir echt gut geht hier. Ich habe mich wohl mit zu vielen Wörtern vollgestopft, weil mir schwindlig wird beim Versuch aufzustehen und ich muss mich wieder hinsetzen. Ich atme ein, ich atme aus, und es wird ein wenig besser, aber ich habe Lust auf einen Kaffee und ich beschließe, dass ich mir einen Kaffee mit Zucker leisten kann, auch wenn ich so viel ausgegeben habe für das Taxi. Vor allem weil der Kaffee aus dem Automaten praktisch fast nichts kostet, und deshalb nehme ich auch eine heiße Trinkschokolade als Speise. Die Tage verbringe ich so: Ich wache auf, kontrolliere, ob ich noch alles habe, ich gehe in die Bibliothek, wasche mich wie die Katzen, ich sperre Rucksack und Jacke im Schließfach ein, hinterlege meinen Ausweis bei dem Typ mit der Nickelbrille oder bei denen, die an seiner Stelle da sind, esse Wörter, es geht mir gut, ich gehe zurück zur Parkbank, ich schlafe.
Ich merke, dass eine Woche vergangen ist, und ich habe eine Idee. Ich frage den Kerl mit der Nickelbrille, wie man es anstellt, dort einen Job zu kriegen, er sagt zu mir, dass ich mit dem Chef reden muss, wenn ich interessiert bin, und ich hab ein wenig Schiss davor, mit dem Chef zu reden, aber ich bin interessiert, deshalb frage ich, wohin ich gehen soll. Er zeigt auf eine Tür, sie ist zu. Ich mache mir Mut, ich klopfe. Der Chef sagt herein, als ich klopfe, aber er bleibt sitzen, als ich eintrete. Ohne lange herumzumachen stelle ich mich vor, ich bin Paolo Prescher, komme aus Bozen und möchte als Aufsicht arbeiten, er sagt, Komm morgen einfach vorbei.
Ich bin nervös, weil ich nicht verstanden habe, was los ist, vielleicht hatte er keine Zeit und er hat die Sache deswegen verschoben, vielleicht wollte er mich einfach nur loswerden, vielleicht bereitet er den Vertrag vor und ich muss nie wieder auf der Parkbank schlafen, mich von Trinkschokolade und Kaffee ernähren und mich waschen wie die Katzen. Auch wenn es mir, ehrlich gesagt, wirklich total gut gefällt, auf der Parkbank zu schlafen, mich von Trinkschokolade und Kaffee zu ernähren und mich zu waschen wie die Katzen, und wer weiß, vielleicht werde ich, auch wenn ich einen Vertrag habe, weiter so leben, weil ich ein Typ bin, der bodenständig ist und dem die Sachen nicht zu Kopf steigen.
Der nächste Tag bricht an, die Klamotten habe ich im Waschsalon neben der Bibliothek gewaschen, ich rieche sauber, ich bin in Form, ich habe gut geschlafen. Ich stelle mich noch einmal im Büro des Chefs vor, der stellt mir Fragen, ich antworte, ich glaube, ordentlich, und er sagt zu mir, dass ich in zwei Tagen wiederkommen kann, um den Vertrag zu unterschreiben. Das mache ich dann auch so. Mir gefällt Deutschland. Ich erkläre, keine rechtsextremen oder linksextremen politischen Ideen zu haben, kein Nazi zu sein, zu keiner religiösen Sekte zu gehören, und ich unterschreibe. Hier braucht es keine Erklärung für den Job in der Bibliothek, daher stimmt es gar nicht, dass ich unter einer Brücke enden werde, wie meine Mutter immer gesagt hat. Wenns ganz schlimm kommt, dann halt in einem schönen Park.
Ich finde heraus, dass der Kerl mit der Nickelbrille à la Hesse Philosophiestudent ist. Er stellt mir die ersten Kollegen vor, es sind ziemlich komische Vögel, wie alle, die in einer Bibliothek arbeiten. Es gibt ein Mädchen mit einer Streberbrille, die ständig zu spät kommt und bei der anscheinend alles schiefläuft. Sie kommt jedes Mal ganz atemlos an und hat immer eine neue Ausrede parat, ich glaube, ein wenig sind die Ausreden auch erfunden, weil es nicht möglich ist, dass jemand dauernd so ein Pech hat. Der pummelige Kollege, der über seine eignen Witze lacht, ist verknallt in das Mädchen, und er sieht den ganzen Tag nur dieses Mädchen an, deshalb redet er gar nicht mit mir, aber mir ist das sowieso am liebsten, weil ich ihn überhaupt nicht mag, ich find ihn ätzend. Der Kerl mit der Nickelbrille à la Hesse ist total nett zu mir, er ist nicht sehr gesprächig und er schlägt mir vor, so lange bei ihm zu wohnen, bis ich was Eigenes gefunden habe. Ich überlege kurz, dann bedanke ich mich und nehme das Angebot an.
Am Anfang fragen mich die Leute, woher ich komme, und ich sage zuerst jedes Mal, dass ich aus Bolzano-Bozen komme, und sie fragen mich noch einmal, woher ich komme und ich sage Alto Adige-Südtirol, und sie sind verwirrt oder vor den Kopf gestoßen und sie fragen mich wieder, woher ich komme, und ich sage Italia-Italien, und nun sind sie noch verwirrter oder noch mehr vor den Kopf gestoßen, und sie fragen mich, ob ich aus Italien oder Österreich oder Deutschland komme, dass ich mich entscheiden muss, à la Gehen oder Dableiben, und ich wiederhole, dass ich aus Italien komme, und endlich kapieren sie es und sie sagen zu mir: Bella Italia!, und ich lächle und nicke, dann fragen sie mich, ob ich aus Rom komme, und ich sage nein, ich komme nicht aus Rom, ich komme aus Bolzano-Bozen.
Deshalb sage ich in Zukunft jedes Mal sofort, dass ich aus Rom komme, weil ich keine Lust mehr habe, alles von vorne zu wiederholen, und nach kurzer Zeit werde ich zum Kerl aus Rom. Du weißt nicht, wo das Buch steht? Frag den Kerl aus Rom. Du brauchst einen Rat? Frag den Kerl aus Rom. Du suchst die Toilette? Frag den Kerl aus Rom. Du willst wissen, wann die Bibliothek schließt? Frag den Kerl aus Rom. Mir ist Kerl aus Rom lieber als Paólo. In Wirklichkeit sprechen mich nur ganz wenige Leute an, selten will jemand etwas von mir. Die Leute kommen normalerweise hierher, weil es zu ihrem Studium gehört, und sie suchen Stille.
Manchmal passiert es, dass jemand noch nicht weiß, dass ich aus Rom komme, er tritt auf mich zu und fragt: Wo kommst du her, Paólo? Pàolo. Ja, Paólo, wo kommst du her? Ich will ihn nicht mehr korrigieren, und ich will nicht einmal mehr Rom sagen, und ich versuche es wieder: Bozen. Und er: Österreich! Nein, nein, Alto Adige-Südtirol, Italien, ich bin Italiener, versuche ich zu sagen. Ach komm, Südtirol ist doch nicht Italien!
Genau an diesem Punkt bin ich dann echt genervt und ich halte dagegen, es liegt in Italien, verdammt: Aber na ja … technisch gesehen ja, eigentlich schon. Mir wird bewusst, dass ich auf Deutsch keine Schimpfwörter verwende, oder wenn überhaupt, dann nur sehr selten, und ich sage sie mir im Kopf auf Italienisch vor, und erst jetzt verstehe ich, was Jan gemeint hat: Er hatte recht, sie sind schön, die Schimpfwörter, auf Italienisch. Und der Kerl fängt wieder damit an: Dann bist du ja zweisprachig aufgewachsen, wenn du aus Südtirol kommst. Da werde ich echt sauer und ich widerspreche: Hey du, nee, das funktioniert so nicht. Aber auf Deutsch werde ich nie sauer, das passiert mir nur auf Italienisch, im Kopf. Er fragt mich: Wieso nicht? Ich hab mal einen Artikel gelesen … Ach nein, wenn er es in einem Artikel gelesen hat, dass alle zweisprachig sind, dann kann ich dazu nichts mehr sagen, ich gebe klein bei und drehe den Spieß um, entschuldige mich und sage, ich hab da was Falsches gesagt, klar, natürlich, ich bin Italiener, ich komme aus Rom, es ist nur, dass ich in Bozen geboren bin. Entschuldige, ich meinte es nicht so. Ich komme aus Rom, hab ich wirklich Bozen gesagt? Nee, nee, natürlich komm ich aus Rom, Italien. Es ist nur so, dass ich in Bozen geboren bin.
Ich werde schnell zum Kerl aus Rom, geboren in Bozen, der schlechtes Deutsch spricht. Ich mache schnell Fortschritte, nach einem halben Jahr werde ich so zum Kerl aus Rom, geboren in Bozen, der perfektes Deutsch spricht, weil in Bozen alle zweisprachig sind, und ein wenig bin ich eingeschnappt, aber ich verstehe, es macht keinen Sinn, darüber noch weiter zu diskutieren, ich finde mich damit ab.
Wenn ich Deutsch spreche, bin ich entspannter, und auch meine Stimme ist anders, fast wie die Stimme einer anderen Person: männlicher, erwachsener, sie ist viel tiefer als die Stimme damals, als ich Italienisch gesprochen habe, und sie gefällt mir, meine neue, tiefere Stimme, männlich und erwachsen und deutsch.
Mein WG-Zimmer ist klein und dunkel, aber ich fühle mich dort wohl, weil es leer ist und nur eine Matratze auf dem Boden liegt, wenn meine Mutter das sehen würde, dann würde sie bestimmt zu schreien anfangen, wie eine Übergeschnappte, ganz hysterisch, dass so doch alles voller Milben und Staub ist und ich sicher an Asthma sterben werde, aber inzwischen ist Papa nicht mehr am Leben, er leidet nicht mehr an Aphasie und ich brauche kein Asthmatiker mehr zu sein, und deshalb ist die Matratze gut, genau so wie sie ist. Die Matratze ist besser als ein richtiges Bett, sie kann nicht dreckig werden, Hauptsache, ich denke nicht daran, ich bin zufrieden, es geht mir gut, auch wenn mir Papa fehlt. Ich habe nur die paar Sachen, die ich aus Bozen mitgebracht habe, und ich behalte sie alle hier bei mir, auch die Seife, weil ich mich nicht traue, sie im Badezimmer zu lassen. Mein Mitbewohner studiert mich durch die Nickelbrille à la Hesse, er ist ziemlich baff, und ich glaube, er hat kapiert, dass er mich nicht so schnell wieder loswerden wird, und er sagt zu mir, dass ich ein echter Minimalist bin. Ich wusste gar nicht, dass ich ein echter Minimalist bin, aber ich akzeptiere die Definition, und wenn er dermaßen davon überzeugt ist, dann kann ich eben auch nichts daran ändern. Dazu kommt, mir gefällt wohl auch, dass für mich eine Definition existiert, und so gefällt es mir total, ein Minimalist zu sein.
Wir sehen uns selten außerhalb der Arbeitszeiten, mein Mitbewohner und ich, weil er an der Uni ist oder bei irgendeinem alternativ angehauchten Fest, und wenn er heimkommt, schlafe ich schon.
Es kommen immer die gleichen Leute in die Bibliothek. Einer von ihnen ist Professor Hofmann, Professor im Ruhestand, ein alter Herr, der Zeitung liest und Studien betreibt, nur um junge Mädchen anzumachen. Er hat echt eine ganz eigene Art, sie anzumachen. Scheler und Husserl findet man nie in der Bibliothek, weil er die Ausweise seiner drei Enkel benutzt, um die Ausleihe zu verlängern. Ich sage aber nie, dass das nicht geht, weil Scheler und Husserl hier sowieso nie jemand liest. Wenn ein hübsches Mädchen, natürlich nur hübsch nach seinen Maßstäben, hinausgeht, um zu rauchen, dann rennt er gleich hinterher und fragt das Mädchen, ob es weiß, was die passive Synthesis ist. Sie ist legendär geworden, die passive Synthesis des Professors Hofmann. Es ist eh klar, dass hier niemand weiß, was das ist, und deshalb geht er sofort zur zweiten Phase über, und er verspricht der Unglücklichen, die gerade an der Reihe ist, dass er ihr die passive Synthesis bei einem Abendessen erklären will, bei ihm zu Hause. Vielleicht bin ich Komplize dieses Spiels geworden, weil ich zulasse, dass Husserl als Dauerausleihe bei ihm zu Hause herumsteht. Vielleicht sollte ich Studien dazu treiben, zu dieser gebenedeiten passiven Synthesis. Vielleicht sollte ich sie den Mädchen erklären, damit sie dann in der Lage sind, ihm zu sagen, dass sie alles über die passive Synthesis wissen. Aber in Wirklichkeit verstehe ich nicht, warum die Mädchen das Bedürfnis haben sollten, zu wissen, was die passive Synthesis ist. Vielleicht lassen sie sich anlocken vom Klang der Wörter? Tatsächlich gefällt es auch mir, wie sie klingt, die passive Synthesis. Wie eine Schlange kommt sie daher, gruselig und langsam, wenn sie sich schlängelt auf dem nackten Körper, wenn du im Freien übernachtest, unter einem Himmel voller Sterne. Passive Synthesis. Aber zum Professor nach Hause würde ich nie und nimmer gehen.
Wenn Professor Hofmann ausnahmsweise mal keine Mädchen anmacht, dann hat er Streit mit Professor Braun, einem Herrn mit theatralischem Getue, weißen Haaren und blauen Augen, der nicht imstande ist, leise zu reden, und der deshalb alle ärgert. Das Schlimmste an Professor Hofmann aber ist, dass er mit den Zähnen einen grässlichen Lärm macht. Es ist derselbe Lärm, den ich und Jan gemacht haben, als wir zu Halloween Zuckergusstotenschädel geknackt haben. Seine großen Gesten und seine vibrierende Stimme erinnern mich an Naphta und Settembrini. Professor Hofmann ist Settembrini, und tatsächlich macht in meinem Kopf Settembrini diesen Lärm. Naphta hingegen ist eine Kreuzung aus Professor Braun, der einen Haufen Unsinn redet, den er als genial ausgibt und sich dabei exaltiert, und einem verrückten Onkel von mir, der angefangen hat, ein Wörterbuch der Mundart zu schreiben, die man in einem kleinen Dorf im Trentino spricht, in einer Gegend, die anfängt bei der Bar der Giustina, so nennen sie diese Bar dort, und sechs Meter weiter schon wieder aufhört.
Dieser alte Onkel hat das Wörterbuch vor der Bar angezündet, als er es gerade publiziert hatte. Heute noch reden die Dorfleute von dieser Aktion und versuchen sie zu deuten, weil sich keiner einen Reim darauf machen konnte. Meine Großmutter, eine waschechte Boznerin, die deshalb selten ins Trentino fährt, ist der Meinung, er wollte beweisen, dass übertriebene Studien nichts bringen, dass dieses Kreisen um sich selber und den eigenen Kleinkram nichts anderes ist, als sich aufzublasen, dass diese Mundart nur zehn Leute sprechen und es unnötig ist, daraus eine Wissenschaft zu machen. Ich aber bin der Meinung, dass er echt an sein Projekt geglaubt hat: Jahrelang arbeitet er daran, er katalogisiert, hört sich um, macht Nachforschungen. Endlich schafft er es, alles zu publizieren, er bringt das Buch unterm Arm mit in die Bar, er ist stolz darauf. Keiner beachtet ihn, die Säufer und Stammgäste der Bar lachen ihn auch ziemlich aus: Da is er ja, der Herr Prof! Er reißt sich zusammen, bleibt ruhig, und er sagt sich, dass das alles Ignoranten sind, die eben nichts kapieren. Er bestellt einen Weißen, die Inhaberin der Bar, Giustina, bringt ihm den Wein. Er legt das Wörterbuch auf die Theke; er ist zufrieden, bis er plötzlich bemerkt, dass am Tisch, wo die Alten sitzen, keiner so redet, wie er es sich erwartet hat und wie er es aufgeschrieben hatte: Es kommen gar zwei Wörter vor, die nicht einmal er versteht. An diesem Punkt wird mein Onkel fuchsteufelswild, er hasst die Alten in der Bar von Giustina, auch Giustina selber und die Bar dazu, er hasst die Artikel vor den Taufnamen, er hasst auch sich selbst und sein durchgeknalltes Wörterbuch; er geht auf die Straße hinaus. Vor der Bar versucht er sich zu beruhigen, er raucht eine Zigarette, voller Zorn schmeißt er das Wörterbuch auf den Boden, er nimmt das Zippo, öffnet es, schüttet Benzin auf das Buch, wirft die Zigarette hinein und zündet seine Ausgabe des Wörterbuchs an, er schleudert laute Beleidigungen in Richtung Bar, in Richtung Besitzerin, er verflucht die Alten, das Kartenspiel Briscola, das sie spielen, ihre dummen neu erfundenen Wörter, er verflucht sich selber und seine unnütze Arbeit der vergangenen zehn Jahre.
Gut möglich, dass der Onkel dieselbe Sache gehabt hat wie ich, die Sache mit den dreckigen Wörtern, und dass er saubere Wörter gesucht hat. Gut möglich, dass es eine Familienangelegenheit ist, die mit den dreckigen Wörtern, wie die Farbenblindheit.
In der Bibliothek gibt es einen, der macht mir am meisten Sorgen: Es ist der magere und groß gewachsene Junge, der immer so rüberkommt, als ob er gleich umkippen würde, er ist blass und er macht nie eine Pause, aber er trinkt total viel Kaffee mit Zucker, den ihm ein Mädchen mit tief liegenden Augen bringt, und dem ich eigentlich sagen sollte, dass es nicht hineindarf mit dem Kaffee, aber ich weiß auch, wenn ich das zu dem Mädchen sage, dann kann es ihm den gezuckerten Kaffee nicht mehr bringen, und er wird ohnmächtig werden und so wäre alles meine Schuld, und dann müsste ich ihm Zucker bringen; deshalb, aus reiner Bequemlichkeit, sage ich nichts und überlasse es dem Mädchen, sich darum zu kü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. INHALT
  5. BOZEN
  6. BERLIN
  7. BOZEN
  8. ANMERKUNGEN
  9. Impressum
  10. Über den Autor